1.1 Als MarxistInnen verteidigen wir das allgemeine Wahlrecht als fortschrittlich, genauso wie wir andere bürgerlich-demokratische Rechte wie Presse- oder Versammlungsfreiheit als fortschrittliche Rechte verteidigen und davon Gebrauch machen. 1.2 Trotzdem ist die bürgerliche Demokratie eine Scheindemokratie. Einerseits sind verschiedene Bevölkerungsschichten (MigrantInnen, Jugendliche) selbst von dieser Art der Mitbestimmung ausgeschlossen. Andererseits wird mittels unterschiedlicher Einrichtungen wie Mindestprozentklauseln, Mehrheitswahlrecht oder einer bestimmten geographischen Aufeilung von Wahlkreisen versucht, kritische Parteien und KandidatInnen am Einzug ins bürgerliche Parlament zu hindern. Die wahre Macht liegt aber ohnehin nicht in der Hand von Abgeordneten oder Regierungsmitgliedern, sondern in den Händen von hohen Offizieren, RichterInnen, SpitzenbeamtInnen, ManagerInnen oder KapitalistInnen, die allesamt nicht von der Bevölkerung gewählt werden. Deshalb sehen wir das Parlament auch nicht als Ort der sozialen Umwälzung, denn ohne ökonomische Macht ist jedwede politische Macht wertlos.
1.3 Der überwiegende Teil der Bevölkerung und der ArbeiterInnenklasse hat große Illusionen in die bürgerliche Demokratie. Es wäre sektiererisch, würden wir diese Illusionen nicht ernst nehmen. Solange die meisten ArbeiterInnen an den bürgerlichen Parlamentarismus glauben, müssen wir als MarxistInnen unter diesen Bedingungen arbeiten. Gleichzeitung dürfen wir aber von unserer Kritik an der bürgerlichen Demokratie nicht abweichen.
1.4 In Zeiten des Wahlkampfs herrscht unter der Bevölkerung ein erhöhtes politisches Interesse. Hier müssen wir ansetzen, um unsere Ideen einem breiteren Publikum zu präsentieren, ob wir nun zu Wahlen kandidieren oder nicht.
2. Die Wahltaktik der AL-Antifaschistische Linke
2.1 Die Thesen zur Wahltaktik der AL-Antifaschistische Linke beziehen sich explizit auf Österreich. Andere Länder, insbesondere halbkoloniale Länder, verfügen oft über eine grundlegend andere Parteienlandschaft (teils auch über andere Wahlmodi, so gibt es auch in vielen Ländern Europas ein Mehrheitswahlrecht), womit sich in diesen Ländern auch eine andere Wahltaktik ergeben kann. Die Thesen zur Wahltaktik sollen eine Tendenz festlegen, und müssen stets diskutierbar sein, um gegebenenfalls an veränderte Situationen angepasst zu werden.
2.2 Grundsätzlich sollten revolutionäre Organisationen/Parteien, v.a. im fortgeschrittenen Stadium ihres Organisations- bzw. Parteiaufbaus, selbst zu Wahlen kandidieren. Dabei muss gründlich analysiert werden, ob überhaupt eine reale Chance besteht, ins Parlament einzuziehen oder wenigstens einen flächendeckenden Wahlkampf (zumindestens regional) zu führen. Entscheidender sind aber die Möglichkeiten revolutionärer Propaganda in diesen Wahlauseinandersetzungen.
2.3 Die Gewinnung neuer Mitglieder und SympathisantInnen, die Verbreitung der eigenen Losungen und Ideen, die Vergrößerung des Einflusses innerhalb der ArbeiterInnenklasse und die Steigerung des Bekanntheitsgrads der revolutionären Organisation sind wesentliche Ziele in einem Wahlkampf. Wie wesentlich dabei die Priorität der Gewinnung von Mandaten ist, muss von Fall zu Fall entschieden werden. Insbesondere für kleinere Organisationen, die keine reale Chance haben, Mandate zu erobern, steht der propagandistische Aspekt in der Wahlauseinandersetzung jedenfalls im Vordergrund.
