H.P. Martin und der Brüsseler Spesensumpf

8:48 Uhr: Ein Mann betritt das Europa-Parlament in Straßburg. In einem kleinen abgelegenen Zimmer trägt er sich in eine Liste ein, setzt seine Unterschrift darunter und verschwindet wieder. Um exakt 8:52 Uhr hat er das Gebäude bereits wieder verlassen. Mit 262 Euro mehr am Konto…

Der Unbekannte ist Martin Schulz, Abgeordneter der SPD zum Europaparlament. Er hat soeben das ihm zustehende Tagegeld kassiert, ohne jedoch an einer Sitzung teilgenommen zu haben. Und jene Person, die das Ganze mit versteckten Kameras aufgezeichnet hat, ist Hans Peter Martin, ebenfalls EU-Abgeordneter. Bereits seit Wochen stürzen sich die Massenmedien auf seine Enthüllungen, die zeigen, wie sich EU-PolitikerInnen ungeniert bereichern. Monatelang hatte Martin das "Brüsseler Spesenrittertum" mit Knopflochkameras, Mini-Mikrophonen und anderen Spionage-Utensilien umfassend dokumentiert. Nach seinem Ausschluss aus der SP-Fraktion tritt Martin jetzt mit einer eigenen Liste, die auf den Namen "Hans Peter Martin" hören soll, zu den kommenden EU-Wahlen an.

Und die Chancen stehen gar nicht schlecht für Martins Privatklub: Laut einer in der Zeitschrift "News" vom 6. Mai veröffentlichten Umfrage legt der selbst ernannte Aufdecker mit bemerkenswerten 15% einen Blitzstart hin. Etwa 5% bräuchte er, um ins EU-Parlament einzuziehen, ein Ziel welches momentan in greifbarer Nähe liegen dürfte. Nicht zuletzt deshalb, weil Martin von niemand geringerem als Hans Dichand und seiner Kronen Zeitung unterstützt wird. Leidenschaftlich und sehr ausführlich berichtet das auflagenstarke Blatt von HPMs Umtrieben. Kein Wunder, schreibt Martin doch auf seiner Homepage (www.hpmartin.net) im typischen Krone-Stil: "Kaum wurden über Medien und diese Internet-Seite erste Details öffentlich, machten die Sozialisten gegen mich mobil. Es kam zu haltlosen Anschuldigungen und anonymer Hetze. In der Fraktion wurden stalinistische Reflexe sichtbar."

"Stasi-Methoden"

Die erste Kritik an Martin ließ auch nicht lange auf sich warten. Und sie kommt aus allen Richtungen. Ursula Stenzel von der ÖVP ist sich nicht zu blöd, im Zusammenhang mit Martins Liste, von "sozialistischen totalitären Strukturen" zu sprechen. Die FPÖ wirft ihm Unehrlichkeit vor und Jörg Haider kündigt bereits eigene Enthüllungen an. Andere werfen ihm vor, es ginge ihm nur darum Aufmerksamkeit zu erregen, außerdem habe er selbst lange genug vom Brüsseler Spesen-System profitiert. Auch seine Ermittlungsmethoden wurden bereits des öfteren kritisiert.

Fakt ist: Martin selbst ist sicher kein "Saubermann". Bis heute weigert er sich, seine kompletten Fahrtkostenabrechnungen offen zu legen. Abgesehen davon, dass er ja tatsächlich schon mehrmals das kassiert hat, was er jetzt bei anderen kritisiert, prangert er nur die üppigen Spesenregelungen (1) in Brüssel und Straßburg an, nicht aber die hohen PolitikerInnengagen im Allgemeinen. Auf die 7500 Euro brutto pro Monat, die Martin bis jetzt für seine Tätigkeit als EU-Parlamentarier erhalten hat, wird er im Falle einer erfolgreichen Kandidatur wohl auch weiterhin nicht verzichten wollen.

Über die Strukturen seiner neuen BürgerInnenliste ist eigentlich nur zu sagen, dass es sich dabei um eine Privat-Partei zur Pflege von Martins Ego handelt. Er allein bestimmt zwei von drei Mitgliedern des Vorstands, welcher die grundsätzliche politische Ausrichtung definiert und über die Aufnahme von neuen Mitgliedern entscheidet.

