In den Ländern Mittel- und Südamerikas, wo insgesamt rund 500 Millionen Menschen leben, findet in den letzten Jahren ein Linksruck von kontinentalem Ausmaß statt. Soziale Bewegungen und Klassenkämpfe gewinnen an Intensität. In Venezuela, Bolivien, Argentinien, Brasilien, Uruguay, Ecuador und Chile wurden in den vergangenen Jahren als fortschrittlich geltende Regierungen gewählt und auch in der nächsten Periode sind weitere Linksverschiebungen in verschiedenen Ländern der Region möglich. Die europäische Linke kann an diesem Phänomen nicht spurlos vorbeigehen und ist gefordert, sich dazu zu positionieren, Einschätzungen und Entwicklungsperspektiven abzugeben. Wir wollen im Folgenden aus unserer Sicht einige wesentliche Eckpunkte markieren.
Die Eroberung des Kontinents begann 1492 mit der Fahrt von Christoph Columbus, der eigentlich eine bessere Möglichkeit suchte, den indischen Subkontinent für die europäische Ausbeutung zu erschließen.. Die Besiedelung des amerikanischen Kontinents hatte allerdings bereits rund 15.000 Jahre davor begonnen, als die ersten asiatischen NomadInnen den Weg über die Beringstraße fanden. Im Folgenden entwickelten sich verschiedene Gesellschaftsmodelle vom nomadisch und halbnomadisch bis zu den hoch differenzierten Gesellschaften der Maya, Inka und Aztek-Innen. Doch auch diese konnten dem überlegenen Waffeneinsatz und den Krankheitserregern der spanischen und portugiesischen EroberInnen nichts entgegensetzen und wurden binnen weniger Jahre besiegt. Diejenigen, die überlebt hatten, wurden entweder ausgerottet oder durch Zwangsarbeit getötet (auf Haiti beispielsweise wurde die indigene Bevölkerung binnen 15 Jahren von ursprünglich 500.000 bis einer Million Menschen auf rund 60.000 reduziert). Bald mussten schwarze SklavInnen aus Afrika im-portiert werden, um den Arbeitskräftebedarf des Kolonialismus zu decken, was auch zu einer nachhaltigen Veränderung der Bevölkerungsstruktur geführt hat. Diese SklavInnen und der Handel mit ihnen sowie die Rohstoffe Mittel- und Südamerikas (und Asiens) waren verantwortlich für den Aufstieg der europäischen Staaten, vor allem Spaniens, Portugals und später Frankreichs und Großbritanniens, zu weltweit bedeutenden Kolonialmächten.
Bereits im Jahr 1494 wurde Südamerika im Vertrag von Tordesillas zwischen Spanien und Portugal aufgeteilt. Der östliche Teil, auf dem sich heute Brasilien befindet, wurde Portugal zugeschlagen, der westliche Spanien. Deshalb wird in Brasilien heute Portugiesisch gesprochen, während in fast allen anderen mittel- und südamerikanischen Staaten die Landessprache Spanisch ist. Daneben gibt es einige kleinere Länder oder Kolonien, in denen Französisch bzw. Kreolisch (Französisch-Guyana, Haiti, Guadeloupe, Martinique, …), Niederländisch (Surinam, Nieder-ländische Antillen) und Englisch (Guyana, Jamaika, Puerto Rico, Virgin Islands, Antigua, …) gesprochen wird. Hinzukommen zahlreiche Indigenensprachen, wobei der Indigenen-Anteil in verschiedenen Ländern sehr unterschiedlich ist und von kleineren Minderheiten bis zu einer Mehrheit der BewohnerInnen, wie etwa in Bolivien, reicht. In einzelnen Ländern, z.B. Guatemala, ist die sprachliche Vielfalt der Indigenos/as dabei so verzweigt, dass dies die politische Organisierung der Indigenen äußerst schwierig macht. Doch insgesamt unterstützt das dominierende Spanisch überregionale Organisierungen, da ein sehr großer gemeinsamer Sprachraum besteht, in dem die Aufmerksamkeit für die Situationen in angrenzenden Ländern sehr hoch ist und Bewegungen sich gegenseitig vorwärts treiben können.
Der Widerstand gegen die Kolonialmacht nahm unterschiedliche Formen an. Einerseits gab es immer wieder Aufstände der indigenen Bevölkerung gegen die Kolonialmächte, so etwa in Peru 1780 unter Tupac Amaru. Andererseits versuchten sich die SklavInnen aus ihrem Joch zu befreien und flüchteten oder erhoben sich gegen die UnterdrückerInnen. In der französischen Kolonie Saint-Domingue war dies in Folge der französi-schen Revolution von 1789 erfolgreich: die SklavInnen besiegten englische und – nachdem Napoleon die von den JakobinerInnen abgeschaffte Sklaverei wieder eingeführt hatte – französische Kolonialherren und gründeten den Staat Haiti.
