Die Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus und zu den Bezirksverordnetenversammlungen am 17. September 2006 wurden von der Linken in ganz Deutschland und auch darüber hinaus mit großem Interesse verfolgt. Der Grund hierfür war insbesondere die Kandidatur der WASG (Arbeit & soziale Gerechtigkeit – Die Wahlalternative), die mit dem Ziel antrat, eine konsequente Politik gegen die vom "rot-roten Senat" (bestehend aus SPD und Linkspartei.PDS) betriebene neoliberale Sozialabbaupolitik zu stellen.
Der eigenständige Wahlantritt der WASG musste vom Berliner Landesverband gegen die Bundespartei, die sich in einem Fusionsprozess mit der L.PDS befindet, mit Hilfe von bürgerlichen Gerichten durchgesetzt werden. Um die Hintergründe des Antritts der Berliner WASG auch gegen die L.PDS verstehen zu können, ist ein kurzer Blick auf Entstehung und Charakter der WASG von Vorteil.
Gründung der WASG
Die rot-grüne Regierung unter Bundeskanzler Schröder bedeutete nicht nur die Militarisierung der Außenpolitik, so dass der deutsche Imperialismus nun wieder mitbombt (etwa im NATO-Krieg gegen Jugoslawien 1999) und seine Armeen wieder weltweit zur Durchsetzung seiner Interessen einsetzt (so stehen deutsche Truppen unter anderem in Kosova/Kosovo, in Afghanistan, am Horn von Afrika, im Kongo und bald auch vor der Küste des Libanon).
Vor allem wurde eine neoliberale Wirtschafts- und "Sozial"politik eingeschlagen, deren deutlichste Zeichen die "Agenda 2010" und die "Hartz-Gesetze" (am bekanntesten "Hartz IV") waren, scharfe Angriffe auf die ArbeiterInnenklasse. Dagegen bildete sich eine breite Widerstandsfront, deren stärkster Ausdruck die Demonstration von 100.000 Menschen in Berlin am 1. November 2003 war.
In diesem Klima begannen vor allem kleine und mittlere GewerkschaftsfunktionärInnen in der SPD darüber nachzudenken, mit Blick auf die Bundestagswahlen eine neue, "wirklich sozialdemokratische" Partei zu gründen. Im Juli 2004 schlossen sich zwei Initiativen zum Verein "Arbeit & soziale Gerechtigkeit – Die Wahlalternative" (WASG) zusammen, aus dem im Mai 2005 die gleichnamige Partei hervorgehen sollte.
Die Gründungsphase der WASG fiel zusammen mit den Montagsdemonstrationen, hauptsächlich von Arbeitslosen und abhängig Beschäftigten getragene Demonstrationen gegen "Hartz IV", eine sich gegen Arbeitslose wendende Umstrukturierung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe. Die WASG beteiligte sich an diesen Mobilisierungen und stieß auf regen Zuspruch. Arbeitslose, Menschen aus den sozialen Bewegungen, GewerkschafterInnen, radikalisierte KleinbürgerInnen, Leute aus linksradikalen Zusammenhängen, sich auf Trotzkismus berufende Organisationen und ehemalige PDSlerInnen traten ihr bei. Die straff von oben nach unten gegründete WASG füllte sich mit einem regen internen Leben, es kam zu unzähligen Diskussionen, der Aktivitätsgrad der Mitglieder war ungleich höher als bei den anderen bürgerlichen Parteien. Formulierte das offizielle Parteiprogramm weiterhin ein mit marxistischen Versatzstücken gespicktes linkskeynesianistisches Konzept1, wurde das Selbstverständnis der Organisation unter weiten Teilen der Mitgliedschaft eines, dass man eine Sammlungsbewegung sei, die das gemeinsame Ziel habe, konsequent gegen jegliche Art von Sozialabbau aufzutreten. Parlamentarische Vertretungsarbeit solle nur ein Teil der Aufgaben der WASG sein, mindestens genau so wichtig wären außerparlamentarische Mobilisierungen.
