Am 28. September machte Ariel Sharon, der Führer des konservativen Likud-Blocks, wiedereinmal klar, wer der Herr im Haus ist. In der Begleitung eines Massenaufgebots an Polizei und Militär (die Angaben schwanken zwischen 1000 und 3000) besuchte er die Al-Aqsa Moschee, die als drittwichtigstes Heiligtum des Islam gilt. Damit sollte der Anspruch auf ein ungeteiltes Jerusalem bekräftig und der Friedensprozess torpediert werden. Die Provokation war gut kalkuliert und funktionierte. Palästinenser-Innen stellten sich Sharon entgegen, sechs von ihnen wurden getötet.
Seitdem kann der „Bodycount“ (wie das US-Militär zynisch die Anzahl der Toten nennt), den diese Provokation gefordert hat, den Medien entnommen werden. Sharon ist in diesem Zusammenhang übrigens kein Unbekannter, er war bereits 1982 für die Massaker in den palästinensischen Flüchtlingslagern Sabra und Shatilla verantwortlich.
Das Besondere an den jetzigen Auseinandersetzungen ist die Schärfe, mit der sie von Israel geführt werden. Aktionen wie den Hubschrauberangriff auf Arafats Hauptquartier bezeichnet sogar die stockreaktionäre Financial Times als „wahn-sinnig“.Offensichtlich ist auch, dass Israels Militärs und PolizistInnen schießen, um zu töten, nicht um kampfunfähig zu machen, wie an Hand der Ermordeten klar wird. Zu Beginn der Auseinandersetzungen berichteten die Ärzte des Gaza’s Shifa Krankenhauses, dass die Mehrheit der Verwundeten oder Getöteten in den Oberkörper getroffen wurde, 20 Prozent sogar in den Kopf. Von 49 Getöteten waren 13 Kinder, was die Wut und den Zorn der PalästinenserInnen natürlich noch erhöhte.
Enttäuschte Hoffnungen
Die jetzige Situation war eigentlich vorhersehbar. Der Friedensprozess steckt in einer tiefen Krise, gleichzeitig hat sich in den letzten Jahren die wirtschaftliche Situation in Israel und in den früheren sogenannten „besetzten Gebieten“, die heute formal unter der Kontrolle der Palästinensischen Nationalbehörde stehen, drastisch verschärft. Nach den Osloer Abkommen von 1993 und 1995 glaubten viele PalästinenserInnen an ein Ende der Unterdrückung, gleichzeitig wurden (in Israel und Palästina) weitreichende wirtschaftliche Versprechungen gemacht.
Tatsächlich führten die Abkommen von Oslo, wie etwa der englische „Guardian“ am 12.10.00 feststellte, zu einer Gruppen von nicht-zusammenhängenden Enklaven, die umrundet sind von israelisch-kontrollierten Grenzen und zerschnitten von israelischen Siedlungen, die immer noch ausgebaut werden.
Diese Politik wird von allen wichtigen Parteien unterstützt, auch von der – kürzlich in „Ein Israel“ umbenannten Sozialdemokratischen Arbeiterpartei von Ministerpräsident Ehud Barak, der schon vor einigen Jahren erklärte, dass die „meisten jüdischen Siedlungen in ein paar großen Blöcken unter israelischer Herrschaft bleiben“ würden und Jerusalem vereinigt bliebe, womit letztendlich ein Friedensabkommen unmöglich ist, da es sich kein/e palästinensische/r PolitikerIn leisten kann, auf den Anspruch auf Jerusalem zu verzichten.
Gleichzeitig zu dieser Situation bei den Verhandlungen kommt die sich verschlechternde wirtschaftliche Situation. Die Arbeitslosigkeit in Gaza und West Bank betrug 1997 zwischen 28 und 33 Prozent (und ist inzwischen kaum gesunken). 20 % der Bevölkerung in West Bank und 36% im Gazastreifen leben unter der Armutsgrenze. Gleichzeitig sind die ehemaligen „besetzten Gebiete“ ökonomisch immer noch von Israel abhängig, 80 % der Wirtschaft gehört Israelis, woran auch die Ausrufung eines palästinensischen Staates nichts ändern würde.