Am Anfang des 18. Jahrhunderts war die spanische Krone massiv geschwächt, Ausdruck davon war die Eroberung Spaniens durch Napoleon. Dies hatte auch Auswirkungen auf die Kolonien, der spanischstämmige Nationalist Simon Bolívar begann einen Unabhängigkeitskampf gegen die Kolonialherrschaft. Seine hauptsächlichen Verbündeten waren dabei allerdings VertreterInnen der spanischen („kreolischen“) Oberschicht, SklavInnen und Indigene waren für ihn kein Bezugspunkt, kein Wunder, ging es doch vor allem um nationale und nicht um soziale Befreiung. Schließlich wurden unter seiner Führung Venezuela, Kolumbien, Ecuador, Peru und Bolivien (das nach Bolívar benannt ist) von der Kolonial-herrschaft befreit. Bolívar gilt bis heute in Mittel- und Südamerika als Vorbild im Kampf gegen Kolonialismus, entsprechend bezeichnet sich Venezuela heute als „bolivarische Republik“.
Ausdruck dieses antikolonialen Selbstverständnisses in Mittel- und Südamerika ist bis heute ein sehr unbeschwertes Verhältnis zum Umgang mit Nationalfahnen oder nationalen Symbolen, die vor allem positiv wahr-genommen werden. Oft ist für Außenstehende auf den ersten Blick kaum erkennbar, ob eine Demonstration von fortschrittlichen oder von reaktio-nären Kräften organisiert wird, weil überall Nationalfahnen dominieren. Zu verstehen, dass nationale Symbole in Mittel- und Südamerika einen anderen Stellenwert haben als in Europa, bedeutet aber nicht, vor diesem Nationalismus zurückzuweichen.
Nach dem Abschütteln der Kolonialherrschaft gab es Konflikte zwischen verschiedenen Kapitalfraktionen, die mit denjenigen im BürgerInnenkrieg in den USA zwischen den kapitalistischen Nordstaaten und den Südstaaten, wo mit SklavInnenarbeit Baumwolle für die britische Textilindustrie produziert wurde, verglichen werden könnten. Allerdings gewannen in Mittel- und Südamerika jene Kapitalfraktionen, die denen in den Süd-staaten der USA entsprachen. Dieser historische Prozess führte auch zu Parteibildungsprozessen, die mit denen in den USA vergleichbar sind, in vielen Mittel- und Südamerikanischen Ländern gab es lange Zeit ein bürgerliches Zwei-Parteien-System, das dem der Demokraten und den Republikaner der USA ähnelt.
Eine wesentliche ungelöste Frage war und ist bis heute die Landfrage. Alle heimischen Kapitalfraktionen sind eng mit dem Landbesitz und dem Feudalsystem verknüpft, daher gab es nie eine nachhaltige Landreform nach europäischem Muster. Aufstände, Guerillabewegungen und Bürger-Innenkriege rund um die Verteilung des Landes spielten daher ab dem 19. Jahrhundert eine wesentliche Rolle. Stellvertretend seien die Aufstände in Mexiko ab 1911 unter Emiliano Zapata, in Nicaragua in den 20er und 30er Jahren des 20. Jahrhunderts unter Augusto Sandino sowie in El Salvador 1932 unter Augustín Farabundo Martí genannt.
Das 20. Jahrhundert sah eine beschränkte Industrialisierung und damit auch das Aufkommen einer eigenständigen ArbeiterInnenbewegung. Aller-dings organisierte sich – wie auch in anderen Teilen der halbkolonialen Welt – die ArbeiterInnenbewegung teilweise als Flügel bürgerlich-nationalistischer Parteien und bildete keine eigenen relevanten sozialis-tischen Organisationen aus. Die Gründung der ersten ArbeiterInnen-parteien erfolgte zuerst in jenen Ländern, welche die frühesten Indus-trialisierungsschübe durchlaufen hatten (Argentinien 1895, Chile 1912). In Argentinien, wo das Industrieproletariat früh zu einer bedeutenden gesellschaftlichen Klasse geworden war, entstanden bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts Massengewerkschaften. Die Streiks und Bewegungen dieser Gewerkschaften zeichneten sich durch ihre Heftigkeit und Radi-kalität aus. Die Auswirkungen der Oktoberrevolution von 1917 erreichten Mittel- und Südamerika allerdings recht spät, die entstehenden Kommunis-tischen Parteien waren so oft schon bei ihrer Gründung stalinisiert.
