Diskussionsbeitrag zur nationalen Frage in der frühen Sowjetunion

Während und nach der Oktoberrevolution entstanden zahlreiche nationale Bewegungen in den vom Zarenregime befreiten Regionen. Vom enormen Ausmass der verschiedenen Nationalismen war die bolschewistische Partei überrascht. Sie besaß bis dato noch kein geschlossenes Konzept für ihre weitere Politik. Zumindest unterschwellig ging so mancher Revolutionär davon aus, dass mit der sozialistischen Revolution die nationale Frage de facto gelöst sei. Die politische Situation nach der Oktoberrevolution zwang die Partei dazu, der Nationalitätenpolitik mehr Gewicht einzuräumen, die Diskussion darüber zu fördern und ein Volkskommissariat für Nationalitätenfragen zu gründen.

Auf Grund der revolutionären „Realpolitik“ wurde die Phase nach der Oktoberrevolution entscheidend für die theoretische und politische Ausrichtung der marxistischen Herangehensweise an die Nationalitätenpolitik. Lenins Thesen, die sich auf seine früheren grundlegenden Positionen stützten, waren der Ausgangspunkt einer breiten Diskussion in der bolschewistischen Partei.

 

1.         Die Diskussion zur nationalen Frage bis zum Ausbruch der Oktoberrevolution 

Die Diskussion der nationalen Frage in der II. Internationale hat Eric Wegner in seinem ausführlichen Text beschrieben (siehe Marxismus Nr. 23). Nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs spitzte sich die Diskussion um die nationale Frage innerhalb der bolschewistischen Partei zu. Lenin beschrieb die Haltung der Bucharin-Pjatakow-Gruppe und die Kritik von Rosa Luxemburg mit dem Begriff „imperialistischer Ökonomismus“.

1.1          Lenins Thesen zur nationalen Frage vor der Februarrevolution

Die Auseinandersetzung mit den Auffassungen von Radek-Luxemburg-Pjatakow-Bucharin verschaffte Lenin die Möglichkeit, seine Thesen darzulegen, die Diskussion anzuregen und damit auf die Dringlichkeit der nationalen Frage zu verweisen. Die Opposition vernachlässigte diese Thematik und sah den Kampf für den Sozialismus nur im Kampf der sozialen Befreiung, während Lenin für die soziale und nationale Befreiung eintrat.

In der Phase vor der Februarrevolution können drei Hauptelemente in Lenins Auffassung betont werden:

a)            Die Situation der Arbeiter war nicht in jedem Land gleich. Lenin bestand auf der Einteilung der Nationen in unterdrückende und in unterdrückte Nationen. Der Weg zum Sozialismus und zur Verschmelzung der Nationen ist für Arbeiter aus unterdrückten und unterdrückenden Ländern nicht derselbe. Den Arbeitern von unterdrückenden Nationen soll es gleichgültig sein, zu wessen Nation die unterdrückten Arbeiter gehören, ob sie einen eigenen Staat haben oder nicht. Ein Sozialist, der einer großstaatlichen oder Kolonien beherrschenden Nation angehört und das Selbstbestimmungsrecht der Nationen und die politische Lostrennung nicht verteidigt, ist gemäß Lenin ein Chauvinist.

Umgekehrt muss ein Sozialist der unterdrückten Nation für den Zusammenschluss der Arbeiter aller Nationen kämpfen. Er darf zwar für die Befreiung seiner Nation kämpfen, muss aber als Ziel die langfristige Vereinigung aller Arbeiter anstreben und sich gegen alle kleinliche nationale Beschränktheit, Abgeschlossenheit und Isolation wehren.

Diese Haltung Lenins stellt das Wesen der bolschewistischen Theorie vom Selbstbestimmungsrecht der Nationen dar. Die kleinbürgerlichen Nationalismen stellten gerade auch nach der Oktoberrevolution immer eine Gefahr für die Revolution dar.

b)            Der revolutionäre Kampf für den Sozialismus muss nach Lenin mit einem revolutionären Programm in der nationalen Frage verbunden werden. Das Selbstbestimmungsrecht der Völker spielt nicht nur bei der bürgerlich-demokratischen Revolution eine Rolle, sondern auch bei der sozialistischen.

So schreibt Lenin: „Wenn folglich die Forderung nach Freiheit der Nationen keine verlogene Phrase sein soll, hinter der sich der Imperialismus und Nationalismus bestimmter einzelner Länder verbirgt, so muss sie auf alle Völker und auf alle Kolonien ausgedehnt werden. Eine derartige Forderung ist aber offensichtlich inhaltslos ohne eine Reihe von Revolutionen in allen fortgeschrittenen Ländern. Damit nicht genug. Diese Forderung ist unerfüllbar ohne eine erfolgreiche sozialistische Revolution.“

Damit war Lenin noch der Meinung, dass erst nach der bürgerlich-demokratischen Revolution die sozialistische kommen kann, welche dann die Befreiung der Nationen durchsetzen wird. In einem späteren Kapitel wird aufgezeigt, wie Trotzkis Theorie der permanenten Revolution auch bei der Nationalitätenpolitik ihre Richtigkeit unter Beweis stellte. In gewisser Hinsicht hat Lenin Recht mit seiner Feststellung, dass nationale Unabhängigkeitsbestrebungen unterstützt werden müssen, weil sie mit der sozialistischen Revolution in Zusammenhang stehen. Es gelang ihm jedoch noch nicht, sich von einem Etappenkonzept zu lösen und die konsequente Weiterentwicklung zu erkennen, dass nämlich ein konsequenter nationaler Befreiungskampf unweigerlich in die sozialistische Revolution führen muss, genau so wie die Arbeiterklasse nach der Durchführung der bürgerlich-demokratischen Revolution gezwungen ist, auch sozialistische Massnahmen zu ergreifen. Die nationale Freiheit wird in einer kapitalistischen bürgerlichen Demokratie nicht vollständig realisiert werden können, da die Unterdrückung im kapitalistischen System weitergeht – egal ob durch eine eigene oder eine fremde Bourgeoisie. Um ihre erlangten Freiheiten nach einer erfolgreichen Unabhängigkeitsbewegung zu sichern, werden die proletarischen Massen gezwungen sein, sozialistische Maßnahmen zu ergreifen und damit der Revolution zum Erfolg zu verhelfen.

c)            Lenin sah zurecht keinen Widerspruch in der Anerkennung des Selbstbestimmungsrechts der Völker und der Ablehnung von Annexionen. Letztere lehnte er ab, weil die Annexion eine Form der nationalen Unterdrückung darstellt. Dennoch war nicht jede Angliederung eines fremden Territoriums nach Lenin eine Annexion, denn „die Sozialisten können Gewaltanwendung und Kriege, die im Interesse der Mehrheit der Bevölkerung geführt werden, nicht grundsätzlich ablehnen. Unter Annexionen verstehen wir bloß die Angliederung eines Landes gegen den Willen der Bewohner.“

Gerade die Oktoberrevolution und das Ausbrechen der verschiedenen nationalen Unabhängigkeitsbewegungen und die unterschiedlichen Voraussetzungen in den verschiedenen Regionen des zaristischen Russlands zeigten, wie schwierig es ist, allgemein gültige Formulierungen zu machen. Ob eine Nation eine eigene Bourgeoisie oder eine fremde hat, ob der nationale Befreiungskampf von Proletariern oder von Bauern geführt wurde, ob dieser von proletarischen oder kleinbürgerlichen Kräften angeführt wurde usw. usf. – jede dieser speziellen Situationen forderte eine andere Beurteilung.

