Das Ergebnis der Präsidentschaftswahlen vom 26. Dezember in der Ukraine birgt wenig Überraschendes für jene, die die Entwicklungen der letzten Monaten mitverfolgt haben, Viktor Juschtschenko ist neuer Präsident des osteuropäischen Landes.
Diese Wahl ist der Abschluss eines Prozesses, der vor allem von westlich bürgerlichen Medien als "demokratische Revolution" bezeichnet wird und im Zusammenhang mit der "Rosenrevolution" in Georgien (2003) genannt wird. Ein solcher Zusammenhang besteht durchaus, allerdings wäre es weit gefehlt, den Ausgang jener Bewegung als "Sieg der Strasse für die Demokratie" zu bezeichnen. Der Zusammenhang besteht vielmehr im Endprodukt einer westlichen, international aktiven Einflussnahme im Dienste einer neoliberalen Weltordnung. Das selbe gilt für die "Otpor"-Bewegung in Serbien (2000) und eben auch für die so genannte "friedliche Revolution" in der Ukraine.
Fest steht allerdings auch, dass dieser Prozess die – zumindest teilweise – Beschneidung der Allmacht einer korrupten Verbindung zwischen repressiver Staatsmacht und mafiösen Oligarchen bedeutet. Die ukrainische ArbeiterInnen sehen sich demnach mit zwei unmöglichen Alternativen konfrontiert: auf der einen Seite eine eher strukturkonservative staatskapitalistisch-korporative Ideologie zu verteidigen, die von Russlandhörigen getragen wird, andererseits auf dem orangen Fahnenmeer von Viktor Juschtschenko dem westlichem Neo-Liberalismus entgegenzusegeln und unweigerlich unterzugehen.
Wie sollten sich fortschrittlich denkende Menschen in einer solchen Situation verhalten? Müssen sie sich damit begnügen, gemeinsam mit bürgerlichen Kräften ihrem Protest gegen Wahlbetrug und Zensur auf der Strasse Ausdruck zu verleihen? Und haben sie überhaupt die Möglichkeit dazu? Um diese Fragen zu beantworten, ist es notwendig, zuvor über die Hintergründe ausreichend informiert zu sein. D.h. es muss vor allem offen gelegt werden, wer hinter den beiden Kontrahenten steht und welche Kräfte aus dem Ausland welche Interessen vertreten und dementsprechend im ukrainischen Machtspiel die Karten mitmischen.
Korrupte Machtverflechtungen
Was das Lager des Gegenspielers von Juschtschenko, Viktor Janukowitsch, anbelangt, die ukrainischen Oligarchenclans, so liegt der Ursprung dieser Machtkonzentration im Jahre 1989. Als das Ende der Sowjetunion und damit die Privatisierung der Wirtschaft sich abzeichnete, saß nicht nur in Russland die stalinistische Führungsriege am längeren Hebel, sondern auch in der Ukraine sicherten sich einige Wenige die besten Stücke vom Kuchen. Diese Stücke waren hier vor allem die Schwerindustrie; d.h. Bergwerke, Maschinenbau und die Metall- und Rüstungsindustrie fielen in die Hände von korrupten Funktionären, die ab diesem Zeitpunkt Macht und Reichtum miteinander verbanden, während das Volk den Folgen der Marktwirtschaft ungeschützt ausgesetzt war – mit allem was dazu gehört: Arbeitslosigkeit, Armut, Hunger.
Einer, der besonders gut aus dieser Übergangssituation ausgestiegen war, war seit 1994 ukrainischer Präsident und politischer Mäzen Janukowitschs: Leonid Kutschma. Kutschma war nicht zufällig in Sowjetzeiten einerseits hochrangiger KGB-Funktionär und andererseits Direktor eines großen Rüstungskonzerns. Er gehört dem Clan von Dnepropetrowsk an, der durch seinen Schwiegersohn Viktor Pintschuk repräsentiert wird. Janukowitsch seinerseits vertritt die Interessen des Oligarchenclans um Rinat Achmetow in der Politik. Alle diese Gruppen sind in ihrer wirtschaftlichen Tätigkeit eng mit Russland verbunden, so befinden sich beispielsweise 83 Prozent der ukrainischen Aluminiumindustrie nach wie vor in russischer Hand. "Politik" war also bisher gleichbedeutend mit der Interessensvertretung einzelner krimineller Unternehmergruppen einerseits und jener der russischen Machthaber andererseits. Die offen zelebrierte Vorliebe Putins für Janukowitsch ist unter anderem auch vor diesem Hintergrund zu sehen.