Gegen Ende des 19. Jahrhundert war die koloniale Aufteilung der Welt im Wesentlichen abgeschlossen, der Kapitalismus trat in sein imperialistisches Stadium. Somit stellte sich auch in Mittel- und Südamerika die Frage des Einflusses der verschiedenen Großmächte (und bis heute halten Frankreich, Großbritannien, die USA und die Niederlande Kolonien in Mittel- und Südamerika oder der Karibik). Bereits 1823 wurde unter US-Präsident James Monroe die so genannte Monroe-Doktrin verabschiedet, die den Anspruch der USA auf Mittel- und Südamerika festlegte, der in den folgenden Jahrzehnten weitgehend durchgesetzt werden konnte. Und auch Nazi-Deutschland versuchte dann in den dreißiger und vierziger Jahren des 20. Jahrhunderts, sich in der Region Verbündete und Unterstützung zu beschaffen und konnte dabei auf die Sympathien großer Teile der spanischstämmigen Oberschicht zählen (die sich auch den reaktionären Diktaturen in Spanien unter Francisco Franco bzw. in Portugal unter António Salazar verbunden fühlte).
Das 20. Jahrhundert war auch eine Geschichte von Interventionen des US-Imperialismus, um seine Vormachtstellung in Mittel- und Südamerika zu sichern. Reguläre US-Truppen, von den USA unterstützte Söldnerbanden oder einheimische KapitalistInnen mit US-Unterstützung sicherten den Einfluss der USA. Missliebige Regierungen wurden destabilisiert oder militärisch abgesetzt.
Gleichzeitig bildeten sich auch immer wieder „fortschrittliche“ bürgerliche Regierungen, die unter dem Druck der Bevölkerung teils relativ radikale Maßnahmen setzten. Diese Regierungen waren Produkt der Widersprüche der mittel- und südamerikanischen Gesellschaft. Die Rohstoffe der Region waren über Jahrhunderte vom europäischen und später US-amerikanischen Imperialismus ausgebeutet worden. In dieser Frage gab (und gibt) es in großen Teilen der Bevölkerung ein hohes Unrechtsbewusstsein und immer wieder großen Druck zur Rückholung der „eigenen Reichtümer“, dem manche Regierungen mit teils nicht unerheblichen Verstaatlichungen nachkamen. Diese Verstaatlichungen betrafen fast ausschließlich den Rohstoffbereich und multinationale Konzerne – hier trafen sich die Forderungen der ArbeiterInnen und Bauern/Bäuerinnen oft auch mit den Interessen der einheimischen Bourgeoisie. So verstaatlichte die linksnationalistische mexikanische Cárdenas-Regierung in den 30er Jahren die Erdölindustrie in Mexiko. Ihre politische Ausrichtung spiegelte sich auch in der Außen- und Einwanderungspolitik wider: Mexiko war neben der stalinistischen Sowjetunion das einzige Land, welches das republikanische Spanien unterstützte. ExilantInnen und Flüchtlinge fanden in Mexiko Zuflucht. Der berühmteste dieser „Transterrados“ war der russische Revolutionär Leo Trotzki, der 1940 in Mexico City von einem stalinistischen Agenten ermordet wurde. Und auch nach dem 2. Weltkrieg konnten in Mittel- und Südamerika immer wieder fortschrittlich-bürgerlich Regierungen an die Macht gelangen, die zumindest kleine Verbesserungen für die ArbeiterInnenklasse und die Bauern und Bäuerinnen erreichten – manchmal im Bündnis mit Teilen der Linken, vor allem den Kommunistischen Parteien, oft auch in Verbindung mit Repression gegen diese (und manchmal in einem Wechselspiel zwischen beiden Varianten). Das bekannteste Beispiel dafür ist der nach dem argentinischen Präsidenten Juan Domingo Perón Sosa benannten Peronismus in Argentinien.
Ein wesentlicher Aspekt für die Möglichkeit der Existenz dieser Regierungen war auch der in Folge des 2. Weltkriegs und der chinesischen Revolution von 1949 massiv steigende weltweite Einfluss des Stalinismus und damit die Möglichkeit des Lavierens zwischen verschiedenen Blöcken. Und auch für viele Menschen in Mittel- und Südamerika stellte der Stalinismus eine attraktive und fortschrittliche Alternative zum Kapialis-mus dar.