Was Martins Spionage anbelangt: Die ÖVP nimmt sich wohl selbst nicht mehr ernst, wenn ausgerechnet sie ihm "Stasi-Methoden" vorwirft. Schließlich kündigte Innenminister Strasser erst vor kurzem einen massiven Ausbau der Überwachung von öffentlichen Plätzen an. (Nach jüngsten Schätzungen existieren bereits jetzt etwa 160.000 Überwachungskameras in Österreich.) "Fragwürdige Methoden" sind es scheinbar nur dann, wenn ein egozentrischer Hobby-Aufdecker Abgeordnete filmt, die sich an sitzungsfreien Tagen ihr Tagegeld sichern, und nicht, wenn die Bevölkerung im Namen des "Kampfes gegen den Terrorismus" ausspioniert wird oder FPÖ-PolitikerInnen auf die Daten von Polizeicomputern zurückgreifen (Stichwort: Spitzelaffäre).

Martin der Aufdecker

Nach seinem Jus-Studium begann Martin (immer gemeinsam mit Ko-Autoren) zu publizieren. In "Gesunde Geschäfte" machte er 1981 auf die Praktiken der Pharmakonzerne aufmerksam, mit "Bittere Pillen" veröffentlichte er einen kritischen Arzneimittelratgeber. Mit der "Globalisierungsfalle" landete Martin 1996 – gemeinsam mit Harald Schumann – einen Welterfolg. Sehr anschaulich beschreiben die zwei Autoren in diesem Buch die Auswirkungen der kapitalistischen Globalisierung und des Neoliberalismus. Ihre Lösungsvorschläge lassen jedoch zu wünschen übrig. Mehr als ein Zurück zum Protektionismus (2) oder eine Stärkung der europäischen Institutionen (!), vielleicht noch die Forderung nach einheitlichen europäischen Gewerkschaftsstrukturen, ist ihnen nicht zu entlocken. Um "die politische Macht der Akteure an den Finanzmärkten zu beschränken" fordern sie eine Umsatzsteuer auf den Devisenhandel.

Unbestreitbar tritt hier die alte und falsche Unterscheidung zwischen dem "bösen, raffenden" Finanzkapital und dem "guten, schaffenden" Kapital zu Tage. Diese Tendenz in Martins Anschauung setzt sich bis heute fort; anstatt das System als Ganzes in Frage zu stellen, wettert er ausschließlich gegen die "ungenierten Abkassierer[Innen]". Würden die EuropaparlamentarierInnen nur fleissiger und gleichzeitig billiger arbeiten, wäre alles besser.

Martin wird in der Öffentlichkeit dem "linken Lager" zugeordnet. Als "Quereinsteiger" zog er 1999 für die SPÖ ins EU-Parlament ein. Wäre Martin aber ein ehrlicher Sozialist, müsste er eine alte Losung der ArbeiterInnenbewegung fordern: FacharbeiterInnenlohn für VolksvertreterInnen! PolitikerInnen dürfen nicht mehr als einen durchschnittlichen FacharbeiterInnen-Stundenlohn verdienen, damit sie nicht vergessen, wen sie vertreten. In Österreich wird dieser Grundsatz z.B. vom Grazer KP-Stadtrat Ernst Kaltenegger eingehalten, der vor einiger Zeit mit dem beachtlichen 21%-Erfolg der KPÖ in Graz in allen Medien war.(3)

Hans Peter Martin hat es geschafft, sich in den Augen vieler Menschen als "Nicht-Politiker" zu präsentieren, der "denen da oben in Brüssel ordentlich einheizen" will, so wie es früher auch einem Jörg Haider in ähnlicher Weiser gelungen ist. Das Programm der Liste "Hans Peter Martin" ist bis jetzt noch sehr diffus. Abgesehen vom Feldzug gegen das "Spesenrittertum" will Martin "in Brüssel aufräumen" und sich ansonsten für "mehr Demokratie", für "echte BürgerInnenbeteiligung", für "Gerechtigkeit in der Globalisierung" und im "Kampf gegen Lobbys" engagieren.

Ausschlaggebend für den Großteil jener Menschen, die "HPM" wählen wollen, ist sicher der absolut berechtigte Unmut darüber, dass sich einerseits PolitikerInnen scheinbar endlos bedienen können, uns aber andererseits ständig erklärt wird, es sei kein Geld mehr für Sozialleistungen und Pensionen vorhanden. Ein weiterer Grund dürfte wahrscheinlich sein, dass die Auswahl bei den anstehenden EU-Wahlen einer Entscheidung zwischen Pest und Cholera gleichkommt. Während die FPÖ ihre Felle davonschwimmen sieht, und die ÖVP sich einbildet, ihren Sozialabbau den Menschen nur besser erklären zu müssen, träumt SP-Abgeordneter Hannes Swoboda von Kampf gegen den Neoliberalismus.