Wie von Lenin herausgearbeitet, ist zwischen nationalen Unabhängigkeitsbewegungen und nationalistischen Ideologien zu unterscheiden. So darf in keinem Fall der kleinbürgerliche Nationalismus unterstützt werden. Der Kampf um Unabhängigkeit soll – wenn möglich – vom Proletariat geführt werden, weil die nationale Befreiung eine Voraussetzung für die sozialistische Revolution ist. Wenn allerdings ein bewusstes Proletariat erst in Ansätzen existiert, kann der von Bauern geführte Unabhängigkeitskampf auch eine wichtige Entwicklung sein. Nationalismus kann gerade in rückständigen Ländern eine Form von gegen die herrschenden Verhältnisse gerichtetem politischen Bewusstsein sein. In diesem Fall sind die Schichten mit geringem politischen Bewusstsein meistens Bauern. Die Entwicklung vollzieht sich, indem sie sich wehren gegen die Unterdrückung, sie solidarisieren sich und erleben die Macht der Einheit im Kampf um die Freiheit. Auf diesem Boden kann sich später eine Klassensolidarität entwickeln.

Das Streben nach nationaler Unabhängigkeit wird die die Revolution tragenden Schichten zwingen, nach dem Erreichen der Unabhängigkeit die eigene Bourgeoisie zu stürzen und die Zusammenarbeit mit anderen sozialistischen Republiken zu suchen, um die Errungenschaften der Revolution zu schützen. Daher spricht Lenin allen Nationen das Recht auf Lostrennung zu, weil jede Republik den Sozialismus nur in Zusammenarbeit mit den anderen sozialistischen Staaten halten kann. Der Sozialismus muss sich ausweiten und kann nicht nur in einem Land funktionieren, daher werden die Grenzen zwischen den sozialistischen Staaten immer unbedeutender, weil sie in ihrem eigenen Interesse sich zusammenschließen werden.

1.2          Die nationale Frage nach der Februarrevolution

In Russland reifte im Winter 1916/1917 eine revolutionäre Situation heran. Wirtschaftskrise, Zerrüttung und Hunger riefen Proteste, sowohl in der Stadt als auch auf dem Land, hervor. Unterschiedliche soziale Bewegungen vereinten sich, das Proletariat, die Bauern, die Soldaten und die russische Bourgeoisie kämpften gemeinsam, aber mit unterschiedlichen Zielen. Die Februarrevolution verwandelte Russland in eine bürgerliche Republik. Der bürgerlich-demokratischen Februarrevolution gelang es jedoch nicht, die Hauptforderungen der Arbeiter und Bauern zu erfüllen. Diese forderten das Ende des sinnlosen imperialistischen Krieges, die Beseitigung des Großgrundbesitzes, die Verteilung des Bodens unter den Bauern und die Aufhebung der nationalen Unterdrückung. Die Arbeiter und Bauern stellten Forderungen auf, die über die bürgerlichen Ziele hinausgingen. Dies war der Hauptgrund für den Machtzuwachs der Bolschewiki, weil die bürgerlichen Parteien diese Forderungen nicht erfüllen konnten.

Im September 1917 stellte die Arbeiterbewegung die Machtfrage, während die Bauern den Kampf um den Boden führten. Viele Soldaten, die arme Bauernsöhne waren, stellten sich auf die Seite der Bolschewiki. In Lettland und Weißrussland führten die nationalen Spannungen ebenfalls zu sozialen Konflikten und damit zur Stärkung des Bolschewismus.

Die Enttäuschung der Bevölkerung über die bürgerliche Kerenski-Regierung lag darin, dass diese in vielen Punkten lediglich die formale Gleichstellung und die formale Aufhebung der Unterdrückung erreichte. Dieser Widerspruch zwischen formaler Gleichheit und realer Unterdrückung verstärkte die Unzufriedenheit und bewirkte eine Politisierung bei den unterdrückten Nationen. Am Beispiel Finnlands lässt sich erkennen, wie sich die falsche Nationalitätenpolitik auswirken kann. Als Finnland als erste Nation die Unabhängigkeit erklärte, die ihr vom Gesetz her zustand, setzte Kerenski die finnische Regierung eigenmächtig ab. Erst zwei Tage vor ihrem eigenen Sturz anerkannte die Kerenski-Regierung die staatliche Unabhängigkeit Finnlands.

Trotzki fasste die Entwicklung während des Februar-Regimes wie folgt zusammen: „Hauptverdienst der Februarumwälzung, vielleicht das einzige, aber völlig hinreichende, bestand gerade darin, dass es den unterdrückten Klassen und Nationalitäten Russlands endlich die Möglichkeit gegeben hatte, laut ihre Stimme zu erheben. Das politische Erwachen der Bauernschaft konnte aber nicht anders vor sich gehen als vermittels der eigenen Sprache, mit allen sich daraus ergebenden Folgerungen in Bezug auf Schule, Gericht, Selbstverwaltung. Sich dem zu widersetzen, hätte den Versuch bedeutet, die Bauernschaft in das Nichtssein zurückzustoßen.“ Die aufkommenden Nationalismen waren notwendig bei der Herausbildung eines politischen Bewusstseins, vor allem der bäuerlichen Schichten, die so in den revolutionären Prozess eintreten konnten.

Russland war zwar rückständig in wirtschaftlicher Hinsicht, aber ein Beispiel für die komplizierte kombinierte Entwicklung, denn die breite Masse war offen für moderne soziale Ideen und neue Technologien. Diesen Umstand beschrieb Trotzki mit den Worten: „Um mit Rasputins Ideen und Methoden ein Ende zu machen, waren für Russland die Ideen und Methoden von Marx erforderlich.“

 

In dieser Phase um 1917 war Lenin die Bedeutung der nationalen Frage besonders bewusst. Nach seiner Rückkehr aus dem Exil ins revolutionäre Russland ab April 1917 war Lenin mit der Revision des Parteiprogramms beschäftigt, doch diese Arbeit musste durch die politische Entwicklung in den Hintergrund treten. Es zeigte sich die reale politische Entwicklung, die Bedeutung der nationalen Frage, und Lenin sah sich gezwungen, seine Gedanken zum staatlichen Zusammenleben der Nationalitäten im zukünftigen Russland weiterzuentwickeln. Lenin ersetzte den Ausdruck „Selbstbestimmung“ durch „Recht auf freie Lostrennung“, weil der Begriff zu häufig falsch ausgelegt wurde. Lenin machte in der Frage nach der Organisation der Sowjetrepubliken einen Wandel durch und äußerte sich für eine Föderation, wenn auch nur als Übergangsform zum Einheitsstaat.

Die Ereignisse nach 1917 zeigen, dass immer dann, wenn die Nationalitätenpolitik ernst genommen wurde, sich die Revolution weiter entwickelte und dann, wenn sie vernachlässigt wurde, die Rückschläge kamen. Die soziale Frage war stark von der nationalen Frage abhängig. Das Vernachlässigen der Nationalitätenpolitik erwies sich für die sozialistische Revolution daher von großem Nachteil.

2.         Die Nationalitätenpolitik nach der Oktoberrevolution

2.1          Nationale Frage und permanente Revolution

Nach der Oktoberrevolution zeigte sich, dass die bolschewistische Partei über kein klares taktisches Konzept zur nationalen Frage verfügte. Gerade in der ukrainischen Frage lässt sich die unklare und widersprüchliche Politik der bolschewistischen Partei aufzeigen.

Lenin war der Auffassung, dass die unterdrückten Nationen die Wahl haben mussten zwischen der Unabhängigkeit und der Integration in den Sowjetstaat. Dennoch war er noch nicht so weit, die Theorie der permanenten Revolution zu erkennen. Die Nationalismen waren für ihn immer bürgerlicher Natur, sowohl der unterdrückenden als auch der unterdrückten Nationen. Er unterstützte zwar die nationalen Unabhängigkeitsbestrebungen, verstand sie jedoch lediglich als Forderungen zur Realisierung der bürgerlichen Rechte. Erst nach der bürgerlichen Revolution und der nationalen Unabhängigkeit würde die sozialistische Revolution und damit der freiwillige Zusammenschluss mit den anderen sozialistischen Staaten erfolgen.

