Albanien ist seit den Unruhen des Jahres 1997 nicht oft in den Schlagzeilen der Weltpresse und wenn, dann gibt es meist wenig Erbauliches zu sehen oder zu hören: Etwa dass Privatkliniken in Fier, Durrës oder Vlora in den internationalen Organhandel eingebunden sein sollen, dass Ende Januar wieder einmal ein Boot mit mindestens 40 Flüchtlingen am Weg nach Italien in Seenot geriet und 22 von ihnen dies mit dem Leben büßten, dass Anfang Februar wieder einmal ein Vater seine Tochter wegen verletzter Ehre umbrachte die 25jährige war zwei Tage nicht nach Hause gekommen… Nachrichten aus Albanien sind dann interessant, wenn sie das Bild eines rückständigen Landes, das tief in der Krise steckt, reproduzieren.
Bis zu einem gewissen Grad stimmt dieses Bild auch: Albanien ist seit dem Zerfall des stalinistischen Systems eine Schwachstelle im Hinterhof der Europäischen Union geblieben. Nach den Unruhen von 1997 war das Land von einer trügerischen Ruhe geprägt. Allerdings einer Ruhe, die auf einer sehr schwachen ökonomischen Basis aufbaute: Das Land ist seit der Implosion des Stalinismus weitgehend de-industrialisiert die nicht konkurrenzfähige Industrie brach zusammen, große Teile der Betriebe wurden „privatisiert“, indem alles irgendwie Verwertbare privat verwendet wurde.
Trotz der Nähe zur EU, zu Italien und Griechenland, ist der Aufbau einer Fertigungsindustrie in den Anfängen stecken geblieben die Gründe dafür sind vielfältig: Zum ersten ist die Rechtssicherheit in Albanien nach wie vor nicht gegeben: Am weltweiten Korruptionsindex liegt Albanien von weltweit 133 untersuchten Ländern auf 93. Platz nur knapp vor Serbien-Montenegro an vorletzter Stelle in Europa; Schmiergeld muss praktisch überall gezahlt werden: Von der Untersuchung im Spital bis zur Anmeldung eines Autos oder der Gründung einer Fabrik. All das macht ausländische Direktinvestitionen risikoreich und lässt die Ausbeutung der einheimischen Arbeitskraft letztendlich dann doch nicht so interessant erscheinen, wie die niedrigen Durchschnittslöhne von knapp 100 Euro (bei Preisen, die da nahezu alle Industrieprodukte und auch viele Lebensmittel importiert werden das Preisniveau in Deutschland teilweise sogar übertreffen) glauben ließen.
Ein weiterer Grund ist die unsichere Versorgungslage mit elektrischer Energie: Tägliche geplante Stromabschaltungen sind selbst in der Hauptstadt Tirana die Regel, dazu kommen noch Netzzusammenbrüche wegen Überlastung. Der Norden des Landes wird nach wie vor kaum mit Strom versorgt, in Shkodra sind tägliche Stromabschaltungen von 16 Stunden die Regel. Unter solchen Bedingungen wird selbst einfache industrielle Produktion enorm unsicher und (wegen notwendiger Zusatzinvestitionen für Generatoren, Stabilisatoren etc.) teuer, von den elenden Lebensverhältnissen der Masse der Bevölkerung gar nicht zu reden… Die generell völlig unterentwickelte Infrastruktur komplettiert die Situation: Das Verkehrsnetz ist rückständig, der Kapitaltransfer, für Kapitalisten ein entscheidendes Kriterium, soll erst 2010 liberalisiert werden; bargeldloser Zahlungsverkehr und Überweisungen sind zwar seit neuestem möglich, aber mit enormen Spesen belastet die albanische Ökonomie ist nach wie vor eine, die auf Cash-Zahlungen aufbaut.
