Nach dem Tod zweier Jugendlicher auf der Flucht vor der Polizei im ArbeiterInnen- und MigrantenInnenviertel Clichy-sous-Bois, einem Vorort der französischen Hauptstadt, und den darauf folgenden Aufständen gegen die Staatsgewalt drängen sich einige dringliche Fragen auf. Das Innenministerium der konservativen französischen Regierung antwortet auf eine ihm eigene Art.
Wie starben Ziad und Banou?
Die Untersuchungen der Ereignisse, die zum Tod von Ziad und Banou und den lebensgefährlichen Verletzungen eines dritten Jungen geführt haben, sind voller Widersprüche und zeigen deutlich, wie sich Polizei und Regierung ihrer Verantwortung entledigen wollen.
Aus mehreren Aussagen geht hervor, dass die drei Jugendlichen migrantischer Herkunft zusammen mit sechs weiteren am Donnerstag, dem 27. Oktober, gegen Abend von einem Fußballspiel kommend, von Beamten angehalten wurden. Wie so oft in den letzten Monaten, sollte eine Kontrolle der Identität und (vor allem) der Aufenthaltsgenehmigung durchgeführt werden. Doch an diesem Tag ergriffen vier von ihnen die Flucht.
Ob dies aus Angst vor Repression, vor Abschiebung oder aus einem spontanen Protest gegen eine seit langem herrschende rassistische Politik und diskriminierenden Vorgehensweise der Polizeikräfte geschah, ist weniger von Bedeutung als die Tatsache, dass diese Flucht das gestörte Verhältnis der BewohnerInnen der Pariser Vorstadt zur Ordnungsmacht eindringlicher offenbart als alles andere.
Ab dem Zeitpunkt der Flucht gehen die Aussagen von Polizei und ZeugInnen in die entgegengesetzte Richtung: Die Polizeibeamten erklären, sie hätten die Verfolgung der flüchtenden Gruppe nicht aufgenommen – wohl ein eher seltenes Ereignis, es handelt sich immerhin um vier Personen, die sich der Staatsgewalt entziehen wollen. Demgegenüber wird Sofiane, einer der Flüchtenden später aussagen, er hätte aus einem Versteck beobachtet, dass die drei Kameraden bis zum Gelände der Stromgesellschaft verfolgt worden wären, wo sich ein Stromwandler als ein fataler und letztlich tödlicher Zufluchtsort erwiesen hatte. Die beiden Polizisten machten sich dabei zumindest der unterlassenen Hilfeleistung schuldig, da sie offenbar nicht daran gedacht hatten, die Stromgesellschaft vom Aufenthalt dreier Personen in der Todeszone zu informieren.
Vom Unfall zum Straßenkampf
Das Ereignis in Clichy-sous-Bois wäre unter anderen Umständen als tragischer, aber nicht weiter Aufsehen erregender, Unfall in die französische Chronik eingegangen. Doch die Umstände waren und sind nicht anders, sondern symptomatisch für die repressive und rassistische Innenpolitik der französischen Regierung, vertreten durch Minister Nicolas Sarkozy.
Noch am selben Abend begannen die Ausschreitungen, die sich bisher über fünf Tage mehr oder weniger heftig erstreckten und sich gegen alles wandten, das eine Uniform trägt und somit für die Staatsgewalt steht (neben der Polizei stellt in den Augen vieler Jugendlicher auch die Feuerwehr eine Repräsentation des Staates dar).
Die Bilder der 28.000 EinwohnerInnen zählenden Stadt im Osten der Region Paris erinnerten am Donnerstag und Freitag an Straßenkämpfe in Südamerika. Brennende Autos und Mülleimer versperrten barrikadenartig die Straßen, Molotowcocktails hatten die Fassaden von Polizeipräfekturen und das Rathaus als Zielscheibe. Hunderte aufgebrachte Jungendliche standen hunderten bis zu den Zähnen bewaffneten PolizeibeamtInnen gegenüber. Pflastersteine auf der einen, Tränengasgranaten und Gummigeschosse auf der anderen Seite. Die Unzufriedenheit der Bevölkerung, die sich seit Jahren an massiver Arbeitslosigkeit, übelsten Wohnverhältnissen, Diskriminierung und polizeilicher Gewalt genährt hatte, hat im Tod der beiden Jugendlichen den Zünder zur Detonation gefunden.