Von der Theorie der permanenten Revolution, die besagt, dass in einem rückständigen Land die Agrarrevolution und der nationale Befreiungskampf in die sozialistische Revolution hinüberwachsen müsse, war er noch etwas entfernt. Aber selbst Trotzki, der die Theorie der permanenten Revolution entwickelt hatte, war noch nicht in der Lage, seine Theorie zu verallgemeinern und konkret auf die nationale Frage zu übertragen.

Doch durch das Aufkommen des Nationalismus erwachte bei bäuerlichen Schichten oft ein neu gewonnenes politisches Bewusstsein und wuchsen die Erfahrungen im Kampf gegen Unterdrückung sowie das Gefühl der Solidarität. Diese Erfahrungen konnten später für die sozialistische Revolution nützlich sein.

Denn die Forderungen nach nationaler Unabhängigkeit und nach Freiheit waren nicht in der Phase der bürgerlichen Demokratie Russlands zu erfüllen. Die Unterdrückung setzte sich zwangsläufig durch die Herrschaft der eigenen oder gar der fremden Bourgeoisie fort. Die Rechte waren in der Regel lediglich formale Rechte. Das heißt, die Erfüllung der bäuerlichen und proletarischen Forderungen, die sie mit der nationalen Unabhängigkeit erwartet hatten, wurde nicht erreicht. Die Bauern waren daher gezwungen nicht nur in der Agrarfrage, sondern auch in der nationalen Frage sozialistische Forderungen anzunehmen, um ihre Interessen zu verteidigen.

Vor allem in nichtrussischen Gebieten war die nationale Frage stark mit der Agrarfrage verbunden. Die bäuerlichen Schichten forderten die Aufteilung des Bodens. Diese Forderung war eigentlich Teil des Programms der Sozialrevolutionäre, wurde jedoch von der bolschewistischen Partei übernommen, was sich als taktisch richtig erwies. Viele Bauern konnten so für die Revolution gewonnen werden. Zwangskollektivierungen waren kontraproduktiv, wie das Beispiel der Ukraine zeigte. Es war durchaus richtig, der Forderung nach Aufteilung des Bodens nachzukommen, da die kollektive Nutzung auch später realisiert werden konnte. Erst in einer Gesellschaft und mit einer ökonomischen Struktur, in der das Grundeigentum seine Bedeutung verloren hat, wird auch die parzellare Aufteilung des Bodens nicht mehr sinnvoll sein. Die Kollektivierung wird von den Bauern selbst angestrebt werden. Die Oktroyierung dieser Maßnahme jedoch wird nur zu Widerstand und zur Ablehnung derselben führen.

2.2          Interventionskriege und Eroberungen

Am 26. Oktober 1917 verabschiedete der II. Sowjetkongress das Dekret über den Frieden, in dem betont wurde, dass es keine Annexionen und Kontributionen geben sollte. Die Frage des Exports der Revolution stellte sich immer wieder und soll hier auch kurz angesprochen werden. Genauso wie die Kollektivierung nur durch die Bauern selbst durchgesetzt werden kann, so wird die Revolution nur durch die Auflehnung der Arbeiter und Bauern möglich sein. Das bedeutet, Eroberungen können eine sozialistische Entwicklung nicht durchsetzen. Trotzki forderte, dass die Rote Armee zwar die Ukraine befreien solle, aber danach sei es den Arbeitern und Bauern selbst überlassen, über die Zugehörigkeit ihres Landes abzustimmen. An diesem II. Sowjetkongress wurde Josef Stalin zum Leiter des Volkskommissariats für die Angelegenheiten der Nationalitäten gewählt. Anknüpfend an den Willen der ersten beiden Sowjetkongresse, beschloss der Rat der Volkskommissare im November 1917 folgende Prinzipien bei seiner Tätigkeit auf dem Gebiet der Nationalitätenpolitik:

1.       Gleichheit und Souveränität der Völker Russlands;

Recht der Völker Russlands auf freie Selbstbestimmung und Lostrennung und Bildung eines selbständigen Staates;
Aufhebung aller und jeglicher nationaler und nationalreligiöser Privilegien und Einschränkungen;
Freie Entwicklung der nationalen Minderheiten und ethnographischen Gruppen, die das Territorium Russlands besiedeln.
Diese Bestimmungen dienten als Grundlage für Gesetze und Erlässe zur Lösung der nationalen Frage. Eine der ersten Aktionen war die Rückgabe von Kulturgütern an die ehemals vom Zaren unterdrückten Nationen. Nach der Oktoberrevolution setzte sich in der bolschewistischen Partei das Bekenntnis zu föderalen Strukturen durch. Im Frühjahr 1918 wurden die ersten Bestandteile der Russischen Föderation in Form von autonomen Republiken gegründet. Neben der Föderation anerkannten die Bolschewiki auch die Unabhängigkeit jener nationalen Gebiete, die eine Lostrennung wünschten.

Als erstes trennte sich Finnland von Sowjetrussland ab. Finnland erklärte sich am 6. Dezember 1917 für unabhängig. Die finnische Sozialdemokratische Partei schickte einen Brief an das Zentralkomitee der SDAPR(B), und der Rat der Volkskommissare akzeptierte deren Entscheidung. Das unabhängige Finnland entstand als bürgerlicher Staat. Während der Januarrevolution 1918 übernahm eine revolutionäre Regierung die Macht, aber mit Hilfe Deutschlands siegte schließlich die Konterrevolution: Im Mai 1918 ging die Macht wieder an die Bourgeoisie.

Im November 1918 trennte sich Polen von Sowjetrussland und bildete einen unabhängigen Staat unter einer ebenfalls bürgerlichen Regierung. Obschon die revolutionären Kräfte in Polen aktiv waren, entschloss sich die Sowjetunion etwas später, 1920, zum Angriff auf Polen, der schwerwiegende Konsequenzen haben sollte.

3.         Zwischenstaatliche Organisation der Sowjetrepubliken

3.1          Das Verhältnis der Sowjetrepubliken von 1917 bis 1920

Die bolschewistische Partei hatte zwar während der Revolution allgemeine Grundsätze, aber keinen konkreten Plan zur Errichtung eines Vielvölkerstaates. Die Diskussion um das Verhältnis zwischen den sozialistischen Republiken entwickelte sich vor allem während des Jahres 1918. Organisatorisch kann das Verhältnis zwischen den Nationen während und nach der Revolution in vier Phasen eingeteilt werden.

>             Oktober 1917 bis Sommer 1918: Die Zusammenarbeit der Nationen und Nationalitäten war noch nicht geregelt.

>             Sommer 1918 bis Ende 1920: militärisch-politisches Bündnis der Sowjetrepubliken gegen die Konterrevolution.

>             1921 bis Sommer 1922: militärisch-wirtschaftliches Bündnis zur maximalen Nutzung der Ressourcen für den Wideraufbau und ein diplomatisches Bündnis.

>             In den letzten Monaten des Jahres 1922 wurde der Plan zur Gründung der UDSSR ausgearbeitet.

