Seit dem 6. Februar wird in Deutschland im öffentlichen Dienst für die Beibehaltung der 38,5-Stunden Woche gestreikt. Was für BeamtInnen in Deutschland bereits bittere Realität ist, soll nun auch für Tarifbeschäftigte (in Österreich: Beschäftigte unter Kollektivvertrag) gelten.
Erst betraf der Streik vor allem die Kommunen in Baden-Württemberg, eine Woche später weitete er sich auf die Kommunen in Niedersachsen und Hamburg sowie auf die Unikliniken und Landeseinrichtungen in Baden-Württemberg, Bayern, Hamburg, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Saarland, Sachsen und Schleswig-Holstein aus.
41.000 Beschäftigte folgten am 9.3.06 dem Streikaufruf, fast 10 000 mehr als am Vortag. 6.000 PädagogInnen waren angereist, um in Berlin zu demonstrieren. Auch die ÄrztInnenorganisation ruft zur Urabstimmung auf, nachdem Verhandlungen an den 34 Unikliniken (22.000 betroffene MedizinerInnen) vom Marburger Bund, dem Verband der angestellte und beamteten ÄrztInnen. abgebrochen wurden. Die KlinikärztInnen wollen in Streik treten, um einen eigenen Tarifvertrag zu erzwingen.
Da die Verhandlungen am 11.3. ergebnislos abgebrochen wurden, wird weitergestreikt. Die Vereinigte Dienstleistungsgewerkschaft, Verdi, hatte das "Angebot" einer 39,5 Stundenwoche abgelehnt. Aber es gab auch Rückschläge, so stimmte Verdi in Hamburg einem von Fäule stinken den Kompromiss zu, der für die Mehrheit der Beschäftigten eine Arbeitszeitverlängerung in Form einer Staffelung (je nach Alter und ob mit Kind oder ohne) vorsieht. Dieses Ergebnis ist ganz und gar nicht das, wofür gekämpft wurde. Außerdem wird durch die Staffelung der Arbeitszeit eine weitere Spaltung in den Belegschaften herbeigeführt. Da die durchschnittliche Wochenarbeitszeit auf 38,8 Stunden steigt, werden die ArbeitgeberInnen den geplanten Arbeitsplatzabbau also fortführen, weil nun weniger Arbeitskräfte gebraucht werden.
Dabei könnte der Arbeitslosigkeit doch auch mit Arbeitszeitverkürzung nachgekommen werden, bei vollem Lohnausgleich versteht sich, das könnte die Umverteilung von unten nach oben der letzten Jahre auszugleichen.
Hintergründe
Im Juli 2003 wurde mit dem Besoldungs- und Versorgungsanpassungsgesetz die so genannte "Öffnungsklausel" eingeführt, die es Bund und Ländern ermöglicht, in ihrem jeweiligen Zuständigkeitsbereich Höhe und Zahlungsmodalitäten des Weihnachts- und Urlaubsgelds für BeamtInnen eigenständig zu regeln, was natürlich von ArbeitgeberInnenseite kräftig genutzt wurde.Auf Basis der Arbeitszeitverordnungen der Länder wurde die wöchentliche Arbeitszeit der BeamtInnen auf 40, oder 41 in Bayern sogar auf 42 Stunden erhöht.
Jetzt sind die Tarifbeschäftigten dran
Im März 2004 kündigten die zuständigen ArbeitgeberInnen die Regelungen zur Arbeitszeit in den Tarifverträgen für die Landesbeschäftigten in Westdeutschland, um deren Arbeitszeit wie bei den Beamtinnen und Beamten zu verlängern. Schließlich wäre das nur gerecht. Damit nehmen die Länder fortan an den Verhandlungen zum Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst (TVöD) nicht mehr teil.
Da die alten Tarifverträge nachwirken, gelten die bisherigen Bestimmungen für die gewerkschaftlich organisierten Angestellten der Länder weiter. Wer aber beim Land neu eingestellt oder höhergruppiert wird oder einen befristeten Arbeitsvertrag verlängern will, wird vom Arbeitgeber oft gezwungen, per Einzelvertrag eine längere Arbeitszeit oder ein geringeres Weihnachts- und Urlaubsgeld hinzunehmen. In Bereichen mit einem hohen Anteil befristeter Arbeitsverträge (zum Beispiel bei den Universitäten und Unikliniken) kann das sehr viele Beschäftigte betreffen.