Die Konsequenz ist eine strukturelle Wirtschaftskrise Albaniens (eine Scheinblüte erlebten in den letzten Jahren u.a. der Einzelhandel und die Bauwirtschaft jeder der kann, gibt sofort sein Geld aus: Das Zutrauen zu Banken ist enorm gering). Basis für die Strukturkrise ist ein nicht voll funktionierendes Steuersystem. Die Haupteinnahmen des Landes sind Zölle, gerade hier ist aber auch die Korruption weit verbreitet Kinder wollen in Albanien nicht Rennfahrer oder Pilot, sondern Zöllner werden! und das riesige Außenhandelsdefizit des Landes trägt sein übriges dazu bei: So standen im November 2003 Importen von 19 Milliarden Lek (ein Euro entspricht etwa 133 Lek) gerade einmal 4,7 Milliarden Lek an Exporteinnahmen gegenüber und die Schere öffnet sich immer weiter: Im November 2002 standen 18,3 Mrd. Lek (Importe) noch 5,1 Mrd. Lek (Exporte) gegenüber…
Nach wie vor basiert die albanische Ökonomie auf zwei Säulen: Erstens den Überweisungen albanischer Gastarbeiter nahezu jede albanische Familie hat legal oder illegal arbeitende Familienangehörige im Ausland. Etwas mehr als drei Millionen Einwohnern Albaniens dürften eine Million Emigrant/inn/en gegenüberstehen! Noch funktioniert wegen der engen Familienbande dieses System. Die privaten Geldzuflüsse aus dem Ausland übertreffen die Erlöse aller legalen albanischen Exporte um das Fünffache!
Die zweite Säule sind die Auslandshilfen, die Albanien von der Europäischen Union, den USA, der Weltbank etc. gewährt werden. Umgelegt auf die Bevölkerung, ist Albanien der relativ größte Nettoempfänger an Hilfsleistungen weltweit! Das ist natürlich keine Sache der selbstlosen Großzügigkeit von allen albanischen Regierungen werden zwei Dinge erwartet: Stabilität und eine Bekämpfung des Drogenhandels. Konsequenz: Albanien hat sich so nach 1990/1991 als eine nicht von selbst lebensfähige Ökonomie erwiesen. Der Staat Albanien ist ebenso wie die Familien von Überweisungen und Hilfen aus dem Ausland existenziell abhängig. Gleichzeitig aber hat sich in den letzten Jahren eine schmale, aber zahlungskräftige Mittelschicht herausgebildet: in Albanien sind Hunderte Hilfsorganisationen tätig, die Übersetzer benötigen; 30.000 Ausländer leben vorwiegend im Großraum Tirana/ Durrës Mieten haben durchaus europäischen Standard…
Und natürlich finden wir auch in Albanien auf den Straßen die Luxuslimousinen, aus denen junge kurzgeschorene Männer mit Handys und Sonnenbrillen steigen, Diskotheken, die allein an Eintrittsgeld einen halben Monatsdurchschnittsverdienst eines Pensionisten verlangen…
Eine doppelte Schere öffnet sich immer weiter: Die sozialen Differenzen nehmen zu der schmalen Mittelschicht stehen die Arbeitslosen und Unterbeschäftigten gegenüber und vor allem die, die keine Familienangehörigen im Ausland haben, über keine connections zu internationalen Organisationen verfügen oder am Land bzw. in den wuchernden Slums rund um Tirana leben (die Bevölkerung der Hauptstadt hat sich in den letzten zehn Jahren auf derzeit etwa 700.000 mindestens verdreifacht).
Auch die zweite Schere birgt sozialen Sprengstoff in sich: Der Abstand des Zentralraums zu den Landgebieten vor allem im Norden nimmt immer krassere Ausmaße an. Die Rückständigkeit des Nordens ist zum Teil Erbe einer Jahrhunderte langen Geschichte: Die (katholischen) Stämme der nördlichen Berggebiete hatten es in den 500 Jahren der osmanischen Herrschaft verstanden, ihre Autonomie zu bewahren, blieben aber dafür auch ökonomisch bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts auf einer teils noch vorkapitalistischen großfamiliären Basis stehen, in der Clanverbindungen und die Blutrache das Leben bestimmten: In einigen Gebieten des Nordens starben um 1900 noch fast die Hälfte aller männlichen Bewohner nicht eines natürlichen Todes.
