Durch die verschärfte Repression des türkischen Regimes sind seit Mitte Dezember dutzende politische Gefangene ums Leben gekommen. Manche haben sich während der (angeblich zur Rettung der Leben der Gefangenen durchgeführten) gewaltsamen Räumung von hungerbestreikten Gefängnissen – als verzweifelter letzter Akt des Widerstandes gegen die Staatsgewalt – selbst angezündet, viele wurden durch Militär und Polizei erschlagen, erschossen, erwürgt (und teilweise auch angezündet), einige sind an den Folgen des Hungerstreiks gestorben. Die genaue Zahl der Opfer steht zur Zeit nicht fest, da viele durch die Militärs an unbekannte Orte (Krankenhäuser, andere Gefängnisse, Polizeistationen etc.) verschleppt worden sind und davon ausgegangen werden muss, dass etliche tot sind, von denen das ihren Angehörigen noch nicht bekannt ist. Die schlimmsten Schätzungen gehen bis zu 200 Toten.
Polizei und Armee waren beim Sturm auf die bestreikten Gefängnisse mit äußerster Brutalität vorgegangen. Es wurden Panzerfahrzeuge und Bulldozer eingesetzt, Tränengasbomben (über 5000 davon wurden in ein einziges Gefängnis in Istanbul geschossen) begleitet von der üblichen Prügelorgie der uniformierten Schläger. Trotzdem leisteten die Gefangenen lange heroischen Widerstand gegen die überlegene Staatsmacht. Auch demonstrierende Angehörige der Gefangenen wurden brutal zusammengeschlagen, hunderte wurden festgenommen. Bereits einige Tage vor dem Angriff auf die bestreikten Gefängnisse hatten bewaffnete Polizisten mit rechtsextremen Parolen demonstriert. Gleichzeitig haben die faschistischen Banden der Grauen Wölfe, die mit der in der Regierung sitzenden Nationalistischen Aktionspartei verbunden sind, die eng mit dem staatlichen Repressionsapparat kooperieren und immer wieder Linke und linke Lokale überfallen, Büros von Linken und Gewerkschaften zerstört. Der militärische Sturm der Gefängnisse hat den Widerstand – entgegen der Propaganda des türkischen Regimes – allerdings nicht völlig gebrochen, der Hungerstreik hat sich vielmehr auf weitere, bisher nicht bestreikte Gefängnisse ausgedehnt. Auch in etlichen Krankenhäusern setzen die Gefangenen ihren Streik fort.
Der Hungerstreik von etwa 2000 politischen Gefangenen (insgesamt gibt es in der Türkei über 12000 politische Gefangene, davon sind etwa 2/3 aus dem Bereich der kurdischen PKK, die anderen türkische Linke und Gewerkschafter) hatte bereits im Oktober begonnen und wird vor allem von drei türkischen linken Organisationen getragen: DHKP-C (ehemals DevSol), TKP/ML, TKIP. Er richtet sich insbesondere gegen die Einführung der sogenannten weißen Zellen, die seit Sommer 1999 im Gespräch waren und seit dem Jahr 2000 Schritt für Schritt eingeführt werden. Dabei handelt es sich um mit deutscher und US-amerikanischer Hilfe hergestellte Isolationszellen ohne natürliches Licht, in denen die Gefangenen jahrelang gehalten werden, langsam jedes Gefühl von Raum und Zeit verlieren und schließlich verrückt werden. Nach Berichten von Rechtsanwälten wird in manchen der sich bereits in Betrieb befindlichen weißen Zellen den Gefangenen sogar Kleidung verwehrt. Mit der Einführung dieser Art von Isolationshaft geht es dem türkischen Regime um die Zerschlagung der Widerstandsstrukturen, die die politischen Häftlinge über Jahre hinweg in den Gefängnissen aufgebaut haben. Das passiert im Rahmen einer anlaufenden verstärkten Repression vor dem Hintergrund von sich verschärfenden sozialen Widersprüchen in der Türkei.
