1) In der ersten Flugschrift nach der Angelobung der blau-schwarzen Kapitalistenregierung haben wir unterstrichen, dass die FPÖVP-Koalition einen Bruch in der Nachkriegsentwicklung bedeutet. Erstmals hat ein Bündnis offen bürgerlicher Parteien die Regierungsgewalt übernommen und vom ersten Tag an keinen Zweifel daran gelassen, dass die Zerschlagung der bisherigen Form der institutionalisierten Sozialpartnerschaft eine der wesentlichen Voraussetzungen sein wird, um ihr antisoziales, neoliberales Programm durchzusetzen.
2) Der "Bruchcharakter" dieser Regierung wurde instinktiv von Teilen der Jugend, der Frauen und der Arbeiter/innen erkannt, eine aktive Minderheit unter ihnen zog daraus den Schluss, dass FPÖVP mit außerparlamentarischen Mitteln bekämpfe werden können und müssen. Innerhalb dieser Minderheit waren die Kräfte der radikalen und revolutionären Linken diejenigen, die den Widerstand gegen Schwarz-Blau entlang einer klaren Klassenlinie aufzubauen versuchten.
3) Die dominierende Rolle der revolutionären Kräfte bei den Demonstrationen bis zum 12. Februar hat die Stärken und Schwächen dieser zahlenmäßig kleinen Kräfte gezeigt. Durch ihr diszipliniertes Auftreten, ihre organisatorischen Erfahrungen und ihre [wenn auch bescheidene, aber wenigstens vorhandene] Infrastruktur konnten sie das Bild der Bewegung nach außen prägen und unbestritten auch ihren Einfluss vergrößern – die Masse der Teilnehmer/innen an den Protesten allerdings ging aus bürgerlich-humanistischen "demokratischen", "antirassistischen" oder "antifaschistischen" Motiven auf die Straße, wobei oft die Person Haider mehr im Zentrum des Protests stand als das Gesamtprogramm der Kapitalistenregierung.
4) Es war richtig, dass die revolutionäre Linke ihre propagandistische Achse auf die Streiklosung und die Einbeziehung der Betriebe in die Bewegung richtete. Gleichzeitig gab es aber bei Teilen der subjektiv revolutionären Linken voluntaristische Abgleitflächen.
5) Die Regierung reagierte auf Straßenproteste und EU-Sanktionen zunächst ratlos und weinerlich, dann mit beschwörendem Optimismus über eine "wachsende Akzeptanz" ihrer bloßen Existenz und nunmehr mit diplomatisch-vorsichtigem "Net amoi ignorieren". Es ist offensichtlich, dass der internationale Spielraum von FPÖVP stark eingeengt ist, womit innenpolitisch ein aggressives Vorgehen gegen die Widerstandsbewegung bisher erschwert wurde.
6) Sowohl die österreichische Arbeiterklasse wie auch die österreichische Bourgeoisie sind durch gut ein halbes Jahrhundert Sozialpartnerschaft geprägt – die Fähigkeit, den Klassenkampf offen auszutragen, muss auf beiden Seiten erst gelernt werden. Sowohl zwischen den Koalitionsparteien aus auch in ihren Reihen selbst sind damit Friktionen und Bruchlinien vorprogrammiert.
7) Einheitlicher Konsens der Bourgeoisie ist die Erkenntnis, dass die Sozialpartnerschaft in ihrer bisherigen Form obsolet ist – Differenzen bestehen allerdings darüber, wie schnell und wodurch sie abgelöst werden soll. Da unabwägbar ist, wie ein Generalangriff auf die Sozialpartnerschaft vom ÖGB beantwortet würde, setzt die Regierung nun auf eine Salamitaktik. Die Demontage des ÖGB/SPÖ-Einflusses in den Sozialversicherungsträgern etwa stellt die Weichen in Richtung scharfer Einschnitte im Sozialbereich und des Zurückdrängens gewerkschaftlicher Bastionen – zugleich können FPÖVP diese Maßnahmen aber als "Kampf gegen Funktionärsmisswirtschaft" verkaufen und damit an die populistischen FPÖ-Wahlversprechen anknüpfen. Hinter diesen Attacken ist neben einer Zurückdrängung des Gewichts der von der reformistischen Arbeiterbewegung in den letzten Jahrzehnten gehaltenen Domänen noch ein zweites strategisches Ziel erkennbar: Die bisher im politischen System Österreichs unterrepräsentierte FPÖ soll nun mit einem ihrer neuen Stärke entsprechenden Anteil in den Kammern und anderen staatlichen und halbstaatlichen Institutionen auf Kosten der SPÖ und der Vertreter/innen der Gewerkschaften bedacht werden.