Während des 2. Weltkriegs und nach seinem Ende waren Lebensmittel eine begehrte Ware. Länder wie Argentinien konnten mit ihrem Verkauf an das hungernde Europa ihren Lebensstandard heben, Argentinien etwa hatte zeitweise den fünfthöchsten Lebensstandard der Welt (und Staatschef Peron konnte so seine Sozialreformen finanzieren). Doch auf längere Sicht gesehen und unter dem Druck der sich stabilisierenden Weltökonomie blieb dieser Zustand eine Episode.
Die meisten mittel- und südamerikanischen Staaten blieben im 2. Weltkrieg vorerst neutral und traten erst spät und auf nachdrückliche Aufforderung der USA auf Seiten der Alliierten in den Krieg ein. Portugal und Spanien selbst waren trotz ihrer rechtsextremen Militärdiktaturen neutral geblieben. Der westliche Imperialismus bedankte sich, indem die dortigen Machthaber nach dem 2. Weltkrieg ungebrochen bis zur portugiesischen Nelkenrevolution 1974 bzw. bis zu Francos Tod 1975 regieren konnten. Nach dem 2. Weltkrieg waren Mittel- und Südamerika für viele ehemalige Nazis Asylland, auch der Vatikan und die CIA halfen ihnen mit der so genannten Rattenlinie bei ihrer Flucht. Im später folgenden Zyklus von Militärdiktaturen waren diese „ExpertInnen“ will-kommene HelferInnen. Nach Kriegsende war der Kontinent weiter instabil, viele Länder waren von kurzen und abwechselnden Perioden zwischen reaktionären oder fortschrittlichen bürgerlichen Regierungen und rechts-extremen Militärdiktaturen dominiert, Putsche und Putschversuche waren fast an der Tagesordnung.
Doch auch die Linke meldete sich zu Wort: in Bolivien erzwang eine sozialrevolutionäre Bewegung im Jahr 1952 umfangreiche Reformen (Verstaatlichungen, Landreform, BürgerInnenrechte für Indigene, teilweise Umwandlung der Armee in ArbeiterInnenmilizen). Diese Revolution stand stark unter dem Einfluss von Organisationen, die aus trotzkistischer Tradition stammten, so hatte die BergarbeiterInnengewerkschaft, die wichtigste Gewerkschaft in Bolivien, 1946 ein sich am trotzkistischen Übergangsprogramm orientierendes Grundlagendokument, die „Thesen von Pulacayao“, angenommen, das bei seiner Gründung 1952 auch vom Gewerkschaftsdachverband COB verabschiedet wurde. Die Revolution blieb allerdings auf Grund der objektiven Situation und auch auf Grund der inkonsequenten Politik der trotzkistischen Organisation POR rund um Guillermo Lora stecken und konnte keine nachhaltige sozialistische Entwicklung in Gang setzen. Doch die Traditionen der Revolution von 1952 finden sich in der heutigen Bewegung in Bolivien wieder.
Die wesentlichste Umwälzung nach dem Krieg war aber zweifellos die kubanische Revolution. Im Jahr 1953 begann die Guerilla unter Fidel Castro und Che Guevara ihren Kampf mit dem Angriff auf die Moncada-Kaserne, der 1959 in der siegreichen Revolution gegen das Batista-Regime und dem Einmarsch der Guerilla in Havanna mündete. Anfänglich war die Revolution keineswegs als Umwälzung der Eigentumsverhältnisse geplant (Fidel Fidel Castros politische Vorbilder waren nicht Marx oder Lenin sondern die bürgerlichen amerikanischen Revolutionäre Jefferson und Washington, er erklärte: „Unsere Revolution ist eine grüne, keine rote“). Doch unter dem Druck der städtischen ArbeiterInnenklasse und der bäuerlichen Massen sowie der Frontstellung, die die USA gegen die neuen MachthaberInnen einnahm, wendeten sich Castro und Guevara der stalinistischen Sowjetunion zu und begannen mit der Vergesellschaftung der Produktionsmittel und dem Aufbau eines deformierten Arbeiter-Innenstaats nach dem Vorbild der stalinistischen Staaten Mittel- und Osteuropas. In den folgenden Jahrzehnten und bis heute war und ist Kuba Vorbild für viele Linke in Mittel- und Südamerika, die sehen, dass die planende Wirtschaft auch in ihrer bürokratisierten Form dem kapitalis-tischen Chaos überlegen ist. Bis heute ist Kuba auch ein Stachel im Fleisch des US-Imperialismus, der die kubanische Wirtschaft durch einen Boykott seit Jahrzehnten destabilisiert.
