Während Medien, PolitikerInnen und KapitalistInnen ununterbrochen ihre unerträglichen Loblieder auf die angeblichen Vorteile der EU im allgemeinen, und der EU-Osterweiterung im speziellen, singen, revoltieren slowakische Roma gegen die verheerenden Auswirkungen dieser Entwicklung. Letzte Woche haben wütende Roma in der Ostslowakei Geschäfte geplündert und lieferten sich Straßenschlachten mit der Polizei.
Die Roma (und Sinti) sind eine über die halbe Welt verstreute Volksgruppe, die historisch aller Wahrscheinlichkeit nach aus dem nordwestlichen Indien stammt. Weltweit leben heute noch etwa zwölf Millionen Sinti und Roma. Die meisten von ihnen sind auf dem Balkan (insbesondere in Rumänien), in Mitteleuropa und in den Nachfolgestaaten der früheren Sowjetunion angesiedelt. Ein geringerer Teil lebt in Westeuropa, dem Nahen Osten, in Nordafrika und in Nord- bzw. Südamerika. Seit Jahrhunderten wurden die Roma, ähnlich den Juden/Jüdinnen, fast überall wo sie angesiedelt waren diskriminiert oder sogar verfolgt. Im 20. Jahrhundert erreichten die Verfolgungen einen Höhepunkt, als etwa 250.000 Sinti und Roma in den Konzentrationslagern der Nazis ermordet wurden. Die Diskriminierung dieser Volksgruppe hält bis heute an und macht sich bei weitem nicht nur durch die bei uns geläufige abfällige Bezeichnung "Zigeuner" bemerkbar.
Schätzungen zufolge leben in der Slowakei heute rund 420.000 Roma – sie machen also 8% der Bevölkerung aus. Die überwiegende Mehrheit von ihnen ist völlig verarmt. Die Infrastruktur ihrer abgeschotteten Siedlungen ist praktisch nicht existent, es gibt meistens kein Gas, kein fließendes Wasser und das Stromnetz bricht permanent zusammen. Die Kindersterblichkeitsrate der Roma ist dreimal so hoch wie die der Durchschnittsbevölkerung und ihre Lebenserwartung ist um sieben Jahre niedriger.
Auch auf politischer Ebene werden die Roma benachteiligt. In den staatlichen Schulen wird ihre Sprache (Romanes) nicht unterrichtet. Demzufolge landen drei Viertel der Roma in der Sonderschule, nur ein Drittel schafft den Volksschulabschluss. Die Diskriminierung macht sich auch auf dem Arbeitsmarkt bemerkbar, in der Regel bekommen die Roma aufgrund ihrer Herkunft keine Arbeit. Folglich liegt die Erwerbslosigkeit unter den Roma jenseits der 80%. (Insgesamt liegt sie in der Slowakei momentan bei 16,6%.)
Neoliberale Reformen
Aus diesem Grund sind Roma in der Regel auf die staatliche Sozialhilfe angewiesen. Diese wurde nun aber um die Hälfte gekürzt. Einzelpersonen erhalten jetzt nur mehr 35,7 Euro, Familien müssen mit knapp 100 Euro über die Runden kommen. Was in manchen bürgerlichen Medien aber verschwiegen wird, ist dass die Slowakei gleichzeitig die sogenannte Flat Tax eingeführt hat. Das bedeutet, dass alle SlowakInnen, egal wie wohlhabend sie sind, den selben Steuersatz von 19% zu bezahlen haben. Auch die Unternehmenssteuern wurden auf diese Quote herunter gesetzt. Nebenbei sei noch erwähnt, dass sich auch die FPÖ, selbsternannte Partei des "kleinen Mannes", in Wirklichkeit aber Partei des reaktionärsten Großkapitals, in der Vergangenheit wiederholt für diese asoziale Art der Besteuerung stark gemacht hat.
Die Slowakei ist also – 15 Jahre nach dem Ende des Stalinismus – zum neoliberalen Experimentierfeld mutiert. Ausländische InvestorInnen loben die Reformen des Sozialsystems in höchsten Tönen. Für die slowakische ArbeiterInnenklasse und erst recht für die noch viel schlechter gestellten Roma stellen sie allerdings eine Katastrophe dar. Die Aufstände und Plünderungen sind also absolut verständlich und gerechtfertigt.