Apartheid
Neben der wirtschaftlichen Krise ist aber auch die jahrzehntelange Unterdrückung ein Motor der jetzigen Entwicklung. Das politische System in Israel hat durchaus Elemente der Apartheid, wie sie aus Südafrika bekannt ist. Die AraberInnen stellen rund ein Fünftel der Bevölkerung Israels, und sind einer systematischen Diskriminierung ausgesetzt. Die 12 Städte, die in Israel bei der Liste der Arbeitslosigkeit an der Spitze stehen, sind alle palästinensisch. Bis 1999 war es arabischen Israelis nicht erlaubt, Land in Israel zu erwerben, in den meisten Gebieten durften sie nicht einmal Häuser bauen. Jedes Jahr werden hunderte arabische Häuser zerstört. 90 % der arabischen Israelis wählten bei den letzten Wahlen Barak, in der Hoffnung, dass sich an der Situation etwas verbessern würde. Ihre Enttäuschung und ihr Zorn ist nun besonders groß. Während dem palästinensischen Volksaufstand der 80er, der " Intifada" hielten sie still, doch nun gibt es sogar in Haifa oder Tel Aviv massive Unruhen.
Die Reaktion der radikalen Rechten in Israel ist eindeutig: massive Übergriffe auf PalästinenserInnen, die ein israelischer Marxist in einem Brief mit den Berichten von Leo Trotzki über die Angriffe an JüdInnen im Zaristischen Russland verglich. Die Mehrheit der Israelis steht derzeit hinter der Politik der Regierung. In einer Umfrage befürworteten 60 % der Bevölkerung einen „Transfer“ der arabischen Israelis, also de facto eine ethnische Säuberung, dementsprechend gibt es auch keinen öffentlichen Protest der großen Parteien gegen die Übergriffe.
Zionismus
Die momentane Situation ist nicht zu verstehen ohne einen Blick in die Geschichte. Die offizielle Staatsdoktrin in Israel ist der Zionismus, dessen Ziel immer die Gründung eines jüdisch-ethnischen Staates war. Entstanden ist diese Ideologie im 19. Jahrhundert, nicht zuletzt als Antwort auf die Erfolge der aufkommende Arbeiter-Innenbewegung (die sich selbst als nicht religiös und nicht nationalistisch definierte) unter den JüdInnen. Einige der wichtigsten FührerInnen der internationalen ArbeiterInnenbewegung entstammen dieser (jüdischen) Tradition, unter anderem Karl Marx, Leo Trotzki oder Rosa Luxemburg.
Diese Tradition lehnte die Religion ab, und definierte sich dementsprechend auch nicht als jüdisch. Der Zionismus wollte hier eine neue Identifikationsmöglichkeit schaffen, ein jüdisches Volk kreieren und einen ethnisch reinen Staat errichten. Dementsprechend war von Beginn an die Politik der zionistischen Organisationen in Palästina darauf ausgerichtet, Land zu erwerben und die alteingesessenen AraberInnen zu verdrängen. Dem stellte sich in den 20ern die von der russischen Revolution inspirierte Kommunistische Partei Palästinas (KPP) entgegen, in der JüdInnen und AraberInnen organisiert waren. Sie zerbrach allerdings nach ihrer Hinwendung zum Stalinismus an ethnischen Linien.
Gleichzeitig hatte auch der Zionismus eine sehr starke sozialistische Rhetorik (allerdings eben nur eine Rhetorik), und tatsächlich glaubten viele, in Israel den Sozialismus errichten zu können. Eines der Überbleibsel dieser Tradition ist die Kibbuz-Bewegung (eine sich auf den Sozialismus berufende SiedlerInnen-bewegung), die allerdings immer weniger Einfluss hat.