Vor allem aber bestimmen die russischen Öl- und Gasexporte an die Ukraine die Beziehung zwischen den beiden Ländern. Exporteinschränkung und Zahlungsstundung wirken wie unsichtbare Fäden, die den ukrainischen Akteuren den Handlungsspielraum vorgeben. Es ist bezeichnend, dass der russische Botschafter in Kiew, Viktor Tschernomyrdin, zuvor nicht nur Premierminister in Moskau war, sondern auch Aufsichtsratsvorsitzender von Gasprom, eines staatsnahen russischen Energiekonzerns. Kutschma hat zwar seit seiner Amtsübernahme immer wieder versucht, den Spagat zwischen dem russischen "Mutterland" und den USA zu meistern – unter anderem durch das Liebäugeln mit der Aufnahme in EU und NATO – es scheint allerdings, dass dem Westen diese Tendenz nicht klar genug war und wohl der Bedarf bestand, dem neo-liberalem "Fortschritt" etwas unter die Arme zu greifen.
"Demokratisches" Engagement aus dem Westen
Den geeigneten Mann für diesen Job fanden die Akteure des westlichen Neo-Liberalismus in Viktor Juschtschenko. Der Präsidentschaftskandidat für das oppositionelle Bündnis "Unsere Ukraine" und Gallionsfigur der Straßenproteste in Kiew nach der annullierten ersten Wahl galt bereits in den 90ern als Vertrauensmann für das westliche Kapital. Als Vorsitzender der Zentralbank hielt Juschtschenko gute Verbindungen zu Banken in Europa und in den USA, was auch den Oligarchen nützte, die ihm von 1999 bis 2001 das Amt des Premierministers ermöglichten. In dieser kurzen Zeit, in der er auch als Kronprinz von Kutschma galt, ließ er jedoch einige unrentable Bergwerke schließen und trat damit den wirklichen Machthabern gehörig auf den Schlips. Juschtschenko steht für den Eintritt in NATO und EU und für einen eindeutig westlich geprägten Kapitalismus.
Diese Einstellung erklärt seine guten Beziehungen zur ehemaligen US-Außenministerin Madeleine Albright und vor allem jene zum milliardenschweren Finanzinvestor George Soros. Die "Soros-Stiftung" hatte bereits die "Revolutionen" in Serbien und in Georgien aufgebaut und finanziert, sie unterstützt weltweit prowestliche Bewegungen und war auch jetzt bei der Entwicklung der ukrainischen Studentenbewegung "Pora" ("Es ist Zeit") maßgeblich beteiligt. Weiters steht auf der UnterstützerInnenliste der orangen Revolution eine Organisation mit Namen "National Endowment of Democracy", die auch schon bei so ambitionierten Projekten wie den Putschversuchen gegen den venezolanischen Präsidenten Hugo Chavez ihre Finger im Spiel hatte . Auch das von Otpor-Aktivist Aleksandar Maric geleitete "Zentrum für gewaltlosen Widerstand" war in Venezuela aktiv; es versorgte darüber hinaus die Akteure aus Georgien ebenso wie heute jene in Kiew mit Geld und Know How. Zu seinen Abnehmern gehört in Zimbabwe auch die Opposition unter Morgan Tsvangirai.
Das westliche Engagement für Demokratie erscheint plötzlich wie ein Schlag ins Gesicht, wenn die hässliche Wahrheit unter einer polierten Oberfläche von Lügen zum Vorschein kommt. Es ist in diesem Zusammenhang sicher angemessen, kurz auf die heutige Situation in Georgien und Serbien einzugehen. Haben sich die Bedingungen der in den beiden Ländern lebenden Menschen durch das Eingreifen des Westens verbessert? Hat die Demokratie dort Einzug gehalten?