Kein Wunder, dass die Proteste der Roma jetzt von der slowakischen Regierung als "kriminelle Handlungen" diffamiert werden, schließlich ist es ein alter Hut, dass die Herrschenden stets danach trachten, soziale Erhebungen zu kriminalisieren. Die wahren Kriminellen sitzen aber in Bratislava, Brüssel und in diversen Chefetagen in ganz Europa. Laut offizieller Version sollen die Aktionen von Wucherern – bei denen viele Roma Schulden haben – geschürt worden sein. Bürgerliche Zeitungen stoßen sich daran, dass bei den Plünderungen nicht nur Nahrungsmittel, sondern auch Alkohol und Zigaretten enteignet wurden. Als ob dies von Bedeutung wäre! Im Übrigen leiden viele Roma unter Alkoholproblemen, die sich mit ihrer katastrophalen sozialen Situation fast zwangsläufig ergeben. Auch ist es völlig gleichgültig, ob die Proteste spontan entstanden sind oder angestachelt wurden, denn das ändert absolut nichts an ihrem überwiegend fortschrittlichen Charakter. Staatsgewalt
Die slowakische Regierung reagiert unterdessen mit Gewalt. Innenminister Vladimir Palko und Verteidigungsminister Juraj Liska ließen Polizei und Militär aufmarschieren. U.a. wurden 1000 Soldaten eingesetzt, um den Aufstand niederzuwerfen, und das heiligste aller kapitalistischen Gesetze, nämlich das Recht auf Privateigentum zu beschützen. Nach kleineren Straßenschlachten wurden einige Roma festgenommen.
In Wahrheit gilt den revoltierenden Roma unsere Solidarität. Wie sollen sie sich anders wehren? Da sie kaum in den kapitalistischen Produktionsprozess eingebunden sind, können sie dies wohl schlecht durch Streiks tun. Im Fallen von Demonstrationen würden die geächteten Roma wohl kaum beachtet werden. Das slowakische Roma-Parlament hat nun mit Blockaden von Grenzstationen und Autobahnen in den Regionen Banska Bysrica, Preßburg und Kosice (Kaschau) gedroht. Dies wäre einerseits eine gute Möglichkeit, um sich Gehör zu verschaffen und andererseits auch um ökonomischen Einfluss auszuüben. Wir müssen uns vor Augen führen, was die Roma eigentlich fordern, denn dies ist wahrlich nichts Weltbewegendes. Sie verlangen die Rücknahme sämtlicher Kürzungen, die Freilassung aller im Zuge der Prosteste Inhaftierten, den Abzug von Polizei und Militär aus ihren Siedlungen und Arbeitsplätze. Letztlich besteht aber für die Roma in der Slowakei die einzige Möglichkeit darin, den Schulterschluss mit den fortschrittlichen Teilen Mehrheitsbevölkerung zu finden und gemeinsam gegen die sogenannten "Reformen " der slowakischen Regierung zu kämpfen.
From Protest to Resistance
Die keinbürgerlichen Sorgen, dass es Vorfälle wie diese in der EU eigentlich nicht geben dürfte, oder dass ein Land wie die Slowakei nichts in der Union verloren hätte, sind völlig fehl am Platz. Die Behandlung der Roma ist kein Unfall oder Fehler im kapitalistischen System, denn dieses System ist selbst der Fehler. Die Roma-Siedlungen, einige Autostunden von Wien entfernt, veranschaulichen nur, wie die Situation in den halbkolonialen Ländern der sogenannten "3. Welt" aussieht. Auch dort wären die meisten Menschen auf eine proletarische Existenz angewiesen, d.h. sie haben nichts zu verkaufen als ihre Arbeitskraft und müssen ihren Lebensunterhalt also durch Lohnarbeit verdienen. Der Großteil der Menschen in diesen Gebieten wird aber für den kapitalistischen Produktionsprozess schlicht und einfach nicht benötigt und (über)lebt dadurch bestenfalls durch Almosen.
Der Kapitalismus ist bereit, die Mehrheit der Weltbevölkerung in Armut zu halten. Im Gegensatz dazu sollen die Lohnabhängigen und Erwerbslosen in den kapitalistischen Zentren durch gewissen Sozialstandards "bei Laune gehalten werden", damit sie nicht anfangen, zu revoltieren. Aber auch hier zeigt sich bereits ein gewisses Umdenken. Denn in den letzten zwei Jahrzehnten ist auch ein Anstieg der Armut in Westeuropa zu verzeichnen. Aufstände wie jener der slowakischen Roma werden sich in Zukunft wiederholen. Und sie werden sich häufen. Die Aufgabe von Revolutionärinnen ist es, den Unmut der Menschen in Widerstand zu verwandeln. Die Roma-Proteste zeigen einmal mehr die Unmenschlichkeit dieses perversen Systems und die Notwendigkeit seiner Überwindung.