Lafontaine kommt
Bei den Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen im Mai 2005 erzielte die WASG mit 2,2% einen Achtungserfolg und ließ die PDS weit hinter sich. Zu diesem Zeitpunkt betrat der ehemalige SPD-Finanzminister Oskar Lafontaine die Bühne. Dieser war verantwortlich für die Einführung neoliberaler Konzepte in die sozialdemokratische Regierungspolitik, brach dann aber mit der Regierung Schröder und entwickelte sich in gewisser Weise nach links. Lafontaine erklärte sich bereit, als Spitzenkandidat zu fungieren, wenn PDS (ab 2005 L.PDS) und WASG gemeinsam zu den Bundestagswahlen kandidieren würden, was nach einigen Diskussionen beschlossen wurde: Bei den Bundestagswahlen im September 2005 errang die L.PDS mit WASG-lerInnen auf ihren Listen mit 8,7% einen deutlichen Erfolg.
Die Gründung der WASG hatte aus revolutionärer Sichtweise zwei positive Aspekte: Einerseits brach eine gesamte Schicht von GewerkschafterInnen von ihrer klassischen Partei, der SPD, nach links – allerdings ohne dabei mit dem Reformismus an sich zu brechen. Und anderseits schaffte sie es, neue Leute zu mobilisieren und für linke Politik zu gewinnen.
Charakter
Nach dem Einzug in den Bundestag bildete sich ein reich mit finanziellen und personellen Mitteln ausgestattetes Machtzentrum, das immer mehr die gewählten Parteistrukturen umging und so schnell zu einer Bürokratisierung der Politik beitrug und beiträgt. Alles in allem blieb die WASG ein linksreformistisches Projekt, dessen Charakter zwischen dem eines Bündnisses gegen Sozialabbau und dem einer bürgerlichen Partei liegt, die sich existenziell auf die fortschrittlichen Teile der organisierten Arbeiter-Innenklasse stützt.
Die Lage der WASG ist regional sehr unterschiedlich, ist sie im Osten Deutschlands wesentlich schwächer als die PDS, so konnte sie diese im Westen rasch überflügeln. Und besteht sie im Süden Deutschlands vornehmlich aus sozialdemokratischen GewerkschafterInnen, ist sie im Norden stärker von AktivistInnen aus sozialen Bewegungen geprägt.
Der Fall Berlin
In Berlin regiert seit Ende 2001 eine Regierung aus SPD und PDS, deren Politik sich nur als soziales Kettensägenmassaker gegen die ArbeiterInnenklasse bezeichnen lässt: Schaffung von über 30.000 Ein-Euro-Jobs (staatlich geförderte Niedriglohnarbeitsplätze), Bruch des Flächentarifvertrages, Privatisierung von 120.000 Wohnungen in Besitz von landeseigenen Wohnbaugesellschaften, Kürzung des Blindengeldes, Abschaffung der Lehrmittelfreiheit (d.h. Eltern müssen für Schulbücher zahlen), um nur einige zu nennen. Die L.PDS führte diese Politik nicht nur mit durch, sie verteidigt sie auch retrospektiv und will sie sogar exemplarisch als weiteres Vorgehen zur Entschuldung der stark verschuldeten Hauptstadt Berlin darstellen.
Diese Politik verschärfte die Krise der Stadt, die sich durch fast 20% Arbeitslosigkeit und einem hohen Anteil von, von sozialen Transferleistungen abhängigen BürgerInnen auszeichnet. Die lokale WASG lehnte deshalb in wiederholten Parteitagsbeschlüssen und einer Urabstimmung unter der Mitgliedschaft eine Vereinigung ab und strebte eine Eigenkandidatur an. Ein zusätzliches Moment dabei spielte die Stärke der radikalen Linken: so stellt die sich als trotzkistisch verstehende SAV zwar nur knapp 10% an Mitgliedschaft und Partei-tagsdelegierten, verfügt aber als einzige organisierte Kraft der Berliner WASG-Linken über einen starken Einfluss, mit Lucy Redler war sogar ein SAV-Mitglied Spitzenkandidatin der WASG. Der Kurs auf eine Separatkandidatur in Berlin stieß allerdings auf vehementen Widerstand des Bundesvorstandes.
Die WASG Berlin beteiligte sich an sozialen Mobilisierungen und betrieb Solidaritätsarbeit mit kämpfenden ArbeiterInnen. Das Wahlprogramm war, obwohl teilweise sehr weitreichend, ein linksreformistisches. Der Wahlkampf der Berliner WASG, getragen von ca. 250 AktivistInnen und unterstützt von ungefähr 200 externen WahlkampfhelferInnen, war ein äußerst engagierter Straßenwahlkampf: in den Wochen vor der Wahl fanden jeweils über 200 Infotische oder Verteilaktionen pro Woche statt. Unzählige Diskussionen über die Frage, wie effizient Widerstand gegen Sozialabbau organisiert werden könne, wurden geführt. Insbesondere vor den Arbeitsämtern war der Zuspruch enorm. Zentrales Moment neben dem Aufruf zur Wahl war die Propagierung von außerparlamentarischem Widerstand.