8) Die jüngsten Attacken Haiders gegen die Arbeiterkammern werden die Differenzierungen innerhalb der Bourgeois-Fraktionen verschärfen. Ein Aufbrechen der institutionalisierten Sozialpartnerschaft würde auch den politischen Einfluss des "mittelständischen Kapitals" – einer wesentlichen VP-Klientel also – und der Wirtschaftskammer zurückdrängen. Nicht zufällig haben im vergangenen Jahr Eigentümervertreter aus der Großindustrie ihre Opposition gegen die "lahme und schwerfällige" WKÖ-Führung artikuliert und teilweise ihre Mitgliedsbeiträge in der Kammer zurückgehalten.
9) Die österreichische Bourgeoisie hat ihre Zukunftsperspektiven vor fünf Jahren auf die EU hin orientiert. Auf die kurze Stunde des Triumphs über ihre bürgerliche Regierungsbildung folgten nun Wochen des Katzenjammers. Die inneren Widersprüche zwischen den Koalitionsparteien und die Unberechenbarkeit einer extrem rechten populistischen Trägerpartei dieser Regierung musste zwangsläufig negative Reaktionen der europäischen Bourgeoisie und ihrer sozialdemokratischen Filialleiter auslösen. Immerhin steht die Umsetzung zentraler EU-Beschlüsse an, welche die Konkurrenzfähigkeit des europäischen Kapitals gegenüber dem US-Imperialismus wesentlich verbessern sollen: Die Erweiterung der Union Richtung Osten und Südosten, die Einführung des Euro als Verkehrswährung und die Anhebung der gesamteuropäischen Erwerbsquote durch weitgehende Deregulierungen.
10) Die neue Führung der SPÖ versucht in dieser Situation, einerseits die Partei auf ihre parlamentarische Oppositionsrolle vorzubereiten und sich gleichzeitig der europäischen Bourgeoisie als die "vernünftige Regierungsalternative" zu präsentieren, durchaus mit dem Hintergedanken, im Falle des Scheiterns der schwarz-blauen Koalition als "Regierungspartei auf Abruf" bereitzustehen. Diese beiden Anliegen stehen in einem tendenziellen Widerspruch zueinander, was der SPÖ eine Neupositionierung als starke Oppositionskraft erschweren wird. Eine Einschätzung der objektiven Situation setzt jedoch primär die Analyse der Dialektik zwischen dem Bewusstsein der Arbeiterklasse, der Rolle der SPÖ als bürgerlicher Arbeiterpartei und dem Manövrierspielraum der Gewerkschaftsbürokratie voraus.
11) Trotz der jahrzehntelangen Entpolitisierung und Entsolidarisierung sieht eine Mehrheit der österreichischen Arbeiter/innen im ÖGB nach wie vor ihre elementare Interessensvertretung. Sozialpartnerschaft und sozialdemokratische Regierungspolitik haben aber das Bewusstsein über die Rolle der Gewerkschaften verändert – sie werden nicht als potenzielle Kampf-, sondern als sozial orientierte Serviceorganisationen begriffen. Ideologie und Praxis der Sozialpartnerschaft, verbunden mit der gleichzeitigen Verteufelung von Streiks und Klassenkampfaktionen, haben zu einer Erstarrung des Apparates und zu einer Entfremdung der Basis von Kämpfen geführt.
12) Die prinzipiell richtige Streik- und Klassenkampforientierung der revolutionären Linken konnte sich auf keine entsprechende Stimmung in den Betrieben stützen. Zwar wird das Regierungsprogramm von FPÖVP zurecht als bedrohlich eingeschätzt, über die realen Auswirkungen auf die Klasse an sich besteht allerdings noch keine konkrete Vorstellung. Die mit Recht von den Linken kritisierte Passivität der Gewerkschaftsbürokratie, die mit allen Mitteln versucht, die Sozialpartnerschaft zu retten und bei der Regierung um Gnade winselt, ist so gesehen nicht ausschließlich das Ergebnis eines bewussten Verrats sondern sehr wohl auch die Widerspiegelung der Passivität in den Betrieben.
13) Die vom ÖGB einberufenen Betriebsversammlungen bei ÖIAG-Unternehmen, Post, P.S.K, Austria Tabak, im AKH, die Betriebsrätekonferenz Anfang Mai können nur sehr begrenzt als Indikatoren eines "Erwachens in den Betrieben" gewertet werden. Von Gewerkschaftsbürokratie und Zentralbetriebsräten durchorganisiert, kanalisieren sie den vorhandenen, nach wie vor recht diffusen Unmut, zugleich sollen sie ein Unterpfand der Bürokratie bei der Verteidigung ihrer Positionen sein. Wenn man die Resolutionen der Betriebsversammlungen aufmerksam liest kann man erkennen, wie sehr sich diese in das in Punkt 10 skizzierte sozialdemokratische Projekt der "vernünftigen Regierungsalternative" einfügen: Geprägt von der Sorge um den "Wirtschaftsstandort Österreich" und eventuelle Steuerverluste durch die Privatisierung profitabler Betriebe für den Staat werden die realen Ängste vor Arbeitsplatzverlusten zur Propagierung eines weniger brutalen kapitalistischen, aber um so patriotischeren Programms ausgenützt und die sozialpartnerschaftliche Idee des "Die-Wirtschafts-sind-wir-alle" durch die Hintertür eingeschmuggelt.