Nach dem Zusammenbruch des Stalinismus von 1989-1991 stand Kuba, das kaum industrialisiert worden war und von der Sowjetunion die Rolle als Rohstofflieferant zugewiesen bekommen hatte, mit dem Rücken zur Wand. Damit einher ging ein Rechtsruck und eine Hinwendung zur EU. Als Beispiele für diesen Rechtsruck seien die zahlreichen Joint-Ventures mit ausländischen Betrieben, der Besuch des Erzreaktionärs Karol Wojtyla („Papst Johannes Paul II“) oder auch der nationalistische Ton der Parolen in den 90ern („Sozialismus oder Tod“ wurde durch „Vaterland oder Tod“ ersetzt) genannt. Wie sich die Situation in Kuba weiter entwickeln wird, ist nicht absehbar. Letztlich wird nur die internatonale ArbeiterInnenklasse durch einen Angriff auf den weltweiten Kapitalismus nicht nur die Errungenschaften der kubanischen Revolution verteidigen, sondern diese auch ausweiten können mittels einer politischen Revolution gegen die dort herrschende Bürokratie. Unter den gegenwärtigen weltpolitischen (Klassenkampf-) Bedingungen und der Organisierung der ArbeiterInnen-avantgarde wird aber Kuba weiter massivem Druck des (US-)Imperialis-mus ausgesetzt und von kapitalistischer Restauration bedroht sein. Und das, obwohl heute durch die Entwicklung in den anderen Staaten des Kontinents und vor allem durch die Öllieferungen Venezuelas die Spielräume der kubanischen Bürokratie wieder größer sind als noch vor einigen Jahren. MarxistInnen verteidigen die sozialen Errungenschaften und vor allem die nachkapitalistische Produktionsweise Kubas gegen den Imperialismus und würden sich im Falle eines imperialistischen Angriffs kritisch, aber bedingungslos an die Seite Kubas stellen. Gleichzeitig treten MarxistInnen für eine politische Revolution gegen die kubanische Büro-kratie und für den Aufbau eines echten ArbeiterInnenstaates ein.
Ein Ausdruck der instabilen Lage war und ist die Bereitschaft der herr-schenden Klassen Mittel- und Südamerikas, auf die militärische Karte zu setzen. In der Mehrzahl der Länder der Region existierten über längere Zeiträume blutige Militärdiktaturen nach faschistischem Vorbild, die die Linke und die Gewerkschaften brutal unterdrückten. Vor allem zwei Jahr-zehnte lang – von 1965 bis 1985 – dominierten Militärdiktaturen das politische Gesicht Lateinamerikas. Im Jahre 1976 wurden nur noch (das quasi-autoritär regierte) Mexiko, Venezuela, Kolumbien und Costa Rica nicht diktatorisch regiert. Rechtsextreme Diktatoren und das Militär regierten beispielsweise in Argentinien (1966-1973 und 1976-1983), Bolivien (1971-1979 und danach zeitweise bis 1985), Brasilien (1964-1985), Chile (1973-1989), Guatemala (1954-1986), Honduras (1963-1982), Nicaragua (1933-1979), Paraguay (1954-1989) oder Uruguay (1973-1985).
All diese Diktaturen wurden direkt vom US-State Departments und der CIA eingesetzt oder genossen zumindest deren Unterstützung. Allein nach dem 2. Weltkrieg intervenierten die USA selbst militärisch offen oder verdeckt in El Salvador, der Dominikanischen Republik, Nicaragua, Grenada, Bolivien, Panama, Haiti, Honduras, Guatemala, Guyana, Chile und Peru.