2.4 Eine Kandidatur sollte auf Basis eines Aktionsprogramms von Übergangsforderungen stattfinden. Auf keinen Fall darf die revolutionäre Organisation Illusionen in den bürgerlichen Parlamentarismus schüren. Stets muss betont werden, dass Wahlen keine grundlegenden Veränderungen herbeiführen können. Vielmehr sollten wir die ArbeiterInnen auf ihre eigene (potentielle) Macht, die Verhältnisse zu verändern, hinweisen und sie dazu ermuntern. Ein fataler Fehler wäre, die eigenen politischen Positionen zum Zweck der Stimmenmaximierung zu verstecken. Die revolutionäre Organisation muss auf Basis ihrer Positionen gewählt werden, nur so kann eine seriöse Verankerung stattfinden.
2.5 Im Falle eines Einzugs in ein bürgerliches Parlament, einen Gemeinde- oder Landtag, muss das bürgerliche Vertretungsorgan als Bühne im Klassenkampf benutzt werden. Dies kann auf verschieden Art und Weise erfolgen: Durch die Ausnutzung des vergrößerten Medieninteresses, durch die Entlarvung und Bloßstellung reformistischer Parteien oder durch Aktionismus. Wichtig ist, Gesetzesvorlagen einzubringen, die vor allem die reformistischen Parteien unter Druck setzen, weil sie ihr Abstimmungsverhalten vor der Klasse offenlegen. Wenn die reformistischen Parteien den Anträgen der revolutionären Partei, etwa auf soziale Verbesserungen, zustimmen, hat die Partei ihre Reputation in der Klasse gesteigert und etwas für die Klasse erreicht. Wenn die reformistischen Parteien nicht zustimmen, haben sie sich in den Augen von Teilen der Klasse diskreditiert. Selbstverständlich müssen marxistische Parlamentsabgeordnete gegen alle Gesetze, die gegen die gesamte ArbeiterInnenklasse bzw. Teile davon, oder gegen andere unterdrückte Gruppen (Frauen, sexuelle Minderheiten, MigrantInnen, …) gerichtet sind, votieren und ihre Beschlussfassung mit allen Mitteln hinauszögern. Wichtigste Voraussetzung ist stets die Glaubwürdigkeit der marxistischen ParlamentarierInnen. Diese dürfen deshalb niemals mehr als einen FacharbeiterInnenlohn verdienen; den Rest ihres Einkommens als PolitikerInnen spenden sie an die revolutionäre Organisation/Partei oder/und an soziale Projekte und Einrichtungen. Alle Bezüge sind dabei jederzeit öffentlich nachvollziehbar.
2.6 Besteht keine Möglichkeit zur Eigenkandidatur, ergibt sich die Möglichkeit eines Wahlbündnisses oder einer kritischen Wahlunterstützung für reformistische, zentristische oder andere revolutionäre Parteien im Sinne einer temporären Einheitsfront.
2.7 Wahlbündnisse kommen für uns dann in Frage, wenn die Programmatik und politische Stoßrichtung dieser Bündnisse eine richtige Richtung aufzeigt. Voraussetzung ist, dass in solchen Bündnissen Propaganda-Freiheit herrscht, das heißt, dass die revolutionäre Organisation ihre weitergehenden Positionen mit eigenständigem Material verbreiten kann.
2.8 Die AL-Antifaschistische Linke ruft in der derzeitigen gesellschaftspolitischen Situation in Österreich dazu auf, die linkeste Kandidatur der ArbeiterInnenbewegung zu wählen. In den meisten Fällen ist, bzw. war dies bisher die KPÖ, welche wir als linksreformistisch einschätzen. Prinzipiell unterscheiden sich solche linkeren Reformismen natürlich nicht von anderen Reformismen (gemeinsam ist ihnen die Zusammenarbeit mit dem Kapital), allerdings wird ein Erfolg solcher Parteien in der Regel als gesellschaftlicher Linksruck wahrgenommen, bzw. macht linkes Potenzial sichtbar. Ein Erfolg linker Kandidaturen würde auch die Sozialdemokratie wiederum unter Druck setzen. Dabei unterstützen wir diese Kräfte selbstverständlich auf Basis unserer Kritik an deren Politik und Programmatik.