Gerade in den letzten sechs Jahren war die Unterentwicklung des Nordens aber auch Ergebnis einer Klientel-Politik der regierenden Sozialistischen Partei. Trotz ihres Namen ist die albanische SP keine reformistische Arbeiter/innen/partei, sondern eben eine Klientelpartei. Der politischen Zweiteilung Albaniens entspricht auch grob gesagt eine geografische: Die bürgerlich-reaktionäre Demokratische Partei um Sali Berisha hat ihre Basen im Norden, die Sozialistische Partei um Fatos Nano im Süden. Die letzten Kommunalwahlen vom Herbst 2003 haben diese Trennung zwar mit einer landesweiten Niederlage der SP relativiert, aber im Grundsätzlichen ist sie nach wie vor aufrecht. Politische Zugehörigkeiten sind in Albanien nach wie vor auch Ergebnis von Familienbanden und Klientelsystemen. Das war nicht anders unter Enver Hoxha, als große Teile des Politbüros und des Zentralkomitees von wenigen Großfamilien bestimmt waren! Im Zentralkomitee von 1962 waren von 61 Mitgliedern 5 verheiratete Paare, 20 weitere waren eng miteinander politisch verwandt. Vom Clan um Hoxha wurden u.a. die Vorfeldorganisationen kontrolliert, die Klientel des Anfang der 1980er Jahre zum Selbstmord gezwungenen Mehmet Shehu gruppierte sich um verschiedene Ministerien und in der Armee…
Generell sind die politischen Unterschiede zwischen den großen politischen Lagern klein: Beide großen Parteien stehen für eine Integration in die Europäische Union, beide großen politischen Lager stehen in ihrer Propaganda für eine NATO-Integration, für einen Aufschwung der Wirtschaft, die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und des Analphabetismus (der zur Zeit auch unter Jugendlichen wieder zunimmt), für eine Bekämpfung der Korruption und der Zurückdrängung der Schattenwirtschaft. Und beide Lager haben in der Vergangenheit bereits bewiesen, dass zwischen Propaganda und Praxis ein großer Graben bestehen kann: Unter Berisha schrammte das Land 1997 hart an einem verallgemeinerten Bürgerkrieg vorbei, unter Berisha kollabierten die Pyramidenbanken, unter Berisha floss das Geld dieser Banken, in das die Ersparnisse von Hunderttausenden eingegangen waren, in undurchsichtige Kanäle. Glaubt man Berisha, ist unter Nano nun die Korruption alltäglich, wird das Land von einer geldgierigen Clique gewissenloser Betrüger in den Abgrund getrieben.
In solch einer Situation sind politische Gefolgschaften nicht stabil: Der Zerfall der beiden großen politischen Lager verstärkt sich seit etwa eineinhalb Jahren. Von Juli bis Dezember 2003 hatte die Regierung keinen Außenminister gefunden, das neue Kabinett Nano wird nicht stabiler sein als das letzte. Aber nicht nur Nano standen beim letzten Parteitag zwei offene Gegenkandidaten gegenüber, auch den Demokraten Sali Berishas stehen nun liberal-demokratische Neue Demokraten, Reformierte Demokraten gegenüber.
Das ist der Hintergrund, auf dem die jüngste Protestwelle aufgeflammt ist. Seit einiger Zeit ist eine Aufbruchstimmung in Albanien zu bemerken. Es begann zentriert um den Tod der Bootsflüchtlinge im Januar, während Nano gleichzeitig seinen Österreich-, dann Türkei-Urlaub nicht abbrach eine bürgerlich-demokratische Protestbewegung. Das 2002 gegründete Mjaft (Genug) war zwar nicht stark genug, um zu verhindern, dass Berisha die Proteste zugunsten seiner Demokraten immer stärker dominierte, aber sie war ein Indiz dafür, dass von immer weiteren Teilen der Bevölkerung die derzeitige Misere nicht mehr hingenommen wurde.
