Venezuela war zuletzt vor allem auf Grund der Wahlen zur Nationalversammlung Anlass für Debatten und Polemiken. Bedeutende Betriebskonflikte und gewerkschaftliche Auseinandersetzungen der vergangenen Monaten fanden in der europäischen Venezuela-Solidaritätsbewegung so gut wie keinen Widerhall. Der folgende Artikel versucht einen (kleinen und beschränkten) Einblick in einen wichtigen Teilaspekt der Realität der venezolanischen ArbeiterInnenklasse zu liefern.
In den Bundesstaaten Carabobo und Bolívar, den industriellen Herzen Venezuelas, wurden in zahlreichen Betrieben gewerkschaftliche Abwahlreferenden bzw. Gewerkschaftswahlen abgehalten und in verschiedenen Betrieben gelang es alteingesessenen GewerkschaftsfunktionärInnen durch kämpferische GewerkschafterInnen zu ersetzen und neue Gewerkschaften zu gründen. Auf Betriebsebene spielten die clasistas (die klassen-kämpferische Gewerkschaftsströmung) in den vergangenen Monaten bei SIDOR in Ciudad Guayana, Bundesstaat Bolívar, und bei Bridgestone/Firestone in Valencia, Bundesstaat Carabobo, in wichtigen Konflikten eine tragende Rolle.
Gewerkschaftswahlen bei SIDOR
Anfang der 1960er-Jahre entwickelte sich im Gebiet der Mündung des Caroní in den Orinoco im Bundesstaat Bolívar eines der wichtigsten Schwerindustriezentren Südamerikas: Stahl- und Aluminiumwerke (z.B. SIDOR und VENALUM), verarbeitende Metallbetriebe (u.a. ALCASA), Industriehäfen. Riesige Wasserkraftwerke am Unterlauf des Caroní lieferten den Industriebetrieben die notwendige Energie.1Mit der Industrieansiedelung entstand aus den Kleinstädten Puerto Ordaz und San Felix eine neue Stadt mit 700.000 EinwohnerInnen: Ciudad Guayana. Neben dem Bundesstaat Carabobo und den Niederlassungen von PDVSA (dem staatlichen Erdöl- und Erdgasunternehmen) zählt Ciudad Guayana zu den Zentren des venezolanischen Industrieproletariats.
Die Privatisierung des Stahlwerkes SIDOR im Jahr 1997 hatte verheerende Auswirkungen auf die Arbeitsbedingungen. Massiver Abbau von Arbeitsplätzen ging einher mit der Aushöhlung arbeitsrechtlicher und kollektivvertraglicher Rechte. Zunehmend wurde die alte Stammbelegschaft durch neue LeiharbeiterInnen mit niedrigeren Löhnen, keinem Sozialversicherungsanspruch und keinen kollektivvertraglichen Rechten ersetzt. Die Rationalisierungswelle bei SIDOR führte zu einem dramatischen Anstieg tödlicher Arbeitsunfälle. In den vergangenen Jahren wurden Stimmen (einhergehend mit Arbeitsniederlegungen und Demonstrationen) für die Wiederverstaatlichung des Stahlwerks immer lauter. Zunehmend regte sich auch Widerstand gegen die Führung der Betriebsgewerkschaft SUTISS rund um Ramón Machuca, der für die Privatisierung von SIDOR mitverantwortlich gemacht wird.
Im November hielt SUTISS (mit rund 4.000 Mitgliedern die größte Betriebsgewerkschaft in der venezolanischen Privatwirtschaft) Gewerkschaftswahlen ab. Im Vorfeld der Wahlen konnten sich verschiedene kämpferische GewerkschafterInnen nicht auf eine gemeinsame Wahlliste gegen die von der Unternehmensleitung unterstützten Kandidaten einigen. Der Wahlkampf war von heftigen Diskussionen zwischen kämpferischen GewerkschafterInnen und der eingesessenen FunktionärInnen geprägt. Im Zentrum der Debatten stand die von der Gewerkschaftsführung abgelehnte Position der Wiederverstaatlichung von SIDOR.
Eine zentrale Rolle im politischen Kampf für die Unabhängigkeit von SUTISS von Unternehmensleitung und Gewerkschaftsbürokratie spielte José Meléndez (Vertreter des Arbeiterkollektivs Verdad Obrera Sindical, das sich im Sommer 2005 auch an der Gründung der PRS – Partido Revolución y Socialismo beteiligte), der mit einer eigenen Wahlliste kandidierte.
Mit einer Wahlbeteiligung von 87% übertrafen die Gewerkschaftswahlen die Erwartungen vieler GewerkschafterInnen. Schlussendlich konnten zwar die Wahllisten der kämpferischen GewerkschafterInnen keine Mehrheit in den Gewerkschaftsgremien erzielen, jedoch konnte der eiserne Griff von Ramón Machuca und Co. auf SUTISS gebrochen werden. Die Gewerkschaftsgremien von SUTISS werden nun von verschiedenen Gewerkschaftsströmungen besetzt und drei dieser ArbeiterInnenkollektive, darunter auch Verdad Obrera Sindical, streben danach, sich zu einem "klassenkämpferischen und revolutionären Gewerkschaftsblock" zusammenzuschließen.