Was die Frage nach der Organisation der Sowjetrepublik betraf, verfasste Lenin am III. Sowjetkongress im Januar 1918 die „Deklaration der Rechte des werktätigen und ausgebeuteten Volkes“. Die Sowjetrepublik soll „auf der Grundlage eines freien Bundes freier Nationen als Föderation nationaler Sowjetrepubliken“ errichtet werden. Stalin hielt die Gründung souveräner Sowjetrepubliken für einen zeitweiligen Faktor, bedingt durch die äußere Lage und den starken Einfluss der bürgerlich-nationalistischen Elemente unter den Werktätigen der ehemals unterdrückten Nationen. Im April 1918 äußerte sich Stalin sehr negativ über die Ukrainische Sowjetrepublik, „sie haben zur Genüge Regierung und Republik gespielt, scheinbar reicht es, es ist Zeit, damit aufzuhören.“

Stalin Absichten waren unter dem Begriff „Autonomisierung“ bekannt geworden. Er wurde damals aber noch von Lenin zurückgehalten. Wie seine Vorstellung der autonomen Gebiete aussehen sollte, zeigte er in den zwanziger Jahren, als die verschiedenen Regionen de facto von der russischen Bürokratie regiert und unterdrückt wurden.

Vor allem am VIII. Parteitag der KPR von März 1919 wurden breite Diskussion über die nationale Frage geführt, als es darum ging, eine neues Parteiprogramm auszuarbeiten. Die Resolution bestimmte, dass die Partei nicht nach dem staatlichen Organisationsprinzip aufgebaut werden sollte. Trotz der Unabhängigkeit der Sowjetrepubliken solle die Parteiorganisation überstaatlich sein. So hieß es in der Resolution, dass „die Existenz einer einheitlichen zentralisierten Kommunistischen Partei mit einem einheitlichen Zentralkomitee, das die gesamte Arbeit der Partei in allen Teilen der RSFSR leitet, notwendig ist.“

Ein weiterer wichtiger Punkt war die neue Formulierung des „Rechts auf staatliche Lostrennung“, das den Begriff des „Rechts auf Selbstbestimmung“ ablöste und damit die genaue Erklärung dessen war, was die Bolschewiki bereits unter Selbstbestimmung verstanden. Die staatliche Lostrennung wurde aber nur im Sinne eines Instruments verstanden, zur Aufhebung der nationalen Unterdrückung und zur Lösung der Fragen, die durch den Kapitalismus und Imperialismus ungelöst geblieben waren. Erst mit der Abschüttelung des Kapitalismus konnten die Grundlagen der Unterdrückung auch wirklich beseitigt werden, um auch die reale Gleichstellung zu erlangen und nicht nur die formale oder juristische, wie dies in bürgerlichen Demokratien der Fall ist. Das Ziel war natürlich die spätere völlige Einheit der Sowjetrepubliken und die Beseitigung der (inner-) nationalen Solidarität, an deren Stelle die soziale Solidarität treten sollte.

In der bolschewistischen Partei formierte sich eine Opposition gegen Lenins Forderung nach dem Recht auf Lostrennung. In den Diskussionen äußerte sich Bucharin gegen die Möglichkeit der Lostrennung von Gebieten. Dies würde bedeuten, dass die Bolschewiki diese Nationen mit ihren Klassen unterstützen würden. Bucharin forderte die nationale Unabhängigkeit der werktätigen Klassen, im Unterschied zum Willen der Bourgeoisie, die soziale Struktur beizubehalten. Die Partei sollte die Diktatur des Proletariats proklamieren und nicht die Möglichkeit der staatlichen Lostrennung. Pjatakow war ebenfalls gegen das Selbstbestimmungsrecht der Völker, weil er die Einheit der Arbeiterklasse in Gefahr sah, wenn die verschiedenen Sowjetrepubliken um staatliche Unabhängigkeit kämpfen würden.

Die Position von Lenin in dieser Frage war, dass die Trennung in Bourgeoisie und Proletariat in dieser Form erst in Russland mit der Oktoberrevolution erreicht sei. Um den Differenzierungsprozess voranzutreiben, sei die Anerkennung des Selbstbestimmungsrechts unabdingbar. Die Forderung Pjatakows nach Unabhängigkeit nur der werktätigen Massen, sei somit unrealistisch. Lenin fügte hinzu: „Jede Nation muss das Selbstbestimmungsrecht erhalten, und das trägt zur Selbstbestimmung der Werktätigen bei.“

3.2          Die sowjetische Föderation von 1920 bis 1922

Nach dem Bürger- und Interventionskrieg kamen die Ernährungskrisen. Waren die Sowjetrepubliken während des Krieges vor allem auf ein gemeinsames militärisches Bündnis angewiesen, so waren sie nun gezwungen, dieses Bündnis auszudehnen. Die sowjetische Föderation wurde zunächst durch ein wirtschaftliches, später auch durch ein diplomatisches Bündnis ergänzt. Die prekäre Lage der Bevölkerung verschärfte sich durch die Folgen des Krieges und durch die Missernte von 1920.

Die Wirtschaftskrise führte zu einer ernsten und bedrohlichen Krise. So erreichte das Nationaleinkommen 1920 nur noch 40 Prozent des Wertes der Vorkriegszeit (1913), und auch der Viehbestand verringerte sich stark. In den Städten kam es zu Unruhen. Der Höhepunkt der Protestbewegung war der Aufstand der Kronstädter Soldaten und Matrosen vom März 1921.

Lenin forderte neben dem militärischen und politischen Bündnis nun auch ein wirtschaftliches Bündnis zwischen der russischen Arbeiterklasse und den nichtrussischen Bauern. Im März 1921 ging die Periode des Kriegskommunismus zu Ende, die Phase der Neuen Ökonomischen Politik begann. Das Bündnis der Bauern und Arbeiter wurde zwar einerseits gestärkt, aber durch die zeitweise Wiederbelebung kapitalistischer Elemente, wie die Freiheit des Handels mit Waren der Kleinindustrie und der Landwirtschaft sowie durch die Zulassung von privatem Kapital zum Handel, brachten auch negative Erscheinungen.

Die mit dem Kapitalismus einhergehenden ideologischen Strömungen des Großmachtchauvinismus und des Nationalismus wurden wieder gestärkt. Hinzu kamen noch die politischen Verfehlungen in der Politik mit der Ukraine und Polen, die diesen Effekt noch verstärkten.

3.3          Selbstbestimmungsrecht der Nationen oder Sicherung der Errungenschaften der Revolution?

Eine Einschränkung, was das Selbstbestimmungsrecht der Nationen betrifft, gilt es dennoch zu machen. Bereits während des komplizierten Friedens von Brest-Litowsk äußerte sich Lenin dergestalt, dass die Interessen des Sozialismus über dem Recht auf Selbstbestimmung der Nationen stehe.

So veröffentlichte er im Februar 1918 einen Text in der „Prawda“, in dem er schrieb: „Kein Marxist kann, ohne mit den Grundsätzen des Marxismus und des Sozialismus zu brechen, bestreiten, dass die Interessen des Sozialismus höher stehen als die Interessen des Selbstbestimmungsrechts der Nationen. Unsere sozialistische Republik hat alles, was sie konnte, getan und tut auch weiter alles zur Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechts Finnlands, der Ukraine u.a. Aber wenn die Dinge sich konkret so gestaltet haben, dass die Existenz der sozialistischen Republik im gegenwärtigen Augenblick gefährdet wird um der Frage der Verletzung des Selbstbestimmungsrechts einiger Nationen willen (Polens, Litauens, Kurlands u.a.), so versteht es sich von selbst, dass die Interessen der Erhaltung der sozialistischen Republik höher stehen.“

Somit stellt sich auch die Frage nach der Beurteilung der realen Situation. Auch der Angriff auf Polen von 1920 konnte mit der Notwendigkeit der Verteidigung des Sozialismus legitimiert werden, dennoch kann er in der Rückschau nur als krasse Fehlentscheidung beurteilt werden.