Dabei sind die Forderungen durchaus nachzuvollziehen: In Laç, einer kleinen verarmten Industriestadt (mit einer von China erbauten und nun größtenteils stillgelegten chemischen Fabrik), protestierte die Bevölkerung, nachdem selbst das Krankenhaus mitten im Winter zwei Wochen ohne Stromversorgung (!) geblieben war. Die Regierung Nano steckt in der Krise. Das nutzt die Opposition. Sie geht in die Offensive und fordern Nano ik! (Nano geh!). Und sie rief zu einer Kundgebung gegen die angekündigte Erhöhung von Wasser-, Strom- und Telefon-Preisen. Ganz allgemein wurden von den Demokraten drei populäre Forderungen in den Mittelpunkt gestellt: Arbeit, Elektrizität und Brot (der Brotpreis wurde vor Kurzem um etwa ein Drittel erhöht). Bei einer Demonstration der Opposition mit etwa 10.000 Teilnehmer/innen kam es nun am Samstag, 7. Februar 2004, zu gewaltsamen Auseinandersetzungen. Polizei und Nationalgarde mussten den Sturm des Sitzes des Ministerpräsidenten verhindern. Mehrere Tausend Leute waren in Tiranas Zentrum zusammengekommen und hatten den Rücktritt von Fatos Nano gefordert. „Ansonsten droht ihm dasselbe Schicksal wie dem ehemaligen georgischen Präsidenten Eduard Schewardnadse“, kündigte Sali Berisha, Chef der Demokratischen Partei, an.
Eine kleine Gruppe von Demonstranten spaltete sich ab und versuchte, den Regierungssitz mit den Büroräumlichkeiten des Ministerpräsidenten zu stürmen. Die Polizei gab Warnschüsse ab, um die Demonstranten zurückzuweisen. Seither werden die Regierungs- und Parlamentsgebäude in Tirana scharf von Polizei und Nationalgarde bewacht: Ex-Präsident Berisha kündigte weitere Proteste an, die nächste Großkundgebung soll am 20. Februar stattfinden.
Trotz der steigenden Frustration und der zunehmenden Erbitterung erscheint uns aber aus mehreren Gründen ein Szenario wie in Georgien oder eine Wiederholung der Bürgerkriegssituation wie 1997 wenig wahrscheinlich: Weder die USA noch die Europäische Union geben derzeit Grünes Licht für eine generelle Verschärfung der innenpolitischen Lage. Sowohl den USA als auch der EU geht es momentan in Albanien um eine einzige Sache: Aufrechterhaltung der Ruhe im Inneren, ganz gleich wer diese garantiert. Der Vertreter der EU in Albanien, Salzmann, hat auch sofort davor gewarnt, dass die Proteste nicht auf der Straße, sondern dort ausgetragen werden sollen, wo sie hingehören in die Ränge des Parlaments. Vor dem Hintergrund der weitgehenden Abhängigkeit Albaniens von den USA und der EU ist ein Alleingang einer wichtigen politischen Kraft also ziemlich unwahrscheinlich.
Ein Angstszenario beunruhigt die EU und die USA und führt dazu, dass trotz der trügerischen Ruhe im Lande die Anwesenheit italienischer Truppeneinheiten und OSZE-Beobachter nicht beendet wird: Ein wie 1997 außer Kontrolle einer Zentralregierung geratendes Albanien könnte zum Auslöser für eine Destabilisierung des südlichen Balkan werden. Die Situation in Kosova/Kosovo ist längst nicht geklärt, die ethnischen Spannungen in Mazedonien können vor dem Hintergrund von Rekordarbeitslosigkeit und dem weit verbreiteten Fehlen von Perspektiven wieder eskalieren, die Zukunft von Bosnien-Herzegowina und Serbien-Montenegro ist alles andere als gesichert. Albanien, im Chaos versinkend, von dort ausgehend eine sich verbreitende Destabilisierung dieses Szenario muss mit allen Umständen verhindert werden! Das ist der Grund, warum EU und USA auf Albanien ein besonders wachsames Auge haben.