Sosehr die türkische Bourgeoisie die unmittelbare Verantwortung für die Verbrechen ihrer Militärs trägt, für die systematische Folter in den Gefängnissen, für das brutale Vorgehen gegen Arbeiter/innen/proteste, für die Unterdrückung der kurdischen Minderheit und jetzt für das Blutbad in den Gefängnissen, so sehr ist doch auch der internationale Kapitalismus, sind IWF, EU und USA mitverantwortlich für die aktuelle Entwicklung. Die türkische Kapitalist/inn/enklasse befindet sich in einer ernsten ökonomischen Krise. Die Asienkrise 1997/98 und ihre Folgen, die Einbrüche an den Börsen in Ostasien, Russland, Brasilien etc., die verschärfte Konkurrenz um Investitionen insbesondere zwischen sogenannten Schwellenländern hatten und haben negative Auswirkungen auf Länder wie Argentinien oder eben die Türkei.
Die Regierung von Bulet Ecevit sah sich schließlich im Dezember 1999 gezwungen, durch ein Abkommen mit dem IWF einen auf drei Jahre angelegten Kredit über 3,7 Mrd. US-$ aufzunehmen. Dafür musste sich die Türkei auf ein in solchen Fällen übliches Sanierungsprogramm verpflichten. Das bedeutet Einschränkungen bei den öffentlichen Ausgaben, konkret bei Gesundheit und Ausbildung, rasche Privatisierungen (von denen auch das westliche Kapital massiv profitiert), Kürzungen der in der Türkei ohnehin schon niedrigen Löhne und Renten. Im öffentlichen Dienst gab es beispielsweise im Jahr 2000 eine Lohnerhöhung von 25%, was bei einer Inflation von 80% eine massive Reallohnkürzung bedeutete.
Anfang Dezember kam es dann auch noch zum Bankrott von einigen Banken und zu einem Crash an der Börse in Istambul. Die Regierung pumpte in der Folge den IWF um einen erneuten Kredit an, der an noch härtere Maßnamen im sozialen Bereich geknüpft ist. Auch die EU hat klargemacht, dass ein mittelfristiger Beitritt nur bei Durchführung der IWF-Auflagen möglich ist.
Dafür aber ist die jetzige Repression eine Voraussetzung, denn die türkische Arbeiter/innen/klasse hat insbesondere in der letzten Zeit gezeigt, dass sie nicht bereit ist, die Angriffe der türkischen Bourgeoisie und ihrer Komplizen in den Zentralen der multinationalen Konzerne, des IWF und der EU einfach hinzunehmen. Bereits in den letzten Jahren gab es immer wieder Kämpfe gegen die türkische Militärjunta, die mit ihrem Putsch 1980 der Arbeiter/innen/bewegung und Linken einen schweren Schlag zugefügt hatte und die seitdem de facto alle wichtigen politischen Entscheidungen des Landes bis hin zu Bildung und Zusammensetzung der Regierungen trifft. Während auch die Islamisten in den 90er Jahren stark von der sozialen Unzufriedenheit profitiert haben, hat sich in den letzten Jahren auch die türkische Arbeiter/innen/bewegung wieder etwas erholt. So waren zB – was im Westen kaum bekannt wurde – 1995 Arbeiter/innen/demonstrationen und -streiks der Hintergrund für den Sturz der Regierung Tansu Ciller. In den Jahren 1996 bis 1998 gab es Unruhe an den türkischen Universitäten, von denen erstmals seit langem auch Linke außerhalb des traditionell dominanten stalinistischen Spektrums zumindest in gewissem Ausmaß profitieren konnten. Anfang Dezember 2000 gab es schließlich den größten Streik seit 1980: Über eine Million Arbeiter/innen traten gegen die im IWF-Paket enthaltene Einfrierung der Löhne (die bei der hohen Inflation massive Einkommensverluste bedeutet) in den Ausstand. Mitte Dezember streikten dann zehntausende Lehrer/innen unter der Losung Geld für Ausbildung statt für das Militär.