Warum in Clichy?
Der Hinweis ist nur allzu deutlich. Am Vorort Clichy-sous-Bois lassen sich die Folgen einer asozialen Politik viel unmissverständlicher ablesen als in den noblen Arrondissements (= Bezirken) im Zentrum der Metropole: ein Viertel der Bevölkerung ist arbeitslos, von den Beschäftigten sind 71% ArbeiterInnen und Angestellte, 17% davon haben keine fixe Anstellung. Die verschiedenen ethnischen Gruppen der ImmigrantInnen werden immer mehr von Paris in die nördlichen und östlichen Vorstädte abgedrängt, wo die Wohnungen zwar etwas billiger aber miserabel sind und MigrantInnen einen beträchtlichen Teil der Bevölkerung stellen. Dementsprechend gibt es in breiteren Teilen der Bevölkerung durchaus Verständnis für die jetzige Explosion.
Seit dem Antritt der Regierung Villepin-Sarkozy und dem Vorsatz des Innenministers, die Anzahl der Abschiebungen "illegaler" ImmigrantInnen bis Jahresende auf 24.000 anzuheben, sind besonders in diesen Regionen Razzien an der Tagesordnung. Mit Blick auf die Präsidentschaftswahlen von 2007 und die WählerInnen des ultrarechten Front National von Jean-Marie Le Pen, macht Sarkozy aus seiner Xenophobie keinen Hehl, wenn er davon spricht, den "Kärcher aufzuräumen" und die Jugendlichen der Vorstädte eine "racaille" (Gesindel, Pack) schimpft, während seine Regierung die Mittel der Schulen und öffentlichen Einrichtungen immer mehr beschneidet.
Vor diesem Hintergrund und dieser feindseligen Atmosphäre sind die Ausschreitungen zu beurteilen, die am Samstag durch einen Schweigemarsch unterbrochen wurden, um am Sonntag und Montag wieder aufzuflammen. Nach dem Besuch des Innenministers am Montag, der den Dank an die Polizeikräfte für die Niederschlagung der Unruhen zum Zweck hatte, was zweifellos als zynische Provokation aufzufassen ist, brannten wieder die Autos. Vor allem die Verurteilung von zwei am Aufstand vom Freitag Beteiligten zu zwei Monaten Gefängnis im Schnellverfahren führte zur Weiterführung der Proteste und sogar zu ihrer Ausweitung auf benachbarte Gemeinden, in denen die soziale Lage ähnlich ist.
Auch wenn abzusehen ist, dass sich die Situation in den nächsten Tagen nicht zuletzt auf Grund der Vermittlung durch die "älteren Brüder" der Jugendlichen entspannen wird, sollten die Ereignisse in Clichy-sous-Bois der Regierung eigentlich eine Lehre sein. Aussagen wie "zéro-tolérance" und das Versprechen, die lokalen Polizeikräfte sobald wie möglich mit mobilen Überwachungskameras auszustatten, sind allerdings eindeutige Reaktionen einer Regierung, die kein Interesse daran hat, die Lebenssituation der ArbeiterInnen- und MigrantInnen zu verbessern. Einer Regierung, die die Mittel für Bildung, Wohnung und Sozialleistungen vielmehr dem Kapital in den Rachen stopft. Das ist zweifellos eine Frage des Klientels, doch was, wenn sich beim nächsten Mal die großen Brüder und Schwestern mit den kleinen zusammen tun? Die weißen mit den schwarzen?