Ein Beispiel für diese Interventionen und gleichzeitig ein weiterer wesent-licher Versuch, den Kapitalismus in Frage zu stellen, war die Volksfront-Regierung in Chile unter Salvador Allende von 1970-1973. Die sogenannte „Volksfront“, ein Zusammenschluss aus sozialdemokratischer Sozialis-tischer Partei, stalinistischer Kommunistischer Partei und einigen kleineren linken und bürgerlichen Parteien, versuchte in diesen 3 Jahren in der Regierung den Spagat zwischen den Forderungen der Massenbewegung auf der einen Seite und den „Sachzwängen“ des Kapitalismus und den Wünschen der bürgerlichen Kräfte auf der anderen Seite zu bewältigen. Die „Volksfront“ glaubte, getreu dem stalinistischen Etappenkonzept, substantielle Verbesserungen für die Massen ohne einen Bruch bzw. in Kooperation mit den kapitalistischen Eliten, dem Staatsapparat, dem Militär und der US-Botschaft erreichen zu können. Der Putsch von Augusto Pinochet, den Allende selbst als Zugeständnis an die Rechte zum Oberbefehlshaber ernannt hatte, ertränkte diese Illusion in Blut, bis zu 80.000 Menschen wurden ermordet. Bis 1990, also 17 Jahre, hielt die Diktatur das Land in brutaler Geiselhaft, die Unterdrückung der Linken ging einher mit wirtschaftsliberalen Experimenten der „Chicago Boys“, eines neoliberalen US-Think-Tanks. Nach dem Rückkehr der bürgerlichen Demokratie im Jahr 1990 im Zuge des Zusammenbruchs einer ganzen Reihe von Diktaturen nach dem Ende des Stalinismus änderte sich zwar das äußere Erscheinungsbild des Staates, doch die herrschenden Eliten wurden nicht angetastet (und konnten mit der neuen Regierungsform weitaus konfliktfreier und gefahrloser weiter regieren). Mit der Wahl der Sozialdemokratin Michelle Bachelet bei den Präsidentschaftswahlen Anfang 2006 hat sich auch Chile in die Reihe der Länder eingereiht, in denen in Europa von einem Linksruck gesprochen wird – allerdings war tatsächlich bereits ihr Vorgänger Ricardo Lagos ein Sozialdemokrat, insofern kann hier nicht von einer qualitativen Veränderung gesprochen werden.
Ebenfalls in Frage gestellt wurde der Kapitalismus in Nicaragua im Jahr 1979 nach einer fast 50 Jahre andauernden Diktatur mit dem Sieg der FSLN (Frente Sandinista de Liberación Nacional), die sich in ihrem Namen auf den Aufstand von Augusto Sandino gegen die Diktatur Somoza-Clans in den 20er und 30er Jahren bezog (der selbe Clan regierte dann bis 1979 das Land). Ähnlich wie die chilenische Volksfront war die FSLN allerdings nicht bereit, den Bruch mit dem Kapitalismus zu vollziehen. Nach einer jahrelangen militärischen und wirtschaftlichen Destabilisierungskampagne unter Anleitung der USA, die auch die konterrevolutionären Contras in ihrem BürgerInnenkrieg gegen die SandinistInnen ausrüsteten, wurden die SandinistInnen 1990 schließlich von der demoralisierten Bevölkerung abgewählt.
Sowohl die FSLN wie die M-26 von Castro und Guevara sind exem-plarische Beispiele für Guerillaorganisationen, wie sie in Mittel- und Südamerika weit verbreitet waren und sind. Zumeist machen sie den länd-lichen Raum zu ihrem Kampfgebiet, wo sie versuchen, den bewaffneten Kräften des Staates nadelstichartige Niederlagen beizubringen und im Idealfall immer größere befreite Gebiete unter ihre Kontrolle zu bringen. Den größten Einfluss haben Guerillagruppen heute in Mexiko (EZLN) und Kolumbien (FARC-EP, ELN). Eine weniger einflussreiche Tendenz stellte die Stadtguerilla dar, deren bekanntestes Beispiel die Tupamaros in Uruguay waren. Vor allem am Vorbild dieser Stadtguerilla und ihrer Kon-zepte (und hier besonders den Schriften des brasilianischen Stadt-guerilleros Carlos Marighella) orientierten sich auch westeuropäische Gruppen wie die deutsche RAF, die französische AD, die belgischen CCC und die italienischen Roten Brigaden.
Die meisten dieser Guerillagruppen orientierten und orientieren sich nicht am Kampf der städtischen ArbeiterInnenklasse, sondern versuchen, die Städte von Außen einzunehmen. Städtische Gruppen sind bestenfalls Unterstützung und Hilfe. In manchen Fällen, etwa in der Intervention von Che Guevara in Bolivien, drückte sich auch direktes Misstrauen gegen die ArbeiterInnenklasse aus: Anstatt auf die realen Kämpfe der BergarbeiterInnen zu orientieren, versuchte Guevara, den revolutionären Prozess abseits der realen Bewegung militärisch voranzutreiben und schei-terte. Guerillaabteilungen können in manchen Phasen für revolutionäre Parteien als Unterstützung der Kämpfe der ArbeiterInnenklasse ein sinn-volles Mittel sein. Sich aber primär oder ausschließlich auf diese Art des Kampfes zu stützen, bringt die ArbeiterInnenklasse in eine abwartende Position, wo die Guerilla bzw. die bewaffneten Gruppen von Außen stell-vertretend kämpfen und die Befreiung bringen. Die Selbstorganisierung der städtischen Massen vor, während und nach dem Sieg des Umsturzes wird so behindert und ist in Mittel- und Südamerika von der Guerilla zumeist auch nicht vorgesehen (diese Systematik machte es z.B. in Kuba nach dem Sieg der Revolution auch sehr leicht, eine stalinistische Diktatur zu etablieren).