Die einzige Möglichkeit, die Albanien außenpolitisch in den letzten Jahren offen stand, war das Lavieren zwischen den USA und der EU. Dies wurde etwa deutlich, als sich die Regierung Nano beim Überfall auf den Irak sehr deutlich zugunsten der USA positionierte und von dort großzügigere Unterstützung erwartete die „kriegskritischen“ EU-Staaten verwiesen dezent auf ihre Unterstützung für Albanien.
Ein solches Lavieren ist aber derzeit nicht möglich. Die USA und die EU haben dasselbe strategische Ziel unter allen Umständen die Ruhe im Lande aufrecht zu erhalten ganz gleich, wer „oben sitzt“. Weder die USA noch die EU setzen also eindeutig weder auf eine friedliche noch eine gewaltsame Ablösung von Nano. Sicher lässt der US-Botschafter immer wieder aufhorchen, wenn er besorgt die Verstrickung der Regierung mit dem Organisierten Verbrechen betont, aber das war und ist keine Aufforderung zum Sturz von Nano, schon gar nicht durch Berishas Demokraten. Und die „albanischen Djindjics“, die als Garanten eines stabilen modernen Kapitalismus aufgebaut werden könnten, wie etwa der Reformdemokrat Genc Pollo, sind zu schwach und haben keine stabile Basis in Albanien.
Was die EU betrifft, ist ebenfalls keine Änderung der grundlegenden Herangehensweise in Sicht: Nanos Sozialisten sind Vollmitglied der Sozialistischen Internationale, gleichzeitig gibt es ein bekannt gutes und enges Verhältnis zu Italiens Berlusconi. Italien arbeitet außerdem gegen die Organisierte Kriminalität mit der Regierung hier eng zusammen, z.B. gemeinsame Patrouillen am Meer etc.
Klar ist aber, dass Berisha momentan auf Konfrontation geht und auch bereit ist, eine (partielle) Radikalisierung des Klimas zuzulassen. Die Reaktion aller irgendwie relevanten politischen Kräfte auf die Auseinandersetzungen vom Samstag Berisha eingeschlossen waren aber eindeutig: Gewalt dürfe keine Basis in Albanien haben (Berisha), niemand habe ein Interesse an einer Eskalation des politischen Klimas, hinter denen, die den Sturm auf den Sitz des Premiers versucht hatten, stünde Nanos Geheimpolizei, die die Proteste diskreditieren wolle.
Ebenso klar ist, dass Berisha, der mit seinem feinen Sensorium für die Massenstimmung den zunehmenden Unmut spürt, mit einer weiteren Radikalisierung nicht auf die EU rechnen kann. Momentan scheint, dass sich Berishas Demokraten in einer strategischen Zwickmühle befinden: Parlamentarisch ist Nano nicht auszuhebeln, und den Druck der Straße goutieren EU und USA gar nicht. Solange also Nano international nicht isoliert werden kann, sind die Chancen auf eine Änderung der internationalen Haltung eher gering. Nochmals: Weder die EU noch die USA haben prinzipiell etwas gegen Berisha einzuwenden, genauso wenig wie sie prinzipiell etwas gegen Nanos Sozialisten haben die oberste Priorität ist und bleibt die Stabilität des Landes. Aber könnte der Massenprotest nicht Berishas Demokraten entgleiten? Könnte sich die Bewegung nicht radikalisieren und die Vormundschaft der Demokraten abschütteln? Könnte sie nicht eine neue politische Kraft an die Oberfläche bringen? Wir sind auch hier skeptisch. Denn eine linke, systemkritische Alternative ist meilenweit nicht in Sicht. Zwar existieren noch Reste der Hoscha-Stalinist/inn/en der Partei der Arbeit Albaniens, aber ihr Anhang ist mehr als bescheiden, und sie konnten sich auch in der letzten Protestwelle nicht entscheidend positionieren. Ansonsten existiert in Albanien de facto keine Linke, und selbst eine organisierte Arbeiter/innen/bewegung gibt es in Albanien nur rudimentär. Von Gewerkschaften im westeuropäischen Sinn kein nicht die Rede sein. Und auch die Rechte außerhalb der Demokraten ist schwach und zersplittert. Der Balli Kombëtar (Nationale Front), die königstreue Legalität und all die anderen rechten Gruppierungen agieren sehr vorsichtig sie unterstützten zwar halbherzig die Proteste, wollten aber durch eine klare Verurteilung der Gewalt der Straße nicht ihre Einbindung in das politische System gefährden.
