Ein fundamentaler Gegensatz zwischen der "zivilisierten Welt" und rückständigen islamischen Extremisten wird in den letzten Wochen von Politiker/inne/n und ihren Schreiberlingen immer wieder beschworen. Unterlegt wurde diese Kriegsvorbereitung mit der "Theorie" des rechten Propagandisten Samuel Huntington vom angeblich unausweichlichen "Kampf der Kulturen". Tatsächlich ist der Aufstieg des Islamismus in den letzten beiden Jahrzehnten auch ganz wesentlich auf die Politik eben jenes "zivilisierten" Westens und die Interessen seiner herrschenden Klasse zurückzuführen.
In Afghanistan ging es den USA in den 80er Jahren v.a. darum, den Einfluss der Sowjetunion zurückzudrängen, die sowjetischen Truppen unter hohen Verlusten aus dem Land zu jagen und die prosowjetische Regierung, die immerhin eine Landreform und ein Alphabetisierungsprogramm durchgeführt hatte, zu stürzen. Gefördert wurden dazu diverse Islamisten, die sich oft auf traditionelle Clanstrukturen stützten, "im Kampf gegen die Ungläubigen" von religiösen Fanatikern aus vielen arabischen Ländern (darunter Osama bin Laden) verstärkt wurden, Geld von den USA (6 Milliarden US-$) und besonders von Saudi-Arabien (dem schärfsten islamistischen Regime überhaupt) erhielten. Organisatorisch-logistische Hilfe bekamen sie von der CIA. Kämpfer der islamistischen Mudjahedin, darunter auch Leute von bin Laden, wurden in den USA unter anderem im CIA-Trainingslager in Williamsburg ausgebildet. Mitentscheidend für den Kriegsausgang war schließlich die Lieferung von US-Stinger-Boden-Luft-Raketen.
Die Intensivierung des Bürgerkrieges in Afghanistan durch die CIA-Intervention, die bereits vor dem sowjetischen Truppeneinmarsch begonnen hatte, wurden weitgehend über den pakistanischen Geheimdienst ISI gespielt. Er verfügt angeblich insgesamt über etwa 150.000 "Mitarbeiter", repräsentiert den rechtesten Teil der pakistanischen herrschenden Schicht, ist stark von Islamisten durchsetzt und hat gemeinsam mit der CIA seit den 80er Jahren auch systematisch die islamistische Destabilisierung der zentralasiatischen Sowjetrepubliken betrieben. In den 90er Jahren hat der ISI auch islamistische tschetschenische Kommandanten (die im Kampf um Erdöl und Pipelines im Kaukasus von US-Konzernen und der regionalen Allianz USA-Türkei-Aserbaidschan gegen das Bündnis Russland-Iran-Armenien instrumentalisiert werden) und angeblich auch kosovarische UCK-Militärs ausgebildet.
Der Krieg der Mudjahedin in Afghanistan wurde von den westlichen Menschrechtsfreunden zum "Freiheitskampf eines Volkes gegen den sowjetischen Totalitarismus stilisiert – vom US State Department über diverse Nachrichtenmagazine bis hin zu James Bond in "Hauch des Todes". Versuche der prosowjetischen Regierung, den Tschador abzuschaffen und das Bildungswesen auch für Frauen zu öffnen, wurden etwa als Vergewaltigung der kulturellen Tradition Afghanistans angeprangert. Die tatsächliche Vergewaltigung hunderttausender afghanischer Frauen, die nicht den islamistischen Vorstellungen gerecht wurden, durch die schliesslich triumphierenden Mudjahedin fand hingegen bestenfalls als Kurzmeldung den Weg in westliche Zeitungen.
Nach dem sowjetischen Truppenabzug aus Afghanistan 1988/89 und dem endgültigen Sieg der Islamisten 1992 begann allerdings ein Bürgerkrieg Islamisten gegen Islamisten. Die US-Ölkonzerne (Exxon, Chevron, Mobil, SOCAR u.a.), die nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion in der kaspisch-zentralasiatischen Region das neue große Geschäft witterten, waren mit dieser Situation unzufrieden. Russland kontrollierte weiter 70% der Pipeline-Kapazitäten aus der kaspischen Region und die US-Firmen trachteten danach eine von Russland, aber auch vom Iran und China unabhängige Option aufzubauen. Der Weg über das US-hörige Pakistan war ideal, allerdings brauchte man dazu auch ein prowestliches und stabilisiertes Afghanistan. Die Generäle Dostum und Massud, die aus ethnischen Minderheiten stammten (Usebeke bzw. Tadschike), kamen als einigende Kraft nicht in Frage und so setzte man schliesslich auf die an pakistanischen Koranschulen ausgebildeten und überwiegend aus der paschtunischen Mehrheitsbevölkerung stammenden Taliban, die seit 1994 am Vormarsch waren.