In Serbien sind laut dem Jahresbericht von Amnesty International 2004 "Folterungen und Misshandlungen durch Polizeibeamte nach wie vor weit verbreitet". Im Rahmen der "Operation Sabre" waren an die 10.000 Menschen ohne Haftbefehl festgenommen worden, unter Folter werden Geständnisse erzwungen und Minderheiten (vor allem Angehörige der Roma) sind immer noch Diskriminierungen ausgesetzt. Georgien bietet ein ähnliches Bild: Im vergangenen Jahr wurde der 36-jährige Rechtsanwalt Michail Saakaschwili, der in den USA ausgebildet wurde, an die Macht gehievt. Heute hat er die Vollmacht, das Parlament aufzulösen sowie RichterInnen zu ernennen und zu entlassen. Neben Folter und willkürlichen Verhaftungen sticht auch das brutale Vorgehen gegen Proteste und Demonstrationen ins Auge. Dies alles im Dienste einer neo-liberalen Doktrin, die auf ihrer Suche nach immer mehr Lebensraum alle wirklich demokratischen Rechte unter sich begräbt.
Von neo-liberal bis ultrarechts – eine schöne Alternative
Tatkräftige Unterstützung erhält Juschtschenko bei der Ausführung seines Auftrages von einer Frau, die dem Westen ebenfalls keine Unbekannte ist. In seinem Buch "Kasino Moskau" nannte Matthew Brzezinski die steinreiche Oppositionelle Julia Timoschenko eine "Elf-Milliarden-Dollar-Frau". Diese Bezeichnung kommt nicht von ungefähr, schaffte sie es doch, 20 Prozent des Reichtums der Ukraine an sich zu reißen und zwar mit Methoden, die jenen der Oligarchen- und Mafiaclans in nichts nachstehen. Die Karriere von Timoschenko begann Anfang der 90er, als sie im Gefolge von Kutschma nach Kiew gekommen war. Zusammen mit Pawel Lasarenko – 1996 bis 1998 Premierminister und heute wegen Geldwäsche in einem US-Gefängnis – bereicherte sie sich vor allem im Zuge von Geschäften, bei denen ukrainische Produkte gegen russisches Öl und Gas getauscht wurden. Ein beträchtlicher Teil des Geldes fand seinen Weg natürlich in die privaten Kassen der Verantwortlichen. Den Machenschaften der mächtigen Clans in die Quere gekommen, wurde Lasarenko abgesetzt, Timoschenko allerdings avancierte 1999 zur Stellvertreterin von Premierminister Juschtschenko. Heute fordert sie an dessen Seite Freiheit und Demokratie vom Kutschma-Regime, von den selben Akteuren, mit deren Hilfe sie all ihren Reichtum zusammengerafft hatte. Ein rührendes Beispiel von selbstlosem Gesinnungswandel.
An der Person von Julia Timoschenko lässt sich sehr gut herausarbeiten, welche politischen Kräfte unter anderem in Juschtschenkos parlamentarischen Fraktion "Unsere Ukraine" (mit welcher SozialdemokratInnen und StalinistInnen übrigens gemeinsam eine Mehrheit bilden) eine Heimat finden. Ihre Vaterlandspartei "Batkywschtschina" bietet extrem rechten Organisationen wie der "Ukrainische[n] Konservative[n] Republikanische[n] Partei" den nötigen Handlungsraum.
Die antikommunistische und antirussische UCRP arbeitet öfters mit der "Ukrainischen Nationalversammlung – Ukrainische Selbstverteidigung" (UNA-UNSO) zusammen, eine Partei, dessen paramilitärischer Arm bis zu 1000 Kämpfer haben soll. Auch ihre Website ist sehr aufschlussreich: es befindet sich dort unter anderem eine Solidaritätsadresse für den chilenischen Ex-Diktator Pinochet und der Hinweis auf einen Vertrag über "Freundschaft und Zusammenarbeit" mit Vertretern der deutschen NPD. Als der Führer dieser Organisation, Andrej Shkil, vor gut einem Jahr zusammen mit anderen wegen einer Straßenschlacht mit der Polizei zu Gefängnisstrafen verurteilt wurde, bezeichnete Timoschenko den Urteilsspruch als eine "Volksvernichtung". Es ist bezeichnend für die ganze "orange Opposition", dass auch andere Politiker von einem "politischem Urteil" sprachen. Unter ihnen: Viktor Juschtschenko.