2.9 In einzelnen Fällen kann es auch sinnvoll sein, eine kritische Wahlunterstützung für die in Österreich dominierende bürgerliche ArbeiterInnenpartei SPÖ abzugeben. Diese Option wäre für uns dann vorstellbar, wenn die Sozialdemokratie mit einem sehr offensiven, kämpferischen Programm antritt. In diesem Fall würden die meisten ArbeiterInnen wahrscheinlich wieder vermehrt Illusionen in die SPÖ entwickeln. Wir würden dann eventuell dazu aufrufen, die Sozialdemokratie zu wählen, um sie anschließend gemeinsam mit ihren WählerInnen auf die Probe zu stellen und über die mit ihr verbundenen Gewerkschaften Druck auf sie auszuüben. Dies wird sie entweder nach links treiben, was die Möglichkeit eröffnet, den Druck auf den Reformismus wiederum zu steigern, oder die Illusionen der fortschrittlichsten Schichen, welche sie gewählt haben, zerstören und sie offener für revolutionäre Losungen machen. Grundsätzlich glauben wir aber nicht, dass die falsche Politik der SPÖ nur auf diese Art und Weise aufgezeigt werden kann.
2.10 Wenn nur bürgerliche Parteien/KandidatInnen antreten, ruft die AL-Antifaschistische Linke dazu auf, ungültig zu wählen. Etwa würden wir bei einer Wahl zwischen ÖVP und FPÖ, bzw. BZÖ nicht dazu aufrufen, für die ÖVP zu stimmen. Stattdessen würden wir versuchen, die außerparlamentarische Mobilisierung gegen den/die GewinnerIn dieser Wahl voranzutreiben. Auch bei einer Wahl zwischen einer bürgerlichen und einer faschistischen Kraft würden wir keine Empfehlung für die bürgerliche Kandidatur abgeben. In ruhigen Perioden würde ein – ohnehin ziemlich unrealistischer – faschistischer Wahlsieg nicht zum Faschismus führen, im Gegenteil, die faschistische Partei könnte sich aufgrund des entstehenden gesellschaftlichen Drucks nicht lange halten. Aufgabe der revolutionären Linken wäre, diesen Druck aufzubauen und zu entwickeln. Eine Stimmabgabe für die bürgerlichen Parteien hingegen würde diese drastisch stärken. Das wiederum schwächt die Linke und macht damit erst den Weg frei für einen tatsächlichen Durchbruch der FaschistInnen. In gesellschaftlich sehr polarisierten oder vorrevolutionären Situationen wiederum, wäre das oben beschrieben Szenario äußerst unwahrscheinlich da sich solche Situationen immer dadurch auszeichnen, dass sich eine oder mehrere sehr starke ArbeiterInnenparteien und eine ebenfalls sehr starke faschistische Partei gegenüber stehen, und das bürgerliche Zentrum keine eigenständige Rolle spielt.
2.11 Zu einem Wahlboykott würden wir dann aufrufen, wenn die Wahlen eine offensichtliche Farce wären (z.B., wenn von Wahlbetrug auszugehen ist). Selbstverständlich würden wir weiters zu einem Wahlboykott aufrufen, wenn die Masse der ArbeiterInnen bereits mit dem bürgerlichen Parlamentarismus gebrochen hat. In diesem Fall gilt es, die Selbstorganisierung der ArbeiterInnen durch Räte zu forcieren und die direkte Aktion voranzutreiben, um die bürgerliche Ordnung endgültig zu zerschlagen.
Wien am 16.04.2005