1995 vereinbarten der US-Ölkonzern Unocal (der bereits über Lizenzen in der kaspischen Region verfügte), die CIA und die Taliban, nach deren Sieg im Bürgerkrieg eine Pipeline über Afghanistan nach Pakistan zu bauen. Man hoffte auf ein neues Saudi-Arabien: reich durch Erdöl, islamistisch, 100%ig prowestlich. Ein führender US-Diplomat drückte es offen aus: " Ein bisschen Scharia stört uns nicht, solange unsere Interessen gesichert sind." Die Taliban bekamen schlussendlich 1996 den Grossteil Afghanistans unter ihr Kontrolle, allerdings nicht mit dem gewünschten Resultat – stattdessen weiter Bürgerkrieg, keine prowestliche Stabilität und die Taliban erwiesen sich nicht als verlässliche Handlanger. Sie konzentrierten sich mehr auf ihre ideologisch-religiösen Konzeptionen als auf die ökonomischen Interessen ihrer Geldgeber. Trotzdem erhielten die Taliban von den USA noch dieses Frühjahr 43 Mill. $ für die "Drogenbekämpfung". Insgesamt machte die US-Hilfe für das Taliban-Regime etwa 450 Mill. $ aus.
Die ehemaligen Afghanistan-Kämpfer spielten aber auch in anderen Ländern eine zentrale Rolle als Keimzellen der islamistischen Bewegungen (in Nordafrika etc.). Diese waren dabei keineswegs durchgängig gegen den US-Imperialismus. Im Golfkrieg stand etwa Osama bin Laden – wie die USA – gegen den Irak auf Seiten des islamistischen Saudi-Arabien, in dem es keinerlei demokratische Rechte gibt, in dem Frauen in jeder Hinsicht unterdrückt sind, in dem Dienstboten aus asiatischen Ländern in den Haushalten der saudischen Oberschicht in sklavenähnlichen Verhältnissen leben. Erst als die US-Truppen nach dem Krieg nicht wieder aus Saudi-Arabien abzogen, richteten sich Osama bin Laden & Co. zunehmend gegen die USA.
Auch in Palästina hat der zivilisierte Westen massgeblich zum Aufstieg des Islamismus beigetragen – in diesem Fall konkret der israelische Geheimdienst. In den 80er Jahren ging es dem israelischen Staat darum, die palästinensische Bewegung zu spalten, und er hat neben und gegen die PLO finanziell und organisatorisch die Hamas gefördert.
Und an der Entstehung des islamistischen Staates im Iran war der Westen ebenfalls nicht unbeteiligt. Das Schah-Regime war dort in den 60er und 70er Jahren die Hauptstütze des Imperialismus in der Region, verfügte über einen mit US-amerikanischer Hilfe hochgerüsteten Militärapparat und den riesigen und berüchtigten Gemeindienst SAVAK. Angesichts der sich in der zweiten Hälfte der 70er Jahre entwickelnden Massenbewegung setzte das Schah-Regime (unterstützt von Westen) auf systematische und brutale Repression gegen die starke iranische Linke – während gleichzeitig die islamistische Opposition des Klerus' weitgehend geduldet wurde. Das war ein wesentlicher Faktor dafür, dass im widersprüchlichen Prozess der sozialen Revolution im Iran zwischen 1978 und 1981 schliesslich die Islamisten die Oberhand gewinnen konnten. Zur Festigung des neuen Regimes der Mullahs trug dann auch der von Frankreich und den USA angezettelte Krieg des Irak (unter dem damals prowestlichen Saddam Hussein) gegen den sozialrevolutionären Iran bei: Die iranischen Islamisten konnten nun, 1981, erfolgreich auf eine Politik des nationalen Schulterschlusses setzen und die bis dahin bestehende Doppelmacht zwischen dem Mullah-Regime und der Arbeiter/innen/bewegung (die beispielweise in der Ölindustrie räteähnliche Strukturen aufgebaut hatte) beenden – mit einer Zerschlagung der iranischen Linken. Khomeini & Co. waren den westlichen Konzernen und ihren Regierungen allemal lieber als eine Machtübernahme der iranischen Arbeiter/innen/bewegung. Auch wenn die Mullahs die vorangegangene soziale Revolution durch eine teilweise sozial-radikale Rhetorik berücksichtigen mussten, wenn sie an Verlässlichkeit in keinster Weise mit dem saudischen Regime zu vergleichen waren und auch den unmittelbaren Zugriff für die westlichen Konzerne reduzierten, so stellten sie dennoch die kapitalistischen Eigentumsverhältnisse nicht grundlegend in Frage. Nicht unerwähnt bleiben soll aber auch, dass für die Entwicklung im Iran auch Fehler der iranischen Linken mit entscheidend waren. (Siehe zum ganzen Komplex der iranischen Revolution unsere Analyse in "Marxismus" Nr. 13: Revolutionen nach 1945.)