Die 80er Jahre sahen in Mittel- und Südamerika den, zumeist friedlichen, Übergang der verschiedenen Militärdiktaturen zu bürgerlichen Demo-kratien – oft mit immer noch stark autoritärem Einschlag. Eine tatsächliche Abrechnung mit den Verantwortlichen fand nicht statt, unter anderem Namen konnten sie in den meisten Fällen weiter regieren. Die neuen Regierungen brachten zwar in mehr oder weniger beschränktem Umfang bürgerliche Freiheiten, doch wirtschaftlich setzten sie neoliberale Konzepte teils sogar verstärkt fort und um. Ihre hauptsächlichen Ansprechpartner waren der IWF (Internationaler Währungsfonds) und die Weltbank mit ihren „Strukturanpassungsprogrammen“, die Privatisierung, Liberalisier-ung und Sozialabbau bedeuten. Sie öffneten ihre Länder für ausländische InvestorInnen und begannen eine Privatisierungsoffensive, die nationale Industrien ebenso umfasste wie wesentliche Teile der Infrastruktur, be-sonders im Bereich der Telekommunikation sowie der Strom- und Wasserversorgung.
Der Beginn der 90er Jahre war geprägt vom Zusammenbruch des Stalinismus von 1989-1991 und einer damit einhergehenden Stagnation sozialer Kämpfe sowie dem Rechtsruck vieler Parteien der Arbeiter-Innenklasse, vor allem solcher aus stalinistischer Tradition. Denn gerade in den kolonialisierten Ländern des Südens stellte der Stalinismus bis dahin für viele ein Beispiel für eine Alternative zum Kapitalismus dar, da er trotz der bürokratisierten Form der Planwirtschaft in etlichen Ländern, unter anderem auch in Kuba, soziale Fortschritte für große Teile der Bevölkerung erzielen konnte.
Nach der Periode des Zusammenbruchs des Stalinismus wurde mit dem Aufstand der mexikanischen Indigenenorganisation EZLN (Ejército Zapatista de Liberación Nacional), die sich mit ihrem Namen auf den Bauern/Bäuerinnenbefreier Emiliano Zapata bezog, am 1. Jänner 1994 ein neues und weltweit beachtetes Kapitel sozialer Kämpfe aufgeschlagen. Die EZLN, die bis heute aktiv ist, war mit ihrem Aufstand in einer Zeit der Apathie für viele Linke, auch in Europa, ein wesentlicher Referenzpunkt, Subcommandante Marcos, der Sprecher der EZLN, wurde eine Zeitlang fast so „in“ wie Che Guevara. So wesentlich der Aufstand der EZLN in dieser Zeit gewesen ist, darf die Sympathie für diesen doch nicht darüber hinweg täuschen, dass er wesentliche Probleme der Guerillabewegung reproduziert hat, vor allem aber, dass die ZapatistInnen ihren mittlerweile sehr großen Einfluss in Mexiko nicht für die Propagierung einer revolutionären Alternative nützen, sondern im Rahmen des Kapitalismus verharren.
Der Aufstand der EZLN war ein international besonders wahrgenommener Ausdruck der sich verändernden politischen Stimmung in Lateinamerika, doch sowohl davor wie danach waren soziale Bewegungen am Kontinent, vor allem im Kampf gegen IWF-Programme und Privatisierung, aktiv. Ein sehr weit fortgeschrittenes Beispiel war Ecuador: 1997 wurde Präsident Bucaram von einer Massenbewegung gestürzt, nachdem er ein halbes Jahr zuvor auf Basis sozialer Versprechungen gewählt wurde und diese dann gebrochen hatte. Im Jänner 2000 wurde der nächste Präsident, Jamil Mahuad, gestürzt und musste den Präsidentensessel räumen, nachdem er versucht hatte, die ecuadorianische Währung Sucre durch den US-Dollar zu ersetzen. Im Jahr 2002 schließlich wurde Lucio Gutiérrez zum neuen Präsidenten gewählt. Gutiérrez war ein äußerst populärer Offizier, der im Jahr 2000 bekannt geworden war, nachdem er auf die Seite der aufständischen Bewegung gegen Mahuad übergegangen war und einen kurzfristigen Putsch angeführt hatte. Gutiérrez selbst wurde dann allerdings im April 2005 ebenfalls gestürzt, nachdem er seine Wahl-versprechen an die Massenbewegung gebrochen hatte und selbst auf die Seite des Neoliberalismus übergegangen war. Drei Präsidenten verbrauchte die Bewegung also in 10 Jahren. Doch die Bewegung hatte keine revo-lutionären Organisationen und damit keine weiterführende Perspektive: Der Sturz der Präsidenten bedeutete keinen Wandel der Politik, in allen drei Fällen wurden die Präsidenten schlicht durch ihre Vizepräsidenten ersetzt. Die Bewegung testete immer neue bürgerliche Populisten, doch war die spontane Bewegung nicht dazu in der Lage, ein alternatives politisches Konzept anzubieten bzw. auf der Wahlebene zu verankern.