Auch außerhalb des Timoschenko-Blocks nämlich sind in "Unsere Ukraine" ultrarechte und nationalistische Organisationen vertreten. Die Tradition des "Kongress Ukrainischer Nationalisten" beispielsweise geht zurück bis zum Zweiten Weltkrieg. Sie kämpften zunächst mit den Nazis gegen die Sowjets und dann, als diese begannen, die ukrainischen NationalistInnen zu verfolgen, auch gegen die Wehrmacht – allerdings hat der Antikommunismus sowie der Hass auf alles Russische bis heute Vorrang. Dieser Umstand erklärt den Nutzen, den die Partei für die Juschtschenko-Fraktion hat. Als offen faschistisch muss die "Ukrainische Partei der Freiheit" wahrgenommen werden, ihr Parteisymbol bestand früher aus einer Kombination von Dreizack und Hakenkreuz. Bis Juli dieses Jahres war sie mit von der Partie.
Mit diesem Wissen ist es leicht, über die Folgen dieses Wahlsieges nachzudenken. Zum einen liegt auf der Hand, dass der russischsprachige Teil der Bevölkerung Benachteiligungen zu befürchten hat, wenn NationalistInnen den Ton im Land angeben. Vor allem aber wird die soziale Situation der ArbeiterInnenklasse noch prekärer werden als sie bereits ist, sobald die Arbeitskraft auf den ungezügelten Markt geworfen wird. Juschtschenkos Programm ist ein neoliberales Wirtschaftsprogramm, das von US-Stiftungen und inländischen KapitalistInnen durch Wahlkampfsponsoring jetzt bittere Wahrheit wird; ein gerechtes soziales Netz wird sich dabei wohl schwerlich ausgehen.
Es ist wohl kein Zufall, dass gerade in den östlichen Gegenden der Ukraine, in den Bergwerken, die AnhängerInnen Janukowitschs zu finden sind. Die bürgerlichen Medien werden nicht müde, diese Situation durch die russische Kultur der dortigen Bevölkerung zu erklären. Doch auch der russischsprachige Kumpel aus der Donbass-Region ist wohl nicht glücklich mit seinen korrupten und reaktionären VertreterInnen, die ihm sein sauer verdientes Geld aus der Tasche ziehen. Vielmehr müssen viele ArbeiterInnen angesichts der neuen Entwicklungen nun um ihren Arbeitsplatz fürchten, was den Verlust fast aller sozialer Vergünstigungen bedeutet, die wie zu Sowjetzeiten an den jeweiligen Betrieb gebunden sind. Zu gut erinnern sich viele an die kurze Regierungszeit Juschtschenkos: Bergwerke wurden stillgelegt und die Löhne betrugen 45 Euro im Monat – heute sind sie zumindest doppelt so hoch. Morgen?
Was tun?
Eine sozialistische Organisation kann in dieser Situation, in der zwei unmögliche Alternativen zur Auswahl stehen unmöglich für eine der beiden Parteien Stellung beziehen. Sie müsste sich entweder für einen Kapitalismus mit staatskorporativer Ausrichtung und starker Korruption nach russischem Vorbild oder für einen Kapitalismus mit neo-liberaler Verschärfung westlicher Prägung entscheiden. (Es sollte übrigens nicht die Illusion entstehen, dass die Korruption abgeschafft wird bzw. im Juschtschenko-Lager nicht existiert). Natürlich kann eine linke Organisation gegen Wahlbetrug auf die Straße gehen. Sie würde aber im orangenen Fahnenmeer von neo-liberalen, nationalistischen, antikommunistischen und christdemokratischen Parteien untergehen und ungewollt deren Programme unterstützen.
Mit einer angemessenen Kapazität könnte es vielleicht sogar möglich sein, sich vom Rest der ProtestteilnehmerInnen sichtbar abzugrenzen und Interessierten eine wirkliche Alternative anzubieten. Die Aufgabe einer sozialistischen Organisation in einer derartigen Situation muss es jedenfalls sein, die wahren Hintergründe aufzuzeigen und aufklärend zu wirken, ohne falsche Kompromisse einzugehen. Wenn zwei unmögliche Alternativen zur Auswahl stehen, dann ist der Ausweg aus dem Dilemma, klar Stellung beziehen für eine wirkliche Alternative im Sinne der Mehrheit der ukrainischen Bevölkerung.