Möglich wurde die Gründung des Staates Israels dann 1948 nach der Vernichtung großer Teile des europäischen Judentums durch den Nazi-Holocaust (der keinesfalls mit der jetzigen Unterdrückung der PalästinenserInnen zu vergleichen ist, wie dies manche Rechte tun). Allerdings wurde die Staatsgründung weniger möglich durch eine plötzliche „humanitäre Geste“, sondern weit mehr durch die Interessen der USA , einen verlässlichen Partner im Nahen Osten zu haben, als der sich Israel bis heute erweist und dementsprechend massiv von den USA finanziert wird. Zwischen 1,8 und 3 Milliarden Dollar fließen jährlich nach Israel.
Um die Bildung des Staates Israel in dieser Form zu rechtfertigen, leugneten die zionistischen Führer vierzig Jahre lang die bloße Existenz eines palästinensischen Volkes. Ihre zentrale Parole war: „Ein Land ohne Volk für ein Volk ohne Land“. In offiziellen Proklamationen wurde das Land, das dann Israel wurde, als ein vor der Ankunft jüdischer Siedler weitgehend unbewohntes Gebiet beschrieben. Doch tatsächlich entstand Israel durch die Vertreibung der arabischen EinwohnerInnen und war von Anfang an ein Militärstaat.
Gleichzeitig ist aber natürlich das Bedürfnis vieler JüdInnen, nach den Erfahrungen des Holocaust in einem eigenen Staat leben zu wollen, durchaus verständlich, das Ergebnis führte allerdings in dieser Form zwangsläufig zu neuer Unterdrückung.
Vor einem Krieg?
In der jetzigen Situation kann sich diese Unterdrückung sogar zu einem neuen Krieg auswachsen. Der israelische Generalstabschef Shaul Mofaz meinte, die Kämpfe würden mindestens ein Jahr dauern. Er rechnet auch damit, dass der Konflikt an der libanesischen Front erneut aufflammt.
Gleichzeitig gibt es in allen arabischen Ländern (und auch in Ländern mit einer großen arabischen Minderheit wie Frankreich) eine breite Solidaritätsbewegung mit den PalästinenserInnen. So waren unter anderem 300.000 in Marokko auf der Straße und rund eine Million in Tunesien, ähnliche Demonstrationen gab es in fast allen Staaten der Region. Der Druck auf diese Staaten wird also steigen, gegen Israel vorzugehen.
Wege aus der Krise
Derzeit geht die politische Richtung klar in Richtung einer gewissen Eigenstaatlichkeit für die PalästinenserInnen, diese entspricht auch den (nach ihren Erfahrungen durchaus verständlich) Wünschen der palästinensischen Bevölkerung. Das Selbstbestimmungsrecht der Völker ist also zu akzeptieren, dass heißt aber noch lange nicht, dass ethnisch reine Staaten eine perfekte Lösung sind – ganz abgesehen davon, dass ethnische Reinheit in Israel/Palästina nur mit weiteren Massenvertreib-ungen zu erreichen wäre. Daneben würde wahrscheinlich die wirtschaftliche Abhängigkeit von Israel nicht gelöst und die ethnischen Konflikte auf Jahrzehnte hinaus einzementiert sein.
Auch die jetzige Form der palästinensischen Selbstverwaltung ist keine Lösung. Die Palästinenserbehörde ist ein korruptes und diktatorisches Regime mit Pressezensur, in dem mit Zustimmung und Unterstützung von USA und Israel JournalistInnen, Menschenrechts-aktivistInnen und StreikführerInnen verhaftet und ohne Verfahren festgehalten werden. Beherrscht wird sie von der PLO und der in ihr wichtigsten Fraktion, der Fatah. Die wichtigste Oppositionsgruppe, die fundamentalistische Hamas, die von grossen Teilen der Bevölkerung unterstützt wird, ist ebenfalls keine verlockende, Alternative.
Tatsächlich bleibt nur der steinige Weg, die kleinen revolutionären Gruppen von Israelis und PalästinenserInnen, die sich dieser Entwicklung entgegenstellen, zu unterstützen.