Am 13. September 2005 haben die Verdi, der Bund und die Vereinigung der kommunalen Arbeitgeberverbände (VKAs) nach langen Verhandlungen den neuen Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst auf der Grundlage der im Februar 2005 vereinbarten Eckpunkte unterzeichnet. Dieser hatte bereits eine Erhöhung auf 39 Wochenstunden beinhaltet. Bevor der Vertrag allerdings unterschrieben war, erklang bereits die Forderung einiger kommunaler ArbeitgebervertreterInnen, noch weiter zu gehen.
Inzwischen haben das drei kommunale Arbeitgeberverbände (KAV) auch getan: der KAV Baden-Württemberg, der KAV Niedersachsen und die Arbeitsrechtliche Vereinigung Hamburg. Andere drohen damit, ebenfalls zu kündigen. Sie alle wollen die Arbeitszeit verlängern – natürlich ohne Lohnausgleich. Das, oder die Pläne bezüglich der Kürzungen der Nebenleistungen offen auszusprechen scheuen sie nicht. Unter dem Banner der "Gleichberechtigung" und Modernisierung und unter Tränengedrücke wegen der vielen nicht behandelten Kranken (die in vielen Fällen mit den Streikenden sympathisieren) oder der vielen nicht geräumten, wegen der Müllsäcke auch noch stinkender Straßen, wird der Gewerkschaft mangelnde Kompromissbereitschaft vorgeworfen während die KAVs hart bleiben.
Motiviert und bestärkt werden diese kommunalen Arbeitgeberverbände von der kompromisslosen Haltung der Länder. Grundsätzlich stehen die Bundesregierung, die Wirtschaftsverbände, hinter der Tarifgemeinschaft der Länder (TdL) und den kommunalen Arbeitgeberverbänden. Zudem plant die Große Koalition aus SPD und CDU/CSU, das Besoldungs- und Versorgungsrecht der Regelungshoheit der Länder zu unterwerfen. Eine Angleichung würde dann für alle ArbeitnehmerInnen des öffentlichen Dienstes mindestes 40 Stunden Arbeit pro Woche bedeuten.
Kündigung über Kündigung
Arbeitszeitverlängerung heißt Arbeitsplatzvernichtung: 250.000 Arbeitsplätze wären in Frage gestellt. Die damit verbundenen Einkommenseinbußen sind auch nicht von schlechten Eltern. Die Verlängerung von 38,5 auf 40 Wochenarbeitsstunden kommt einer Lohnsenkung von 3,75% gleich. Bei einem Verdienst von 1.200 Euro im Monat, wären das 45 Euro. Für viele Menschen entscheidende Summen am Monatsende … Und auch wenn diverse hochbezahlte VertreterInnen des Kapitals argumentieren, dass sich die tägliche Arbeitszeit ja nur um 18 Minuten erhöhen würde – jede nicht entlohnte Minute ist eine zuviel. 18 Minuten mehr pro Tag sind fast 10 Arbeitstage mehr pro Jahr, also soviel wie zwei Wochen Urlaub!
In den vergangenen 15 Jahren wurde im öffentlichen Sektor jeder dritte Arbeitsplatz, insgesamt 2,2 Millionen, abgebaut. Die öffentlichen ArbeitgeberInnenverbände stützen sich dabei auf die europäische Dienstleistungsrichtlinie. Aber auch im privatwirtschaftlichen Bereich sieht es nicht besser aus. Mit Februar 2006 erreichte die Bundesrepublik mit über 5 Millionen Arbeitslosen den dritthöchsten Stand in der Geschichte. Das entspricht einer Arbeitslosenrate von 12,2 Prozent.(1) In Ostdeutschland ist die Arbeitslosenquote nach wie vor etwa doppelt so hoch wie im Westen. Doch die offiziellen Arbeitslosenzahlen verschönern die Realität. Schließlich sind in diversen bürgerlichen Berechnungsmodellen weder unfreiwillig geringfügig Beschäftigte eingerechnet, noch Erwerbslose die sich gerade in verschiedensten Schulungen befinden, freie DienstnehmerInnen auf Abruf, unfreiwillige FrühpensionistInnen oder Menschen, die bei den Behörden gar nicht registriert sind (z.B. Jugendliche ohne Anspruch auf Arbeitslosengeld oder in die Hausarbeit zurückgedrängte Frauen…).