Das Ergebnis der Wahlen
Die Wahlen vom 17. September 2006 in Berlin brachten ebenso, wie die gleichzeitig stattfindenden in Mecklenburg-Vorpommern, eine deutliche Niederlage für die bundesweit einzigen beiden "rot-roten" Koalitionen aus SPD und Linkspartei.PDS – sie mussten jeweils mit einem Minus von etwa 10% nach Hause gehen. In Berlin verlor die L.PDS 9,2%. Die klassischen bürgerlichen Parteien CDU und FDP konnten von dem Niedergang der sozialdemokratischen Parteien SPD und L.PDS nicht profitieren, von den etablierten Parteien konnten einzig die Grünen mit einem nichts sagenden Wahlkampf in beiden Teilen der Stadt gleichmäßig zulegen. Dies liegt wohl hauptsächlich daran, dass sie (obwohl sie offen für Privatisierungen eintreten) als linke Partei gelten und im Gegensatz zu SPD und L.PDS nicht in der Regierung und somit nicht direkt für die Sozialabbaupolitik verantwortlich waren.
Die WASG erhielt in Berlin mit 2,9% weniger Stimmen als die SeniorInnenpartei "Graue Panther" (3,8%). Erschreckend das Ergebnis der neofaschistischen NPD: Mit 7,3% gelang ihr der Einzug in den Landtag von Mecklenburg-Vorpommern. In Berlin konnten sie im Ostteil der Stadt 4,0% holen, mit bis zu 6,5% gelang der Einzug in vier Bezirksvertretungen.
Die L.PDS verlor fast die Hälfte ihrer Stimmen und 9,2%, im Osten verlor sie fast 20 Prozentpunkte. Dieser massive Einbruch kann nicht nur durch das Wegsterben der DDR-nostalgischen Altbasis erklärt werden, es ist eine tiefe Frustration über die "sozialistische" Realpolitik. Die meisten ehemaligen PDS-WählerInnen blieben zu Hause. Hier konnte teilweise die SPD von den Verlusten der L.PDS profitieren (während im Westen auch sie verlor) und liegt nun mit den Ergebnissen im Osten nicht weit hinter denen im Westen zurück. Die WASG konnte hingegen vom Einbruch der Linkspartei kaum profitieren, 2,9% sind ein Ergebnis, das unter den meisten Erwartungen (und den angestrebten 5%) blieb. Trotzdem muss der Wahlkampf der WASG als positiv gewertet werden. Mit einem sehr geringen Budget gelang es, einen Wahlkampf hinzulegen, der es zumindest partiell schaffte, die neoliberale Sozialabbaupolitik auch gesellschaftlich zu thematisieren.
Allerdings gelang es der WASG anscheinend nicht, sich als glaubhafte Alternative zu präsentieren. Die (völlig gerechtfertigte) Einstellung, dass alle etablierten Parteien vor der Wahl schön reden würden aber nachher Sozialabbau betreiben würden, spiegelt eine Frustration über die etablierten Parteien und den bürgerlichen Parlamentarismus als solchen wider, ohne dass allerdings kämpferische Alternativen glaubwürdig erscheinen. Während also der Zuspruch für die Kritik der WASG auf der Straße sehr groß war und auch die für die Kandidatur nötigen 15.000 Unterschriften recht schnell gesammelt werden konnten, zeigen die gut 40.000 Zweitstimmen (Stimmen für die KandidatInnenlisten der Parteien), dass die WASG nicht weit über ein radikaleres linkes WählerInnenspekrum hinaus ausstrahlen konnte und die Proteststimmen eher anderen Kleinparteien zufiel. Das Wahlergebnis fiel im Osten Berlins besser aus als im Westen (wo die WASG vor allem in armen, stark migrantischen Wahlkreisen punktete).