Die EU, die sich gerne als Hüterin der Demokratie und Richterin über der Menschenrechtslage in verschiedenen Ländern aufspielt, ist in den aktüllen Auseinandersetzungen eine Komplizin der türkischen Regierung. Das europäische Kapital und seine politischen Vertreter/innen haben ein Interesse an den Privatisierung im speziellen und dem IWF-Programm im allgemeinen, an der Repression gegen die Arbeiter/innen/klasse und die Linke, mit der dieses Programm durchgesetzt werden soll. Es ist ein – von den europäischen Medien bis zum Erbrechen wiedergekäuter – Mythos, dass die EU-Annäherung der Türkei positiv auf die Einhaltung der Menschenrechte wirkt. Eher das Gegenteil ist wahr. Deutsche, österreichische und andere EU-Firmen machen außerdem gute Waffengeschäfte mit den türkischen Foltermilitärs. Während Panzer und die weißen Zellen problemlos in die Türkei exportiert werden können, werden die europäischen Grenzen für die türkischen und kurdischen Arbeiter/innen dicht gehalten.
Angesichts dieser Interessenslage des EU-Kapitals und seiner Regierungen ist es kein Wunder, dass die EU im aktuellen Konflikt um den Hungerstreik heuchlerisch beide Seiten – also die Opfer ebenso wie die Mörder – zur Zurückhaltung aufgerufen hat, dass die europäischen bürgerlichen Medien (mit Ausnahme der Sondersituation Griechenlands) wenn überhaupt, dann neutral-distanziert und eben zurückhaltend über die Massaker durch die türkischen Militärs berichtet haben. Gegen Regimes, die nicht wie das türkische zu den besonderen Freunden des Westens zählen, führen, wenn es EU und USA ins Konzept paßt, schon weit geringere Menschenrechtsverletzungen als ein Blutbad unter Gefangenen zu hysterischen Propagandakampagnen durch unsere angeblich so freien Medien. Die Türkei aber spielt für den Imperialismus eine zentrale strategische Rolle in der Region, als hochgerüsteter, verlässlicher Handlanger gegenüber dem Irak, Syrien, dem Iran, dem Kaukasus und Zentralasien. Dafür sind die Ritter der Menschenrechte in den westlichen Staatskanzleien nicht nur bereit über die Beteiligung von Rechtsextremisten an der Regierung, über systematische Folter und Repression durch Staatsapparat und Faschisten und über die andauernde Unterdrückung der Kurd/inn/en mit gelegentlichen augenzwinkernden Ermahnungen hinwegzusehen. Sie stützen vielmehr dieses Regime und geben in etlichen Bereichen seine Politik vor.
An DHKP-C, TKP/ML und TKIP haben wir erhebliche Kritik. Das betrifft ihre politischen Konzeptionen, insbesondere ihre stalinistischen klassenübergreifenden Volksfront-Strategien. Das betrifft auch ihre Organisationsmethoden: eine meist hierarchisch-patriarchale innere Strukturierung, teilweise gewalttätiges Agieren gegenüber anderen Organisationen der Linken und die von ihnen ausgehenden Repressalien gegen trotzkistische und anarchistische Genoss/inn/en in den Gefängnissen. Trotz alldem muss aber in der jetzigen Auseinandersetzung ganz klar die Solidarität mit dem Kampf der hungerstreikenden Genoss/inn/en im Vordergrund stehen. Die europäische Arbeiterbewegung muss für eine Ende der EU-Waffenlieferungen an die türkischen Mörder-Generäle, für eine Ende der Abschiebungen in den Folterstaat eintreten und die türkischen Linken und die Gewerkschaften (die vom Staat unabhängig sind) propandistisch und materiell unterstützen.