Überhaupt lässt sich ein deutlicher Trend der Umwandlung von Voll- in Teilzeitarbeitsplätze feststellen. Waren 1991 noch 5,4 Mio. ArbeitnehmerInnen teilzeitbeschäftigt, so arbeiteten im Jahr 2003 bereits 9,4 Mio. Menschen unter der tariflichen Vollzeit. Dabei fällt auf: Fast die Hälfte aller abhängig beschäftigten Frauen arbeiten in einem Teilzeitverhältnis – bei den Männern sind dies nur etwa 10%.(2) Auf der einen Seite Massentlassungen in der Privatwirtschaft (AEG, VW, Siemens, Telekom…) und ein Sinken der Reallöhne, auf der anderen Seite ein Anstieg der Nettogewinne um 96,5% alleine in der Zeit von 1980 bis 2000.(3) Das heißt, während sich die Gewinne deutscher Unternehmen real fast verdoppelten, stagnierten die Realeinkommen von ArbeitnehmerInnen in Deutschland, bzw. sanken sogar. Gleichzeitig machte das Zurückschrauben des Sozialstaats durch Programme wie Hartz IV (im Jahr 2004 etabliert) Erwerbslose, RentnerInnen, und generell alle einkommensschwächeren Bevölkerungsgruppen zunehmend ärmer. Von 2000 bis 2003, also noch vor Hartz IV, wuchs die Armutsquote (der Anteil jener, die weniger als die Hälfte des Durchschnittseinkommens verdienen) von 9,2% auf 12% an.(4)
Kompromisse mit Tradition
Vierzehn Jahre ist er her, der letzte Streik im öffentlichen Dienst. 300.000 Beschäftigte waren beteiligt, trotzdem gab die bürgerliche Regierung Kohl nicht nach und die Gewerkschaftsführung setzte gegen den erklärten Willen der Mehrheit der Mitglieder einen beschämenden Kompromiss durch. Dieser Ausverkauf leitete damals die Welle von Entlassungen und den sozialen Niedergang ein, gegen den sich der heutige Arbeitskampf richtet. Was damals akzeptiert wurde, rächt sich heute bitter. Trotzdem setzt Verdi unter ihrem Grünen (!) Vorsitzenden Bsirske parallel zu Streiks auf Streichelkurs mit Kompromissbereitschaft.
Selbst die eigenen Mitglieder werden gespalten. Obwohl die Deutsche Telekom den Abbau von 32.000 Arbeitsplätzen angekündigt hat (trotz Gewinnsteigerung um 270% (!!!) im Jahr 2004(5)), unternimmt Verdi nichts, um ihre Telekom-Mitglieder in den gegenwärtigen Streik mit einzubeziehen. Das erklärt sich vielleicht dadurch, dass Verdi durch tausenderlei Fäden mit der SPD und teilweise auch mit der Union verbunden ist. Die sozialen Konflikte sollen unter Kontrolle behalten werden, Verdi versucht zu vermitteln. Da kommt es dann auch vor, dass die Gewerkschaft es zulässt, dass manche kommen, sich das Streikgeld holen und wieder gehen, anstatt mit ihren KollegInnen den Betrieb zu bestreiken, zu diskutieren und gemeinsame weitere Aktionen zu planen. Hier wäre Verdi für die Politisierung der ArbeiterInnen verantwortlich. Aber anstatt zu informieren und zu politisieren beschränkt sich Verdi auf Lächerlichkeiten wie eine (unpolitische) Filmvorführung für die Streikenden. "Seit ihrer Gründung vor fünf Jahren [Anmerkung: die Verdi ist aus der alten Gewerkschaft ÖTV hervorgegangen] verliert Verdi Jahr für Jahr hunderttausend Mitglieder. Das bedroht nicht nur ihren Einfluss, sondern auch die Einkommen der Bürokratie. Deshalb sah sie sich zum Handeln gezwungen. Sie würde den Streik aber niemals so weit treiben, dass er die Regierung gefährdet".(6)
Aufgabe der Gewerkschaften und auch des DGB wäre es indessen, die Streikenden untereinander, aber auch mit den von Verschlechterungen Betroffenen aus anderen Bereichen zu vernetzten. Der Einzelhandel befindet sich derzeit ebenfalls in Tarifauseinandersetzungen, auch droht den dort Beschäftigten eine weitere Ausdehnung der Ladenöffnungszeiten. Die Beschäftigten der Telekom kämpfen gegen die Vernichtung von Arbeitsplätzen, und in Kürze beginnt die Tarifrunde der IG Metall. Darüber hinaus sollten sie dafür sorgen, dass sich auch in andern Branchen eine solidarische Stimmung für den Streik entsteht. Der Medienhatz muss eine Berichterstattung aus unverschleierter Sicht der Betroffenen gegenüber gestellt werden. Parteilich zu sein, gehört zu den Pflichten einer ernstzunehmenden Gewerkschaft.