Generell ist der Aufstieg des Islamismus in den 80er und 90er Jahren natürlich nicht nur auf die externe Einflussnahme westlicher Geheimdienste zurückzuführen, sondern kann sich – wie auch andere kulturalistische reaktionäre Strömungen in halbkolonialen Ländern (zB der Hindu-Chauvinismus in Indien) – auch auf Entwicklungen in den betroffenen Gesellschaften stützen. Der wesentlichste Faktor ist, dass diverse bürgerlich-nationale Befreiungsbewegungen, die in den 60er und 70er Jahren für viele den Weg in eine besser Zukunft zu repräsentieren schienen, gescheitert sind. Der arabische Nationalismus (die Baath-Parteien in Syrien und dem Irak, die FLN in Algerien, der Nasserismus, die PLO), nationale Befreiungsbewegungen in Lateiamerika und Afrika oder die Kongresspartei in Indien brachten für den größten Teil der jeweiligen Bevölkerung kein Ende von Elend und Ausbeutung. Es wurde deutlich, dass innerhalb des kapitalistischen Weltsystems kein nationaler Ausweg aus ökonomischer Rückständigkeit und Armut möglich ist (von Sonderfällen des Kalten Krieges wie Südkorea und Taiwan abgesehen). Seit den 80er Jahren kam dann auch noch die neoliberale Offensive des Kapitals hinzu, durch die im Namen von Effizienz und globaler Konkurrenzfähigkeit in vielen Ländern soziale Sicherungssystem oder Preisstützungen bei Grundnahrungsmitteln abgebaut wurden und das Elend in vielen halbkolonialen Ländern weiter zunahm. Für immer größere Teile der Bevölkerung in diesen Ländern wurde immer deutlicher, dass dieses Weltsystem für sie keine Zukunft zu bieten hat.
Angesichts des Fehlens (oder der Vernichtung) einer starken antikapitalistischen Linken wurde das entstehende politische Vakuum von anderen politischen Strömungen gefüllt. Von Strömungen, die demokratische, sozialistische, frauenemanzipatorische etc. Konzepte als Teil des unheilvollen Westen ablehnen und sich auf die jeweiligen vorkolonialen Kulturen orientieren, ohne jedoch die kapitalistische Produktionsweise in Frage zu stellen. Gleichzeitig greifen sie aber auch demagogisch die soziale Frage auf, prangern die wohlhabenden prowestlichen Eliten an (etwa im Iran vor 1979 oder heute in der Türkei), organisieren soziale Hilfsvereine in Armenvierteln und bauen darauf ihre reaktionäre Propaganda auf.
Jedenfalls bestätigt der Aufstieg der Islamismus in negativer Weise die marxistische und insbesondere die trotzkistische Analyse, dass ein Stehenbleiben bei einer "demokratischen Etappe" in einer revolutionären Entwicklung (was die bürgerlich-nationalen Befreiungsbewegungen notwendigerweise, aber auch die stalinistische "Volksfront"-Konzeption ausdrücken) in eine Sackgasse und eine Niederlage mit reaktionären Konsequenzen führen muss, dass nur eine soziale Revolution auf internationaler Ebene einen Ausweg für die unterdrückten Massen in den Halbkolonien darstellen kann.
Diejenigen unter ihnen (und einige westliche Sympathisant/inn/en), die den Islamismus (oder eine andere kulturalistisch-reaktionäre Strömung) für eine neue, kulturell eigenständige Alternative zur Weltherrschaft des westlichen Grosskapitals halten, irren sich gewaltig. In Saudi-Arabien, im Iran und in Afghanistan zeigt der Islamismus an der Macht bereits sein Gesicht. Und die Islamisten werden wie in der Vergangenheit auch in Zukunft wieder zur Kollaboration mit dem Imperialismus bereit sein – gegen den gemeinsamen Feind Arbeiter/innen/bewegung.
Diejenigen in der westlichen Linken, die nun sagen, ja wir sind natürlich auch gegen das kapitalistische Weltsystem, aber wenn die Amis jetzt mit den mittelalterlichen Taliban aufräumen, ist das doch trotzdem eine gute Sache, irren sich auch gewaltig. Eine Militärintervention von USA/NATO wird den Islamismus weiter stärken. Der imperialistische Zugriff auf die Region wird letztlich die neoliberalen Kapitalinteressen stärken und damit das Elend der Bevölkerung weiter verschärfen. Zur Stabilisierung dieser Verhältnisse werden USA & Co. auch wieder mit Islamisten kooperieren – wie bereits jetzt mit Saudi-Arabien, Pakistan und der afghanischen "Nordallianz".
Die einzige Perspektive, um dem scheinbaren Dilemma "Jihad oder McWorld" zu entkommen, ist die Entwicklung einer internationalistischen Arbeiter/innen/bewegung in diesen Ländern und weltweit – etwa die linken und insbesondere trotzkistischen Organisationen in Pakistan zu unterstützen oder die afghanischen Frauenorganisationen, die in Flüchtlingslagern in Pakistan arbeiten. Eine Stärkung dieser Kräfte, der Aufbau revolutionär-marxistischer Parteien und schliesslich die revolutionäre Machtergreifung der Arbeiter/innen/klasse ist der einzige Ausweg aus der jetzige Katastrophe.
Im jetzige Konflikt ist freilich der NATO-Imperialismus der Hauptfeind – so wie es die amerikanischen Vietnam-Veteranen bei ihren Demonstrationen Ende September 2001 ausgedrückt haben, wo sie aufmarschierten als "ehemalige Mitglieder der größten Terrororganisation der Welt, der US Army".