Hier wäre noch ein Wort angebracht zur Frage des albanischen Nationalismus: Dieser spielt zur Zeit keine politische Rolle er ist zwar unterschwellig vorhanden und knüpft damit durchaus an die stalinistische Zeit mit ihrer Betonung der albanischen Kulturnation an, aber es gibt keine relevante politische Formation, der es gelungen wäre, das Thema einer Vereinigung der albanischen Siedlungsgebiete in Mazedonien, in Kosova und Montenegro wirklich zu popularisieren.
Am wahrscheinlichsten ist ein Zurückführen der Protestbewegung in eine Unterstützung der parlamentarischen Opposition und die demokratische Hoffnung auf eine weitere Erosion des SP-Lagers, bzw. die Hoffnung auf einen Bruch der Nano-Opponenten Ilir Meta oder des populären Bürgermeisters von Tirana, Edi Rama mit dem SP-„Übervater“, genauso wie Nano auf einen weiteren Zerfall des Berisha-Lagers baut.
Diese Rückführung auf einen parlamentarischen Weg wird sich aber immer wieder mit einem Aufflackern von lokalen Protesten, die durchaus auch gewalttätig ablaufen können, kombinieren. Die albanische Gesellschaft wird sich nicht nur weiter destabilisieren, sie wird auch ihre innere Zerbrechlichkeit in der nächsten Periode nicht überwinden. Das Land bleibt fragil, die Situation instabil, einige Gebiete vor allem im Norden (in Tropoja um Bajram Curri) werden immer noch eher von mächtigen Clans als von der Zentralregierung kontrolliert.
Was eindeutig fehlt, ist eine politische Kraft, zu denen die Massen wirklich Vertrauen fassen können. Sowohl Nano als auch Berisha werden in breiten Schichten zutiefst misstrauisch gesehen nach 10 Jahren richtungsloser politischer Kämpfe um Pfründe und Einflussbereiche hat sich für viele Politik darauf reduziert, dass in möglichst kurzer Zeit möglichst viel Geld auf die Seite geschafft werden kann. Das ist auch der Grund, warum trotz großer Unzufriedenheit alle Ansätze zu ihrer großflächigen politischen Wendung gescheitert sind. Nano und Berisha sind in den Augen eines Großteils der Albaner die Personifizierung des korrupten, alten Albanien. Der Schritt von der Desillusionierung zur Politisierung ist bis dato nicht gelungen im Gegenteil: Ein immer größerer Teil der Albaner/innen will von Politik generell nichts mehr wissen.
Die bürgerliche politische Kaste, sowohl die SP als auch die Demokraten, haben in den letzten 10 Jahren große Teile ihres politischen Kredits verspielt. Welchen Charakter eine solche politische Alternative zu der derzeitigen politischen Szene haben könnte, ist derzeit nicht zu sagen. Ohne eine völlige Neugruppierung der albanischen politische Landschaft aber wird die derzeitige richtungslose Politik weitergeführt werden.