14) Bei den Grünen werden sich in den kommenden Monaten die bisherigen Tendenzen verfestigen: Sie werden sich als wichtige Kraft der Opposition weiter stärken können und dabei auf die urbanen, gebildeten Wählerschichten mit humanistischen Themen setzen. Zum zweiten werden sie das strategische Dilemma der SPÖ – schärferes Oppositionsprofil versus vernünftiger Alternative – auszunützen bestrebt sein. Andererseits bildet sich aber gleichzeitig eine Oppositionsachse zwischen SPÖ und Grünen heraus, die der SPÖ eine zweite Option wie Schröder/Fischer in Deutschland eröffnet. Im Grunde teilen die Grünen unter Van der Bellen wie die SPÖ das strategische Dilemma zwischen angriffiger Opposition und Vorbereitung auf eine eventuelle künftige Regierungsverantwortung als "berechenbarer, stabiler Partner für Europa", wobei sie weniger unter Druck einer Arbeiterbasis stehen als die Sozialdemokratie.
15) Der neue SPÖ-Vorsitzende Alfred Gusenbauer ist Fleisch vom Fleische der Parteibürokratie und damit die erforderliche Integrationsfigur, um allen Strömungen in der Partei gerecht zu werden. Durchaus befähigt, eine linke Rhetorik zu benutzen, gilt er dennoch auch bei den Parteirechten als vernünftig und realpolitisch sattelfest. Sein Angebot, der Regierung "ein Jahr Zeit zu geben", entspricht einem durchaus vernünftigen bürokratischen Kalkül: Kommt es binnen einen Jahres zu massiven Angriffen seiten FPÖVP und entsprechender Radikalisierungstendenzen in den Betrieben, kann sich die SPÖ demagogisch diese Situation zunutze machen, Proteste kanalisieren und punkten. Bleibt die Basis ruhig oder wird durch die Salamitaktik der Regierung demoralisiert, erspart sich der Parteiapparat das Ausspielen der Protestkarte und damit das Risiko, Türen zu öffnen, die man besser nie geöffnet hätte und die auf recht ungewisse Wege führen.
16) Sowohl auf Seiten der Bourgeoisie wie auch innerhalb von SPÖ und ÖGB wird es in den nächsten Monaten fundamentale Klärungsprozesse geben. Die Zeichen stehen daher momentan auf Konsolidierung der Situation. Ein Indiz dafür war der gescheiterte Versuch des linken Flügels der Widerstandsbewegung, die Proteste massiv auf die Uni auszuweiten. Wie in anderen Gesellschaftsbereichen sind auch dort erst konkrete Angriffe seitens der Koalition notwendig, um die Basis für einen breiten Widerstand zu schaffen. Dieser Prozess darf jedoch nicht linear verstanden werden, sondern es müssen auch entgegenlaufenden Tendenzen Rechnung getragen werden, wie etwa der durch den erhöhten sozialen Druck um sich greifenden Entsolidarisierung in Teilen der Bevölkerung und dem Einfluss reformistischer und reaktionärer Kräfte auf diese Entwicklung.
17) In der nächsten Zeit wird es zwar weiterhin Proteste und Demonstrationen geben, die jedoch immer müder und "routinierter" werden. Dabei wird die revolutionäre Linke in der nächsten Phase nicht die Kraft haben, sich gegen den längeren Atem der reformistischen und humanistischen Funktionär/inn/en zu behaupten. Gleichzeitig werden wir es aber in den Betrieben, in den Gewerkschaften und teilweise auch in den Resten der SP-Basis mit einer im Vergleich zu den letzten Jahren veränderten Stimmung zu tun haben. Die revolutionäre Linke wird diese Entwicklung beobachten, analysieren und in ihrer Politik berücksichtigen müssen, um bei potentiellen Neuaufschwüngen der Proteste eine ebenso konsequente wie realistische Politik umsetzen zu können. In der nächsten Phase wird es darum gehen, sich zu verstärken, neue Kräfte zu konsolidieren und auszubilden – und gleichzeitig für spätere Phasen des Kampfes eine stärkere Bündelung der revolutionären Kräfte anzuvisieren.
(beschlossen auf der 8. Konferenz der AGM, Mai 2000)