Deutschland, zehn Jahre nach der Wiedervereinigung. Die von Helmut Kohl versprochenen “blühenden Landschaften” haben sich als Politik der verbrannten Erde entpuppt, seit westliche KapitalistInnen das Land wie eine Heuschreckenplage überfallen haben. Für seinen berühmten Satz: “Es wird niemandem schlechter gehen” findet sich heute in Ostdeutschland wahrscheinlich nicht einmal mehr jemand, der darüber lacht – geschweige denn jemand, der ihn ernst nimmt. Blenden wir rund zehn Jahre zurück. In der Sowjetunion war mit Michail Gor-batschow (heute immerhin noch Werbeträger für die ÖBB) ein neuer Staatschef an die Macht gekommen. Mit “Glasnost” (Offenheit) und “Perestroika” (Umgestaltung) sollte die UdSSR verändert werden. Die stalinistische Bürokratie unter Gorbatschow hoffte, mit einigen kosmetischen Änderungen, ihre Macht zu erhalten. Tatsächlich bedeuteten die Beiden aber vor allem die schrittweise Einführung der Marktwirtschaft und damit den Anfang vom Ende der Sowjetunion. In der DDR, in der mit Erich Honecker ein Stalinist der alten Schule, der die neue Linie nicht umsetzen wollte, Staatschef war, lehnte man Glasnost und Perestroika ab.
Geschichte der DDR
Nach 1945 wurde Deutschland, so wie Österreich, von den vier Alliierten aufgeteilt. Mit Beginn des kalten Krieges nahmen die drei “Westzonen” und die “Ostzone” eine immer unterschiedlichere Entwicklung, die schließlich zur Etablierung eines kapitalistischen Frontstaates im Westen und einer stalinistischen Bürokratie im Osten führte. In der bald gegründeten DDR regierte mit der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) eine Partei, die aus einer Vereinigung von Kommunistischer Partei (KPD) und Sozialdemokratischer Partei (SPD) hervorgegangen war. Diese Vereinigung entsprach zwar zweifellos dem Willen großer Teile der ArbeiterInnenklasse, dürfte aber (auf Seiten der SPD) auch nicht ganz freiwillig zustande gekommen sein.
Am 17.6.1953 brach – ausgehend von einer Bauarbeiterdemonstration – der erste und (für viele Jahre) letzte Aufstand gegen die Bürokratie aus, der sich bald über das ganze Land ausbreitete. Bezeichnend in diesem Zusammenhang übrigens die Rolle des Westens: der West-Radiosender RIAS Berlin etwa weigerte sich, den Aufruf zum Streik zu senden. Trotz tagelanger Gegenwehr wurde der Aufstand (der keineswegs primär prokapitalistisch war) niedergeschlagen. Der Aufstand wirkte bis in die SED hinein: tausende Mitglieder wurden wegen Beteiligung am Aufstand aus der Partei ausgeschlossen.
Die Bürokratie war nach der Niederlage der Aufständischen gefestigt und konnte bis in die 80er Jahre ihr System relativ konstant halten. Zu Gute kam ihr dabei der im Vergleich mit anderen stalinistischen Staaten relativ hohe Lebensstandard. Doch orientierte sich die Bevölkerung natürlich eher an dem mit US-Marshallplan-Hilfe aufgepeppelten Westdeutschland, vor allem aber wurde die mangelnde Demokratie immer drückender und viele in der Bevölkerung setzten auf die neue russische Entwicklung, was sich in zahllosen “Gorbi”-Rufen auf den ersten Demos ausdrückte, die erst verstummten, als klar wurde, daß Gorbatschow die SED-Bürokratie unterstützen würde.
Revolution: “Sozialismus – ja, aber besser”
Die ersten Demos gegen die Regierung wurden noch gewaltsam aufgelöst, trotzdem nahmen bald Hunderttausende an den sogenannten Montagsdemos teil. Dann ging es bald Schlag auf Schlag. Am 7.10.1989, dem 40. Jahrestag der DDR, endete in Berlin eine Demonstration mit zahlreichen Verhaftungen. Am 18.10. trat Erich Honecker zurück, Egon Krenz wurde neuer Vorsitzender der SED. Am 4.11. fand in Berlin die größte Demonstration in der Geschichte der DDR mit über einer Million TeilnehmerInnen statt. Am 7.11.1989 trat die Regierung der DDR zurück. Und am 9.11. fiel schließlich die Mauer in Berlin.
Anfänglich waren die Demonstrationen keineswegs auf die Wiedervereinigung ausgerichtet. So begann die Großdemonstration am 4.11. mit den Worten “Das ist eine sozialistische Kundgebung”. Die Forderungen waren vor allem auf eine Demokratisierung, ein Ende der Unterdrückung durch die Stasi (Ministerium für Staatssicherheit, DDR-Geheimdienst) und – sehr oft – auf einen besseren Sozialismus gerichtet. So waren auf den Demos zahllose Transparente mit Losungen wie “Alle Macht den Räten”, “Sozialismus – ja, aber besser” oder “Gegen Monopolsozialismus – für demokratischen Sozialismus” zu sehen.