Bridgestone/Firestone
Seit Jahren herrscht innerhalb der Gewerkschaften von Bridgestone/Firestone in Valencia, Bundesstaat Carabobo, ein Konflikt rund um die Ergebnisse von Gewerkschaftswahlen und den daraus hervorgehenden Vertretungsansprüchen. Ende November hat dieser Konflikt einen dramatischen Höhepunkt erreicht. In verschiedenen Gewerkschaftswahlen und Abwahlreferenden wurden Gewerkschafter, die zwei Parlamentsabgeordneten des chavistischen Lagers nahe stehen, wiederholt abgewählt. Ende November besetzten drei dieser Gewerkschafter mit Hilfe bewaffneter Schläger das Werksgelände von Bridgestone/Firestone, brachten die Produktion zum Erliegen und begannen ArbeiterInnen einzuschüchtern.
Als Antwort auf diesen Einschüchterungsversuch rief eine Betriebsgewerkschaft von Bridgestone/Firestone gemeinsam mit anderen GewerkschafterInnen der UNT und ArbeiterInnen von Bridgestone/Firestone zu einer Versammlung auf, die beschloss, das Werksgelände zurückzuerobern. Als eine Demonstration von mehr als 500 ArbeiterInnen von Bridgestone/Firestone und zahlreichen GewerkschafterInnen der UNT das Werksgelände erreichte, begannen die Besetzer und ihre Schläger mit Steinen, Flaschen und Schusswaffen die Demonstration anzugreifen. Ein Arbeiter erlitt eine Schusswunde und drei weitere Arbeiter wurden am Kopf verletzt.
Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten. Nach einem kurzen Kampf konnten die Schlägertrupps in die Flucht geschlagen werden und das Werksgelände von den demonstrierenden ArbeiterInnen besetzt werden. Erst nachdem die ArbeiterInnen die Besetzung des Werksgeländes beendeten und den Betrieb unter ihre Kontrolle stellten, erschien die Polizei (die von Beginn an von der zweitägigen (!) Besetzung des Betriebes informiert war und nicht intervenierte). Einige der für die Gewalttaten verantwortlichen Schläger wurden von der Polizei Minuten nach ihrer Festnahme wieder freigelassen. In den darauf folgenden Tagen kam es zu wiederholten Provokationen und Einschüchterungsversuchen gegen die ArbeiterInnen von Bridgestone/Firestone und GewerkschafterInnen der UNT. Mit-unter kursierten Gerüchte bewaffnete Schlägerbanden würden während einer großen Gewerkschaftsversammlung – die auf Grund der Vorfälle bei Bridgestone/Firestone über einen Generalstreik im Bundesstaat Carabobo diskutierte – den Sitz der UNT Carabobo in Valencia stürmen. Es wurden Maßnahmen zur Verteidigung der Zentrale getroffen.
Schlussendlich kam es jedoch weder zu dem befürchteten Überfall der Gewerkschaftszentrale noch zur Ausrufung des Generalstreiks, doch der Konflikt rund um Bridgestone/Firestone und die aus diesem Kampf gezogenen Lehren haben tiefe Spuren im Bewusstsein vieler ArbeiterInnen und GewerkschafterInnen hinterlassen.
Kongress der UNT
Auf einer außenordentlichen Vollversammlung der UNT in Caracas wurde Mitte Dezember des Vorjahres (vor allem auf Betreiben der clasistas) ein bedeutender Erfolg auf Gewerkschaftsebene verbucht: Vom 16. – 17. Februar 2006 wird die UNT ihre nationale Konferenz abhalten und sich mit den dringlichsten Fragen der venezolanischen Gewerkschaftsbewegung beschäftigen. Außerdem wird diese Konferenz der UNT ein Statut geben und den endgültigen Termin für die längst überfälligen Wahlen innerhalb des Gewerkschaftsdachverbandes festlegen. (Seit der formalen Gründung der UNT im Frühjahr 2003 besteht die Führung der UNT aus einem ernannten Nationalen Koordinationskomitee.)
Dieser Kongress wird auch von entscheidender Bedeutung für die politischen Auseinandersetzungen innerhalb der venezolanischen ArbeiterInnenbewegung sein. Die Regierung Chávez versucht – allen voran durch die Arbeitsministerin María Cristina Iglesias – seit dem Bestehen der UNT, den Gewerkschaftsdachverband ideologisch und politisch an den Staats- und Regierungsapparat zu binden.
Ob es gelingt diesem Prozess der Verstaatlichung der Gewerkschaftsbewegung entgegen zu wirken, wird in erster Linie von den clasistas abhängig sein. In dieser politischen Auseinandersetzung, im Streben der venezolanischen ArbeiterInnenklasse und ihrer Organisationen nach Unabhängigkeit vom bürgerlichen Staat, sollten wir den clasistas neben unserer Aufmerksamkeit auch unsere Unterstützung zukommen lassen.