4.         Die ukrainische Frage

4.1          Die historische Entwicklung in der Ukraine

Nach dem Zusammenbruch des zaristischen Russlands forderten ukrainische Nationalisten die Unabhängigkeit. In den Jahren 1917/1918 schien die Bildung eines einheitlichen Nationalstaates möglich, doch alle Versuche scheiterten. Deutschland besetzte zunächst im Februar 1918 die ehemals russische Ukraine, um sie zu kolonialisieren. In den darauf folgenden Jahren wurde die Ukraine zum Schauplatz zahlreicher Konflikte. Seit Beginn der russischen Revolution polarisierten sich die ukrainischen Parteien in Anhänger und Gegner einer sozialistischen Revolution. Nach der Festlegung der Grenzen von 1920/1921 war die ukrainische Nation auf folgende Staaten aufgeteilt: die Sowjetukraine, die 1922 eine Gründungsrepubliken der UdSSR war, die nun zu Polen gehörende Westukraine, schon immer ein Zentrum der nun vom polnischen Staat brutal unterdrückten ukrainischen Nationalbewegung, die Karpato-Ukraine in der ĆSR und die Nord-Bukowina in Rumänien. In den zwanziger Jahren erhoffte vor allem die bäuerliche Mehrheit der Bevölkerung den Zusammenschluss der Regionen zur Sowjetukraine.

Als dann ab 1929 die Zwangskollektivierung Hunger und Elend nach sich zog und die Stalinisten den Kampf gegen den „bürgerlichen Nationalismus“ proklamierten, verlor die Sowjetukraine an Anziehungskraft. In den abgetrennten Gebieten fanden nationalistische Bewegungen großen Zulauf, die überwiegend klerikal oder faschistisch orientiert waren.

Auf Grund der verschiedenen Positionen innerhalb der russischen KP war eine einheitliche Nationalitätenpolitik schwierig. Gerade die von Lenin als „imperialistische Ökonomen“ charakterisierte Strömung zeigte wenig Verständnis für die Probleme der unterdrückten Völker. Ein Beispiel dafür war die Propagandatätigkeit der KP in der Ukraine. Sie gebrauchte nämlich ausschließlich das Russische.

Als im November 1918 der Nationalist Petljura die Macht übernahm, bildete sich eine breite Opposition gegen seine Regierung. Die bolschewiki-freundlichen Borotbisten, die im Mai 1918 aus dem linken Flügel der Sozialrevolutionären Partei entstanden waren, ein agrarsozialistisches Programm vertraten und die Sowjetmacht unterstützt hatten, aber gleichzeitig die völlige Unabhängigkeit der Ukraine forderten, hatten in dieser Bewegung großen Einfluss und kämpften an der Seite der Roten Armee. Die Rote Armee besetzte schließlich wieder die Ukraine, um diese Revolution zu unterstützen. Pjatakow wurde nach Moskau gerufen, und Rakowski wurde der neue Vorsitzende des Rats der Volkskommissare in der Ukraine. Nach Gründung der Komintern im März 1919 beantragten die Borotbisten die Anerkennung als ukrainische Sektion, wurden aber aufgefordert, sich mit der bolschewistischen Partei der Ukraine zusammenzuschließen, was sie 1920 auch taten.

Rakowski schätzte die Unterschiede zwischen Ukrainern und Russen als bedeutungslos ein. Die ukrainischen Bauern würden kein nationales Bewusstsein besitzen. Das nationale Bewusstsein sei dabei, zu Gunsten des Klassenbewusstseins zu verschwinden, die Arbeiterklasse sei überdies rein russischen Ursprungs. Entsprechend gestaltete sich auch die Politik der ukrainischen Sowjetregierung. In die Staatsverwaltung und in die Armee wurden vorwiegend Angehörige des russischen Kleinbürgertums aufgenommen. Zudem führte die linksradikale Agrarpolitik zu einer Entfremdung der mittleren und teilweise auch der armen Bauern. Da auch die sprachliche Russifizierung gefördert wurde, richtete sich die Ablehnung zunehmend gegen die Bolschewiki. Die Borotbisten bezeichneten diese Politik in einem Brief an Lenin als „Expansionismus eines roten Imperialismus“. Die bolschewistische Regierung wurde als Unterdrückung empfunden, und die laute Forderung nach einer unabhängigen Sowjet-Ukraine zwang die bolschewistische Führung zu einem Umdenken ihrer Politik. Trotzki schrieb in dieser Zeit, als der zaristische General Denikin mit seinen Truppen die Revolution gefährdete: „Die Ukraine ist das Land der ukrainischen Arbeiter und arbeitenden Bauern. Nur sie haben das Recht, in der Ukraine zu herrschen, sie zu regieren und ein neues Leben in ihr aufzubauen. (…) Vergesst das nie: Eure Aufgabe ist nicht, die Ukraine zu erobern, sondern sie zu befreien. Wenn Denikin endgültig zertrümmert ist, werden die arbeitenden Menschen der Ukraine selbst entscheiden, welcher Art ihre Beziehungen zu Sowjetrussland sein werden. Wir alle sind sicher und wir wissen, dass die Werktätigen der Ukraine sich für die engste brüderliche Union mit ihm aussprechen werden. (…) Es lebe die freie und unabhängige Sowjet-Ukraine.“

1939 formulierte Trotzki im Rückblick wie folgt: „Der bolschewistischen Partei gelang es nicht ohne Schwierigkeiten und nur allmählich, unter dem ständigen Druck Lenins, einer richtige Herangehensweise an die ukrainische Frage zu finden. Das Recht auf Selbstbestimmung, d.h. das Recht auf Loslösung [von Russland], gestand Lenin den Polen und den Ukrainern gleichermaßen zu. Aristokratische Nationen erkannte er nicht an. Jede Neigung, das Problem einer unterdrückten Nationalität zu umgehen oder auf die lange Bank zu schieben, betrachtete er als Ausdruck grossrussischen Chauvinismus.“

Rakowski sah seine Fehler ein, und Lenin formulierte in einem öffentlichen Brief das uneingeschränkte Recht auf Unabhängigkeit für die Ukraine. Diese Wende brachte auch spektakuläre Erfolge, weil der ukrainische Aufstand ganz entscheidend zur Niederlage Denikins beitrug.

4.2          Trotzki zur ukrainischen Frage 1939/1940

Stalin trat als Volkskommissar für Nationalitäten für eine zentralistische, die Selbständigkeit der Nichtrussen beschneidende Politik ein und konzipierte 1922 einen „Autonomisierungsplan“: Die nichtrussischen Gebiete sollen der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik (RSFSR) als „autonome Gebiete“ beitreten. Dieser Plan wurde nicht zuletzt auf Grund der energischen Intervention Lenins zugunsten einer gleichberechtigten Föderation (Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken) verworfen. Nicht zufällig: Der Kampf gegen den großrussischen Chauvinismus war eines der wichtigsten Anliegen Lenins in seinen letzten Jahren (1922-1923). Rakowski, der Vorsitzende des Rates der Volkskommissare der Ukraine, war ebenfalls ein Gegner von Stalins Autonomisierungsplänen. Im Juli 1923 entlassen, wurde er zum Botschafter in Grossbritannien ernannt.

Die bürokratische Unterdrückung der Ukraine nahm im Lauf der zwanziger Jahren immer größere Ausmaße an. Verheerende Folgen hatte die stalinistische Agrarpolitik seit 1929, als die Politik der sowjetischen Parteiführung zur Hungersnot mit Millionen Opfern in der Ukraine führte. Die ukrainischen Bauern wurden an der Flucht in angrenzende Gebiete gehindert, Hilfeleistungen untersagt. Die bürokratische Fraktion um Stalin wollte der Bauernschaft, die er als Trägerin des „ukrainischen Nationalismus“ sah, das Rückgrat brechen.