Natürlich gab es auch anfänglich bereits eine Strömung, die klar auf die Wiedervereinigung setzte und diese oft mit nationalistischen Untertönen mixte, doch war diese noch keineswegs bestimmend. Dominierend war die Losung “Wir sind das Volk”. Sogar der “Demokratische Aufbruch”, eine Oppositionsorganisation, die später der CDU beitrat, forderte anfänglich “eine sozialistische Gesellschaft auf demokratischer Grundlage”. Auch die bekannteste Vertreterin der anfänglich wichtigsten Oppositionsgruppe, des “Neuen Forum” (das später in den Grünen aufging), Bärbel Bohley, bekannte sich zum Sozialismus. Laut der Financial Times vom 11.11.89 meinten in einer Umfrage 86%, sie seien für sozialistische Reformen, hingegen wollten nur 5% eine kapitalistische Restauration. Eine revolutionäre Entwicklung war also durchaus nicht ausgeschlossen.
Linke Kraft fehlt
Doch wirkte sich das Fehlen einer linken Kraft, die die sozialistischen Ideen hätte bündeln können, aus. Die erst kurz zuvor gegründete “Vereinigte Linke” war viel zu schwach und zu wenig verankert, andere Kräfte außer der SED – der auch die bald erfolgte Umbenennung in SED-PDS (Partei des demokratischen Sozialismus) nichts nützte – waren kaum vorhanden. So ging die Bewegung schnell nach rechts, orientierte auf die BRD und schon am 1.2.1990 legte Ministerpräsident Modrow ein Konzept zur deutschen Einheit unter dem Motto “Deutschland – einig Vaterland” vor.
Ruck nach rechts
Am 18.4. schließlich war der Prozeß hin zu einer sich auf den Kapitalismus orientierenden Bewegung weitgehend abgeschlossen, die “Allianz für Deutschland”, ein Ableger der westdeutschen CDU/CSU, bekam bei den Wahlen eine knappe absolute Mehrheit. Längst war aus “Wir sind das Volk” “Wir sind ein Volk” geworden, deutsche Fahnen (und immer öfter Nazi-Reichskriegsflaggen) waren auf den Demos zu finden. Natürlich hatten die Demoteil-nehmerInnen nicht innerhalb eines halben Jahres ihre DDR-Fahnen gegen Neonazisymbole eingetauscht, es waren nun andere Schichten mit anderen Forderungen auf der Straße und dominierten das Geschehen, andere hatten sich zurückgezogen.
Auch der Westen hatte umgeschwenkt. Anfangs gar nicht so glücklich über die Wiedervereinigung, hatte sich die Orientierung auf die Vereinigung bald klar durchgesetzt. Am 13.1.1990 befürworteten bundesdeutsche PolitikerInnen erstmals öffentlich eine “deutsch-deutsche Wirt-schafts- und Währungsunion”, was viele DDR-BürgerInnen einen Teil ihrer Ersparnisse kosten sollte. Auch der wirtschaftliche Ausverkauf begann mit der Gründung der Treuhand am 1.3.1990, die in den nächsten Jahren alles verkaufen und privatisieren sollte, was nicht niet- und nagelfest war. (Die Politik der Treuhand wird übrigens heute von 63% der ostdeutschen Arbeitslosen als Hauptursache für die hohe Arbeitslosigkeit im Osten genannt.) Und bereits am 2.7., dem Tag nach der Währungsunion, bekamen 600.000 ArbeiterIn-nen den blauen Brief. Die Wiedervereinigung am 3.10.1990 war nur noch eine Draufgabe und Schlußpunkt der Entwicklung.
Bilanz
Zehn Jahre nach der sogenannten “Wende” muß eine ernüchternde Bilanz gezogen werden. Die Arbeitslosigkeit im Osten beträgt 17% (1,3 Millionen Menschen) wobei diese (offiziellen) Zahlen noch deutlich untertrieben sind. Seriöse Arbeitswis-senschaftlerInnen gehen davon aus, daß Arbeitslosenzahlen grundsätzlich um bis zu 40% zu niedrig angesetzt sind, weil sehr viele Menschen aus verschiedensten Gründen (Frühpensionierungen, Frauen werden wieder Hausfrau, Jugendliche melden sich nicht arbeitssuchend, …) nicht in der Statistik aufscheinen. Sogar der “Arbeitslosenreport 1999” meint, daß 23% wesentlich realistischer seien als 17%, was bedeutet, daß rund ein Viertel der Ostdeutschen arbeitslos ist. Ein Ende dieser Entwicklung ist nicht abzusehen. Rüdiger Pohl, Chef des Instituts für Wirtschaftsforschung, geht davon aus, daß die Zahl der Arbeitsplätze im Osten im Jahr 2000 noch weiter sinken wird.
Bei solchen Zahlen ist es kein Wunder, daß sich 72,9% der ostdeutschen und 51,2% der westdeutschen Arbeitslosen sozial unsicherer fühlen als vor der Wiedervereinigung (3,7% der ostdeutschen und 2,3% der westdeutschen Arbeitslosen fühlen sich übrigens sicherer). Die Hoffnungen also, die viele Ostdeutsche 1989 hatten, sind verflogen.
Die gewendete SED, die PDS, hat sich zu einer Art ostdeutschen Volkspartei entwickelt, und sitzt in einigen ostdeutschen Landesregierungen. Eine Infragestellung des Kapitalismus findet in der Praxis kaum mehr statt. Immer mehr Jugendliche gehen nach rechts, die faschistische DVU (Deutsche Volksunion) sitzt bereits in zwei Landtagen, nämlich in Brandenburg und Sachsen-Anhalt (wo sie fast 14% der Stimmen bekam), 40% der Arbeitslosen sind der Meinung, “die Ausländer” wären an der Arbeitslosigkeit schuld.
Der revolutionäre Elan des Jahres 1989 ist verpufft. Aus dem Kampf vieler für einen besseren Sozialismus ist kapitalistische Realität geworden. Aber – es wäre möglich gewesen.