Perspektiven
Die Wahlen haben die Grenzen des Projekts WASG-Berlin aufgezeigt. War es zwar das beste Ergebnis, das die WASG bei Regionalwahlen je allein erringen konnten, so ist dies zu wenig, um die Debatte um den Parteibildungsprozess der neuen Linkspartei nochmals zu öffnen. Die historische Möglichkeit für Massenpropaganda ist für die nächsten Jahre einmal geschlossen – und 2,9% reichen auch nicht, um mit Folgekampagnen die Leute bei der Stange zu halten. Die Zukunft der WASG Berlin ist sehr ungewiss. Zwar war die Frustration bei den AktivistInnen nach der Wahl geringer als befürchtet, dennoch besteht die Gefahr, dass etliche aus Enttäuschung der Politik den Rücken zuwenden werden.
Drei Konzepte
Im Großen und Ganzen existieren in der WASG Berlin nun drei Strömungen: Der rechte Flügel, der sich gegen die Eigenkandidatur aussprach und zu großen Teilen aktiv (gemeinsam mit dem Bundesvorstand und Lafontaine) die L.PDS unterstützte, versucht das Ergebnis als Abfuhr gleichermaßen für die neoliberalen PDS-Landespolitiker in Ostdeutschland und die kämpferische Linke in der WASG zu werten. Dieser Flügel strebt eine schnelle und reibungslose Liquidation der WASG in der L.PDS an. Die neue Partei wird die Nachteile eines aus dem Stalinismus kommenden bürokratischen internen Regimes mit der Umsetzung neoliberaler "Realpolitik" in Regionalregierungen vereinen, eine PDS-ML wie in Berlin gespottet wird (PDS mit Lafontaine). Auch wenn eine solche Partei – in erster Linie auf die Übernahme der "Regierungsverantwortung" 2009 gerichtet – mit der linken Rhetorik Lafontaines durchaus Einfluss auf sich radikalisierende (Betriebs-)AktivistInnen haben könnte, würden sich wohl gerade die kämpferischsten Exponenten linker Betriebsarbeit, die oft mit der WASG verbunden sind oder diese mit Sympathie betrachten, von einer solchen Partei abwenden.
Ein zweiter Flügel, der vor allem von der WASG-Linken in Nordrhein-Westfalen (vielfach AktivistInnen der sozialen Bewegungen) getragen wird und auch in Berlin über eine gewisse Unterstützung verfügt, propagiert den Aufbau einer "sechsten Partei": Nach Übertritt der WASG-Mehrheit zur Linkspartei soll sozusagen von den linken Kräften eine Neuauflage der WASG gestartet werden, wobei sich an deren reformistischen Charakter nichts ändern soll. Ein Aufbau einer solchen "sechsten Partei", die die parlamentarische Ausrichtung schon im Namen trägt, scheint allerdings kräftemäßig de facto so gut wie un möglich.
Der größte Teil der WASG-Berlin orientiert vorsichtig auf die Schaffung einer Berliner Regionalpartei. Mit dem vorhandenen AktivistInnenpool scheint das eine zeitlich begrenzte Entwicklungsmöglichkeit zu sein. Ob eine solche Partei auf den programmatischen Grundlagen der WASG weiter arbeiten würde oder – dem realen Bewusstsein der meisten AktivistInnen entsprechend – klar antikapitalistische und sozialistische Positionen einnehmen soll, ist umstritten. Sollte sich tatsächlich eine klar sozialistische Konzeption durchsetzen und die "Partei" sich eher an einem Bündnischarakter wie der "London Socialist Alliance" orientieren, gebe dies immerhin der marxistischen Linken in Berlin gewisse Propa-gandamöglichkeiten.
Zentrale Aufgabe
Zentrale Aufgabe der revolutionären Linken darf es allerdings nicht sein, hauptsächlich für die eine oder andere der oben angeführten Perspektive zu streiten. Ihre Hauptaufgabe in nächster Zeit muss es sein, einen Diskussionsprozess zu fördern, Bildungs- und Schulungsarbeit zu leisten und den revolutionären Marxismus zu propagieren. Ein Umfeld hierfür ist in und um die WASG Berlin durchaus vorhanden. Eine perspektivische Ausrichtung darf nicht auf kommende Wahlen fixiert sein, sondern muss auf Grundlage der im Wahlkampf geführten Diskussionen auf eine langfristige und kontinuierliche Betriebs- und auch Stadtteilarbeit abzielen, mit dem langfristigen Ziel des Aufbaus einer revolutionären ArbeiterInnenpartei.
Fußnote:
1) stärkere staatliche Eingriffe und Lenkung der kapitalistischen Wirtschaft, insbesondere die Ankurbelung des Massenkonsums