Diese und andere Forderungen halten wir für angebracht:
Keine faulen Kompromisse! Nein zu jeder Form der Arbeitszeitverlängerung, auch nicht zu einer "sozial gestaffelten"!
Ausweitung des Streiks auf sämtliche Bereiche im öffentlichen Dienst!
Für die Kontrolle des Streiks durch die unmittelbar Betroffenen! Wahl der Streikleitungen durch Streikversammlungen, die den Streikenden rechenschaftspflichtig und von diesen abwählbar sind! Keine Verhandlungen hinter verschlossenen Türen! Für kämpferische und demokratische Gewerkschaften!
Die Betroffenen dürfen sich nicht auseinanderdividieren lassen! Keine Spaltung in aus- und inländische ArbeiterInnen, in Beschäftigte und Arbeitslose oder in privat- und staatswirtschaftlich Beschäftigte! Nein zur weiteren Aufgliederung der Belegschaften!
Für einen einheitlichen Tarifvertrag für alle Beschäftigten im öffentlichen Dienst!
Sofortige Arbeitszeitsenkung auf 30 Wochenstunden bei vollem Lohn- und Personalausgleich! Nur so kann die Arbeitslosigkeit wirklich bekämpft werden. Daneben muss es einen Abbau aller Überstunden geben, damit die KapitalistInnen dieser Arbeitszeitverkürzung nicht "durch die Hintertür entkommen".
Für einen Mindestlohn von 1.500 Euro brutto im Monat! Für eine gleitende Lohnskala, d.h. eine automatische Anpassung der Löhne an die Inflation!
Bund wie Landesregierungen wollen uns, gestützt durch die Medien, einreden das alles wäre in der momentanen wirtschaftlichen Situation untragbar. "Wer soll denn das bezahlen?" Dabei ist die Antwort doch so banal: Geld ist genug da, es ist nur in den falschen Händen:
Geld ist genug da …
Das "Jahrhundertwerk" der "Unternehmenssteuerreform" von SPD und Grünen verursachte von 2000 bis 2004 einen Steuerausfall bei den Gewinnsteuern von über 100 Milliarden Euro – hauptsächlich bedingt durch Steuergeschenke an Konzerne (Körperschaftsteuer) und UnternehmerInnen! Dabei sind die Gewinne im gleichen Zeitraum kontinuierlich gestiegen.(7) Von 1991 bis 2004 stiegen die Nettoprofite deutscher Kapitalgesellschaften um 113%.(8) Im Jänner 2005 senkte die damalige rot-grüne Bundesregierung den Spitzensteuersatz um 11 Prozentpunkte. Einem/einer EinkommensmillionärIn bleiben dadurch 112.000 Euro mehr im Jahr, als nach den Steuersätzen von 1998. Die Einnahmen deutscher SpitzenmanagerInnen liegen um 30 Prozent über denen der ManagerInnen in Großbritannien, Frankreich, Italien und den Niederlanden.(9) Die Aussagen von Regierung und Kapital sind also nichts als Märchen. Es gibt keinen Grund, Sozialabbau hinzunehmen, wenn gleichzeitig die Reichen immer reicher werden!
Gleichzeitig sind die weiteren Aussichten für ArbeiterInnen, PensionistInnen, Jugendliche und Arbeitslose in Deutschland alles andere als rosig. Finanzminister Peer Steinbrück (SPD) bereitet weitere Steuersenkungen für GroßverdienerInnen und Unternehmen vor, während die Mehrwertsteuer – eine klassische Massensteuer, die, wie es bei diesem Steuertyp immer der Fall ist, umso drückender ist, je weniger Geld zur Verfügung steht – im kommenden Jahr um drei Prozent erhöht werden soll. Und der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) hat unmittelbar nach der Bildung der Großen Koalition seine Kooperation und Zusammenarbeit mit dieser angekündigt.
Umso wichtiger ist es, diesen ersten bundesweiten Arbeitskampf unter der großen Koalition zu gewinnen. Er wird eine VorreiterInnenrolle annehmen: Geht er verloren, wird es für die Beschäftigten in anderen Bereichen in Zukunft noch schwieriger werden, sich gegen die Angriffe von Regierung und Kapital zu Wehr zu setzen.