Die Hungerkatastrophe von 1933 traf vor allem die mittleren und ärmeren Bauern, da die Kulaken bereits 1929 deportiert worden waren. In den dreißiger Jahren wurde die ukrainische Intelligenzija durch Schauprozesse gegen angeblich bürgerliche Nationalisten eingeschüchtert und die Kontrolle der Partei wieder Russen übergeben.

Trotzki legte die Diskrepanz zwischen der ursprünglichen bolschewistischen Absicht in der Ukraine und den realen Auswirkungen durch die stalinistische Bürokratie dar: „nach Auffassung der alten bolschewistischen Partei sollte die Sowjetukraine eine machtvolle Achse werden, um die herum sich die übrigen Teile des ukrainischen Volkes vereinigen sollten. Es ist unbestreitbar, dass die Sowjetukraine in der ersten Periode ihres Bestehens eine mächtige Anziehungskraft, auch in nationaler Hinsicht, entwickelte und Arbeiter, Bauern und revolutionäre Intelligenz der von Polen versklavten Westukraine zum Kampf anspornte. In den Jahren der thermidorianischen Reaktion wandelte sich jedoch die Lage der Sowjetukraine und damit der Rahmen der ukrainischen Frage insgesamt deutlich. Je größer die einmal geweckten Hoffnungen waren, desto schmerzlicher war nun die Enttäuschung. Die Bürokratie unterdrückte und plünderte das Volk auch in Großrussland aus. Aber in der Ukraine komplizierte sich die Angelegenheit durch die Zerstörung nationaler Hoffnungen. Nirgendwo haben Unterdrückung, Säuberungen, Repressalien und überhaupt alle Formen des bürokratischen Rowdytums derart mörderische Ausmaße angenommen wie im Kampf gegen das machtvolle, tiefverwurzelte Streben der ukrainischen Massen nach mehr Freiheit und Unabhängigkeit. Die Sowjetukraine wurde für die totalitäre Bürokratie zum Verwaltungsabschnitt einer Wirtschaftseinheit und einer UdSSR-Militärbasis.“

Diese Politik war nach Meinung Trotzkis auch der Grund, warum große Teile der ukrainischen Bevölkerung wieder unter reaktionären Einfluss gerieten: „In dieser Situation gerät die Führung natürlich in die Hände der reaktionärsten ukrainischen Cliquen, deren Nationalismus sich darin ausrückt, das ukrainische Volk mit dem Versprechen einer fiktiven Unabhängigkeit an den einen oder anderen Imperialismus zu verkaufen. Auf diese tragischen Verwirrungen gründete Hitler seine Politik in der ukrainischen Frage.“ Und an anderer Stelle: „Die schroffe Abkehr aller nichtsowjetischen demokratischen Kräfte unter den Ukrainern von der Sowjetunion ist von ungeheurer politischer Bedeutung. Als sich das ukrainische Problem zu Beginn dieses Jahres zuspitzte, waren kommunistische Stimmen überhaupt nicht zu vernehmen; dafür hörte man die Stimmen der ukrainischen Klerikalen und der National-Sozialisten um so besser. Das heißt, die ukrainische Nationalbewegung ist den Händen der proletarischen Avantgarde entglitten und auf dem Weg zum Separatismus weit vorangeschritten.“

Die ukrainische Frage war nach Ansicht Trotzkis sehr bedeutend, weil die Bevölkerung zahlenmäßig der Frankreichs gleichkommt und die Ukraine ein ressourcenreiches Territorium besitzt, das auch strategisch von großer Bedeutung ist. Da die stalinistische Unterdrückung die Sowjetunkraine uninteressant gemacht hat für im Ausland lebende Ukrainer und zu einem diplomatischen Spielball von Stalin wurde, forderte Trotzki die Unterstützung für eine „vereinigte, freie und unabhängige Sowjetukraine der Arbeiter und Bauern.“

Die Unabhängigkeit der Ukraine hätte einen Austritt aus der UdSSR bedeutet, und viele befürchteten dadurch eine Schwächung der Sowjetunion gegenüber den imperialistischen Mächten. Trotzki entgegnete auf diese Kritik: „Die Schwächung der UdSSR, antworten wir, ist Folge jener stetig anwachsenden zentrifugalen Tendenzen, die die bonapartistische Diktatur hervorbringt. Im Kriegsfall kann der Hass der Massen auf die herrschende Clique zur Vernichtung aller sozialen Errungenschaften des Oktober führen. Die Quelle der defätistischen Stimmung liegt im Kreml. Eine unabhängige Sowjetukraine wäre andererseits, schon aufgrund ihrer eigenen Interessen, im Südwesten ein mächtiges Bollwerk für die UdSSR. [Eine Loslösung der Ukraine würde nicht eine Schwächung der Verbindungen mit den werktätigen Massen Großrusslands bedeuten, sondern lediglich eine Schwächung des totalitären Regimes, das Großrussland wie auch die anderen Völker der UdSSR unterdrückt.].“

Der Stalinismus gefährde die sozialen Errungenschaften, weil die stalinistische Degeneration den Sozialismus zerstöre. Daher forderte Trotzki den Sturz der bürokratischen Diktatur, um den Sozialismus noch retten zu können, bevor der kapitalistische Imperialismus siege. „Je eher die jetzige bonapartistische Kaste unterminiert, erschüttert, zerschlagen und hinweggefegt wird, desto solider wird die Verteidigung der Sowjetrepublik und desto gesicherter wird ihre sozialistische Zukunft sein.“

Eine unabhängige Ukraine und ein Austritt aus der Sowjetunion sahen viele auch als Abwendung von der Arbeitersolidarität zwischen den Nationen. Trotzki teilte diese Meinung über den Austritt aus der Sowjetunion nicht: „Was ist denn daran so schrecklich? – entgegnen wir. Inbrünstige Verehrung von Staatsgrenzen ist uns fremd. Wir vertreten nicht die Position eines vereinigten und unteilbaren Ganzen.“ Zumindest theoretisch hatten die Sowjetrepubliken die Möglichkeit, aus der Föderation auszutreten, aber, wie Trotzki richtig bemerkte: „Freilich steht es nur auf dem Papier. Der leiseste Versuch, offen die Frage nach einer unabhängigen Ukraine aufzuwerfen, würde die sofortige Erschießung wegen Hochverrats bedeuten.“

Gleichzeit warnte Trotzki jedoch auch vor der Vereinnahmung der Unabhängigkeitsbewegung durch kleinbürgerlich nationalistische Kräfte und forderte: „Nicht den geringsten Kompromiss mit dem Imperialismus, weder dem faschistischen noch dem demokratischen! Nicht das geringste Zugeständnis an die ukrainischen Nationalisten, weder die klerikal-reaktionären noch die liberal-pazifistischen! Keine ‚Volksfronten’! Völlige Unabhängigkeit der proletarischen Partei als Avantgarde der Arbeiter!“

Die Solidarität zwischen den Arbeiterklassen zwischen den verschiedenen Nationen bekommt durch die Unabhängigkeit der unterdrückten Nation keinen Schaden. Trotzki verwiesen (mit Hinblick auf die bekannte Argumentation Lenins) auf die Solidarität des schwedischen Proletariats nach der Abtrennung von Norwegen.

5.         Nationalitätenpolitik und Weltrevolution

5.1          Die permanente Revolution und Trotzkis Analysen

Weltrevolution und Sozialismus lassen sich nicht nach klar definierten Herangehensweisen herbeiführen. Jede konkrete Situation muss neu beurteilt werden. Nur von der Prämisse auszugehen, dass sich die jeweiligen Probleme im Sozialismus auflösen werden und bloß dem Kapitalismus inhärent seien, wird die Gesellschaft noch nicht näher an den Sozialismus führen. Die Revolutionäre erwarten vielfältige Aufgaben und schwierige Entscheidungen.