Mehr Mut nach oben!

In Zeiten der weltweiten kapitalistischen Krise verschwimmen die Unterschiede zwischen den Parteien zunehmend. Sozialdemokratische und andere "linke" Regierungen können, solange sie die Rahmenbedingungen des Kapitalismus nicht in Frage stellen, ja auch keine fundamental andere Politik machen als bürgerliche Parteien. Wer sich heutzutage der sogenannten Standortlogik und ähnlichen kapitalistischen "Sachzwängen" unterordnet, muss zwangsläufig Sozialabbau betreiben.

Berechtigterweise sehen viele Menschen keinen Unterschied mehr zwischen der Sozialdemokratie und bürgerlichen Parteien und suchen nach einer Alternative. Noch vor ein paar Jahren drückte sich dieser Protest sehr oft in der Stimmabgabe für rechtsextreme Parteien wie die FPÖ aus. Aber sobald diese Kräfte einmal in eine Regierung eintreten, entlarven sie sich selbst sehr schnell als Parteien des Kapitals, die sie nun einmal sind.

Als Alternative zu den etablierten Parteien sind auch BürgerInnenlisten sehr beliebt, welche den Anschein erwecken, neu, alternativ und frei von Parteipolitik und großen Lobbys zu sein. Die Grünen, die sich einst als solch eine Liste präsentieren konnten, sind heute längst zur bürgerlichen Partei mutiert, und koalieren in Oberösterreich mit der ÖVP.

"Das Interesse der Menschen für Politik muss wieder gestärkt werden" meinen viele JournalistInnen, "ExpertInnen" und PolitikerInnen angesichts der erwarteten niedrigen Wahlbeteiligung bei den kommenden EU-Wahlen. Dem schließen wir uns an. Und nicht nur das Interesse. Die Menschen können ihr Schicksal ruhig selbst in die Hand nehmen. Denn von all diesen Parteien und Listen vertritt ganz bestimmt niemand die Anliegen der ArbeiterInnen, der PensionistInnen, der Erwerbslosen und der Jugend. Da bringt uns auch der "große Leistungstest für EU-Politiker[Innen]", den Martin auf seiner Homepage veröffentlicht hat, nicht weiter. Schließlich ist es ziemlich egal, wie oft irgendwelche Abgeordnete bei diversen Ausschüssen in Brüssel oder Strassburg anwesend waren, denn sie vertreten dort ohnehin nicht unsere Interessen. Für diese müssen wir schon selber eintreten und gemeinsam eine revolutionär-sozialistische Alternative aufbauen!

Mehr Artikel über die EU und EU-Wahlen gibt es hier

Fußnoten:

(1) Das Brüsseler Spesensystem in Umrissen skizziert:

Tagegeld: Zusätzlich zu ihrem Grundeinkommen erhalten EU-Abgeordnete ein steuerfreies Tagegeld von 262 Euro pro Sitzungstag, sofern sie ihre Anwesenheit durch eine Unterschrift nachweisen können. Dieser Betrag ist für Verpflegung und Aufenthalt in Brüssel und Strassburg bestimmt. Außerdem erhalten die ParlamentarierInnen Taxigutscheine.
Reisekostenpauschale: Flugkosten nach Brüssel und Strassburg erhalten die Europaabgeordneten pauschal rückvergütet, selbst wenn sie Billigflüge buchen.
Kostenpauschale: Monatlich 3700 Euro sind für mandatsbedingte Kosten im Heimatland des/der jeweiligen Politikers/Politikerin bestimmt.
Sekretariatszulage: Bis zu 12576 Euro pro Monat können die EU-Parlamentarier als Kosten für MitarbeiterInnen veranschlagen. Welche Funktion diese tatsächlich haben wird nicht überprüft.
Zusatzrente: Rund 400 der 626 Abgeordneten nehmen ihre Zusatzrente in Anspruch. Pro Mandatsjahr macht diese einen monatlichen Betrag von 253 Euro aus.
(Quelle: News, Nr.15, 8. April 2004)

(2) Protektionismus: Wirtschaftspolitik eines Staates, welche die einheimische Industrie z.B. durch Einfuhrverbote oder -Beschränkungen und die Erhebung von Schutzzöllen auf sonst günstige Importprodukte zu schützen versucht.

(3) Der Umgang Kalteneggers mit seinem Politiker-Einkommen ändert aber nichts daran, dass die Grazer KP keine sozialistische Politik macht.