Trotzki schrieb: „Der Sieg der proletarischen Revolution im Weltmaßstab ist das Endresultat vielfältiger Bewegungen, Kampagnen und Kämpfe und keineswegs eine feststehende Voraussetzung für die automatische Lösung aller Fragen. Ein direktes und unerschrockenes Aufgreifen der ukrainischen Frage, unter Berücksichtigung der konkreten Umstände, erleichtert den Zusammenschluss der kleinbürgerlichen und bäuerlichen Massen mit dem Proletariat. So hat es sich in Russland 1917 abgespielt.“

Er fürchtete, dass reaktionäre Kräfte in der Ukraine an die Macht kämen und sich die Ukraine nicht nur von der Sowjetunion abspalten, sondern in den imperialistischen Block eintreten könnte. Von einem revolutionären Politiker erwartete Trotzki, dass er den Willen des ukrainischen Volkes nach einer radikalen Änderungen der Verhältnisse ernst nimmt: „Der Sektierer begnügt sich mit logischen Schlussfolgerungen aus der Annahme einer siegreichen Revolution, während für den Revolutionär die Frage darin besteht, wie der Revolution der Weg geebnet wird, wie sie den Massen nahegebracht werden kann, wie man sich der Revolution annähert, wie ihr Sieg sicherzustellen ist.“ Daher ist die genaue Beurteilung der nationalen Frage für die revolutionäre Politik von großer Bedeutung.

Trotzki verwies auf den kombinierten Charakter der russischen Revolution. „Das Recht der Nationen auf Selbstbestimmung ist natürlich ein demokratisches und kein sozialistisches Prinzip. Da jedoch die Prinzipien wahrer Demokratie in unserer Epoche nur vom revolutionären Proletariat unterstützt und verwirklicht werden, sind sie mit den sozialistischen Aufgaben eng verknüpft. Der entschiedene Kampf der bolschewistischen Partei für das Recht der unterdrückten Nationen Russlands auf Selbstbestimmung hat dem Proletariat die Machteroberung außerordentlich erleichtert. Der proletarische Umsturz löste auch die demokratischen Aufgaben, vor allem das Agrarproblem und die Nationalitätenfrage, wodurch die russische Revolution einen kombinierten Charakter erhielt. Das Proletariat hatte sich bereits sozialistische Aufgaben gestellt, doch es konnte auch die Bauernschaft und die unterdrückten Nationalitäten (in ihrer Mehrheit Bauern), die noch mit der Lösung ihrer demokratischen Aufgaben beschäftigt waren, nicht sofort auf dieses Niveau heben. Das erklärt die historisch unvermeidbaren Kompromisse in der Agrar- und in der Nationalitätenfrage.“

Der Kompromiss in der Agrarpolitik war die Aufteilung des Bodens unter den Bauern, die sich gegen die kollektive Bewirtschaftung des Bodens aussprach. Eine Forderung, die eigentlich ein Programmpunkt der sozialrevolutionären Partei war. Bei der Nationalitätenpolitik war der föderative Aufbau der Sowjetrepublik ein Kompromiss, weil den Bedürfnissen der Planwirtschaft nach einer zentralistischen Organisation die Bedürfnisse der unterdrückten Nationen entgegen standen.

5.2          Der Krieg gegen Polen von 1920

Ein anderes Beispiel für eine verfehlte Nationalitätenpolitik zeigt sich auch an der Politik der bolschewistischen Partei gegenüber Polen. Ähnlich wie in der Ukraine war auch das polnische Proletariat stark und kämpfte an der Seite der Revolution. In der Ukraine erwies sich die Unterdrückung durch die Bürokratie als konterrevolutionär. Es entwickelte sich eine antirussische Haltung, da die Politik der stalinistischen Bürokratie gänzlich dem sozialistischen Prinzip der Gleichheit und Freiheit der Nationen und der Abschaffung der Unterdrückung entgegengesetzt war.

Eine ähnliche Missachtung des Willens der breiten Massen und eine falsche Einschätzung der Lage hatte auch in Polen negative Auswirkungen. Im Frühjahr 1920 drangen Truppen des bürgerlichen Polens in die Ukraine ein und lösten eine enorme Welle von Chauvinismus in Russland aus. Für viele Russen war es ein Krieg gegen den Erzfeind Polen, mit dessen neuer staatlicher Unabhängigkeit sich viele nicht abfinden wollten. Die orthodoxe Kirche betrachtete den Krieg als Kampf gegen den römischen Katholizismus und vereinte sich mit den „gottlosen Kommunisten“. Diese unheilige Allianz zeugt davon, dass dieser Krieg nicht nur das Element des Krieges gegen die Konterrevolution hatte.

Es war beinahe tragisch, dass gerade Lenin es war, der diesen Krieg befürwortet hatte, der unweigerlich im Aufstieg des polnischen Nationalismus enden musste. Nicht nur die Ukrainer, sondern auch die Polen prangerten den alten noch immer vorhandenen russischen Großmachtchauvinismus an. Das Wecken nationaler Gefühle in Polen hatte die fatale Auswirkung, dass sich das polnische Nationalbewusstsein dauerhaft mit dem Antikommunismus verbunden hatte. Der Krieg gegen Polen und die folgende Abneigung gegenüber Russland ließ den Katholizismus wieder erstarken. In ihm war die Opposition gegen Russland gleich mehrfach vorhanden: Die Ausübung des katholischen Glaubens war eine oppositionelle Haltung gegenüber dem ehemals orthodoxen Russland und gegenüber den atheistischen Sozialisten. Der Katholizismus vermischte sich somit mit einer antikommunistischen Haltung und bildete den Kern des polnischen Nationalbewusstseins, das gerade in der Phase nach dem ersten Weltkrieg durch die neue Unabhängigkeit sich festigte. Der Krieg gegen ein neu entstandenes Polen, das im Begriff war, ein einheitliches Nationalbewusstsein zu entwickeln, konnte nur negative, jedoch zu spät erkannte Auswirkungen haben.

6.         Die Entstehung der Sowjetunion und die Diskussion um die nationale Frage

6.1          Die nationale Frage am X. Parteitag der KPR 1921

Die Thesen, die am X. Parteitag angenommen wurden, beinhalteten einerseits die Auffassung, dass die bürgerliche Gesellschaft nicht in der Lage sei, die nationale Frage zu lösen. Andererseits herrschte die Überzeugung, dass die nationale Frage nur im Rahmen des Sozialismus gelöste werden konnte. Diese beiden Punkte brachten theoretisch nichts Neues. Betreffend des Selbstbestimmungsrechts der Völker und der Organisation der Föderation war in den Thesen zu lesen:

„Deshalb ist das isolierte Bestehen einzelner Sowjetrepubliken angesichts der Gefährdung ihrer Existenz durch die kapitalistischen Staaten labil, unsicher. Die gemeinsamen Interessen der Verteidigung der Sowjetunion einerseits, die Aufgabe der Wiederherstellung der durch den Krieg zerstörten Produktivkräfte andererseits sowie drittens die notwendige Unterstützung der getreidearmen Sowjetrepubliken mit Lebensmitteln durch die getreidereichen Sowjetrepubliken diktieren gebieterisch ein staatliches Bündnis der einzelnen Sowjetrepubliken als einzigen Weg der Rettung vor imperialistischer Knechtung und nationaler Unterdrückung. Befreit von ihrer eigenen und der fremden Bourgeoisie können die nationalen Sowjetrepubliken ihre Existenz nur dann behaupten und die vereinigten Kräfte des Imperialismus nur dann besiegen, wenn sie sich zu einem festgefügten Staatsverband vereinigen – oder sie werden überhaupt nicht siegen.“

Die Föderation der Sowjetrepubliken stützte sich vor allem auf die Militärpolitik und die Wirtschaft. Da auch Lenin an der Ausarbeitung der Thesen beteiligt war, konnte sich Stalin erst später mit seinem „Autonomisierungsplan“ durchsetzen. Im Text wurde der mehrstufige Aufbau der Sowjet-Föderation begründet:

„Die Erfahrungen, die Russland mit der Anwendung verschiedener Arten der Föderation gemacht hat – Übergang von der auf Sowjetautonomie begründeten Föderation (Kirgisien, Baschkirien etc.) zu der auf Vertragsbeziehungen mit unabhängigen Sowjetrepubliken begründeten Föderation (die Ukraine, Aserbaidschan) und Zulassung von Zwischenstufen zwischen ihnen (Turkestan, Belorussland), hat die ganze Zweckdienlichkeit und Elastizität der Föderation als der allgemeinen Form des Staatsverbandes Sowjetrepubliken vollauf bestätigt.“

Die Thesen dieses X. Parteitages machten deutlich, dass die Partei versuchte, die unterentwickelten Gebiete mit Hilfe der entwickelten Gebiete im Rahmen der föderativen Organisation zu fördern. Die kulturelle, sozialökonomische und politische Rückständigkeit sollte vor allem mit Hilfe von Russland überwunden werden, um das Entwicklungsniveau von Zentralrussland zu erreichen. Die bürgerlich-demokratische Losung der formalen juristischen Gleichheit wurde somit durch das Ziel der faktischen Gleichheit ergänzt.

Die realen wirtschaftlichen Schwierigkeiten in dieser Periode drängten die Thematik der nationalen Frage allerdings etwas zurück, auch wenn die nationalen Besonderheiten der ehemals unterdrückten Nationalitäten berücksichtigen wurden.

6.2          Die Gründung der UDSSR

Während der Phase der Vertragsföderation wurden unter Wahrung der Souveränität der Sowjetrepubliken bereits wichtige Grundlagen zur Schaffung des Bundesstaates gelegt:

a)                   alle nationalen Sowjetrepubliken hatten gemeinsame Prinzipien in der Innen- und Aussenpolitik;

b)                  es entstand allmählich eine einheitliche Gesetzgebung auf der Grundlage von Sowjetrussland;

c)                   die Rechte der Werktätigen waren dieselben, und faktisch waren alle gemeinsame Staatsbürger;

d)                  es entwickelten sich einheitliche Macht- und Verwaltungsorgane.

Im Auftrag des Politbüros des Zentralkomitees der russischen KP arbeitete Stalin die Thesen für die Zusammenarbeit der Sowjetrepubliken aus. Stalin sah darin die Rechte der Staaten nach autonomen Republiken vor, in der die militärischen und wirtschaftlichen Angelegenheiten und die äusseren Beziehungen (Auswärtige Angelegenheiten, Außenhandel) zu einem ganzen verschmelzen. Dieser Resolutionsentwurf, als „Autonomisierungsplan“ bekannt, war eine bürokratische Maßnahme zur Sicherung der Macht und ein Schritt auf dem Weg zur Stalinisierung. Stalin behauptete, dass Lenin diesen Entwurf gutgeheißen hätte, aber aufgrund der zahlreichen gegensätzlichen Argumentationen von Lenin ist das kaum wahrscheinlich. Die Sowjetrepubliken äußerten sich natürlich gegen diesen Plan Stalins, die wichtigen Entscheidungen von einer zentralen Macht (der stalinistischen Bürokratie) fällen zu lassen. Die Sowjetrepubliken hätten nur noch in der Innenpolitik ihre eigene Entscheidungsfreiheit wahrnehmen können.

In Punkt 5 der Resolution hieß es, dass der Beschluss im Falle der Befürwortung durch die russische KP nicht veröffentlicht wird, sondern als Zirkulardirektive den nationalen Zentralkomitees übergeben werden solle, damit der Plan über die Zentralkomitees bzw. die Sowjetkongresse auf Sowjetebene realisiert werden könne. Damit wollte Stalin eine Diskussion verhindern, um nicht zu verdeutlichen, dass die Sowjetrepubliken dagegen waren.

Lenin war bereits sehr krank. Er schlug zwar verschiedene Änderungen vor, aber er konnte nicht mehr an den Sitzungen im Plenum teilnehmen. Zwar passte Stalin den Text ein bisschen dem Sinne Lenins an und ersetzte den Begriff Föderation durch Union, aber de facto sicherten die Bestimmungen die großrussische Vorherrschaft. Lenin stand vor vollendeten Tatsachen.

Die Ausarbeitung der Dokumente wurde am 6. Oktober 1922 einer Kommission unter dem Vorsitz von Josef Stalin übertragen. Lenin konnten in den Monaten November und Dezember aus Krankheitsgründen nicht an der Ausarbeitung der Entwürfe mitarbeiten. Er war über die Entwicklung sehr beunruhigt und schrieb: “Es scheint, ich habe mich vor den Arbeitern Russlands sehr schuldig gemacht, weil ich mich nicht mit genügender Energie und Schärfe in die ominöse Frage der Autonomisierung eingemischt habe, die offiziell, glaube ich, als Frage der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken bezeichnet wird.“

Die Übertragung der Macht auf die stalinistische Bürokratie wurde von Lenin erkannt. Die Interessen der Nichtrussen waren kaum berücksichtigt, Lenin forderte Rücksichtnahme und Nachgiebigkeit mit den ehemals unterdrückten Nationen, um ihr gerechtfertigtes Misstrauen abzubauen. Dabei sprach er auch den Fall Georgien an und kritisierte direkt den Georgier Stalin: „Ein Georgier, der sich geringschätzig zu dieser Seite der Sache verhält, der leichtfertig mit Beschuldigungen des ‚Sozialnationalismus’ um sich wirft (während er selbst ein wahrer und echter Sozialnationalist, ja mehr noch, ein brutaler grossrussischer Dershimorda ist), ein solcher Georgier verletzt im Grunde genommen die Interessen der proletarischen Klassensolidarität.“

Die Aufzeichnungen „Zur Frage der Nationalitäten oder der Autonomisierung“ waren Lenins letzte Äußerungen zur nationalen Frage. Das Politbüro des ZK der KPR forderte Stalin im Februar 1923 auf, aus seinem Thesenentwurf einige Aussagen über den Großmachtchauvinismus und den lokalen Nationalismus, die den bolschewistischen Grundauffassungen widersprachen, zu entfernen.

Im Zusammenhang mit den Thesen kam es vor und während dem XII. Parteitag der KPR zu teilweise sehr kontroversen Diskussionen. Verschiedene Diskussionsteilnehmer verwiesen darauf, dass sich zwischen dem nationalen Programm der KPR und der praktischen Nationalitätenpolitik eine Kluft auftue und die nationale Frage noch nicht gelöst sei.

An diesem XII. Parteitag konnte Lenin nicht mehr teilnehmen und seinen Einfluss geltend machen. Auf der ersten Tagung des ZK der UdSSR am 30. Dezember 1923 wurde ein Präsidium gewählt, in dem Russland dominant war. Die Stalinisierung wurde erfolgreich durchgesetzt, und Trotzkis Kampf richtete sich von nun an gegen die bürokratische Degenerierung. Er verwies immer wieder auf die Wichtigkeit der nationalen Frage und schrieb noch kurz vor seinem Tod: „Insofern die sozialistische Revolution die Selbstbefreiung des Proletariats im Bündnis mit allen anderen ausgebeuteten und unterdrückten gesellschaftlichen Schichten ist, ist sie eng mit der demokratischen Selbstbestimmung der Nation verbunden. Ein Volk, dem der Sozialismus von außen gegen seinen Willen aufgezwungen wird, kann nichts anderes als eine Karikatur des Sozialismus darstellen, die unvermeidlich zur bürokratischen Entartung führt.“