Vor allem bekannt wurden aber die Demonstrationen des argentinischen Cacerolazo, eines Massenaufstands im Dezember 2000 und Jänner 2001, der unter dem Motto: „Sie sollen alle abhauen, kein einziger soll bleiben“ vier Präsidenten in zwei Wochen stürzte. Doch irgendwann erschöpfte sich der Elan der Bewegung, der fünfte Präsident konnte als Übergangskandidat am Ruder bleiben, bei den folgenden Wahlen gewann der Peronist Néstor Kirchner. Dieser Kirchner gilt heute dennoch als einer der Vertreter des Linksrucks auf dem Kontinent und als schwankendes Bindeglied zwischen den offen reformistischen Kräften, etwa Brasiliens Lula da Silva, Chiles Michelle Bachelet oder Uruguays Tabaré Vázquez und den radikaleren Kräften rund um Hugo Chávez aus Venezuela und Evo Morales aus Bolivien.
Wesentlich bleibt festzuhalten, dass die Situation in Mittel- und Südamerika zwar von einem allgemeinen Linksruck geprägt ist, dieser aber in unterschiedlichen Ländern sehr unterschiedliche Formen annimmt, von relativ radikalen Bewegungen wie in Venezuela und Bolivien bis hin zu sozialdemokratischen Ausrichtungen in Chile oder Brasilien. Dieser Prozess ist differenziert und muss daher auch differenziert und länderspezifisch betrachtet werden. Dennoch lassen sich einige Gemein-samkeiten festhalten.
Alle „linken“ Parteien, die heute in Mittel- und Südamerika an die Macht gewählt werden, stehen vor ähnlichen Fragen. Trotz einer deutlichen wirt-schaftlichen Erholung in den letzten Jahren sind die Verteilungsspielräume in den meisten Ländern relativ eng (Südamerika hinkte im Jahr 2005 mit einem Wirtschaftswachstum von 4,3 Prozent den Entwicklungsländern mit durchschnittlich 5,7 Prozent hinterher und wurde deutlich von China mit 9 Prozent sowie Indien mit 7 Prozent Wachstum überflügelt), die meisten der Parteien suchen nach einem Weg zwischen staatlichen Interventionen und offen neoliberalen Konzeptionen, die etwas radikaleren nach einem „dritten Weg“ zwischen Kapitalismus und Sozialismus. Doch jene, die sich in diesem Gassengewirr verirren, finden sich, wie Brasiliens Lula, mittelfristig fast zwangsläufig in der Straße des Neoliberalismus wieder.
Die „progressiven“ Regierungen bemühen sich, ihre moderate Wirtschafts- und Finanzpolitik mit einer stärkeren Akzentuierung der sozialen Gerechtigkeit zu verzahnen. Fiskalische Disziplin, die Bedienung der (unter Berechnung des Zinsendienstes) schon lange abgezahlten inter-nationalen Schulden und eine hohe Attraktivität für ausländische Anleger-Innen gelten allerdings zumeist weiterhin als unantastbare Prinzipien, parallel werden Sozialprogramme für die Ärmsten aufgelegt. Dies kommt auch einem Teil der einheimischen Kapitalfraktionen entgegen, die eine Modernisierung des Landes, begleitet von Alphabetisierungsmaßnahmen und einer gewissen Grundversorgung, die politisch stabilisierend wirkt, nicht ungern sehen, solange damit ihre Profite nicht relevant angegriffen werden. Begünstigt wird dieser Kurs durch die aktuell vorteilhaften Weltmarktpreise für viele lateinamerikanische Rohstoffe und Primärgüter, was vor allem Venezuela zu Gute kommt. Der Öl- und Gaspreis wird in den nächsten Jahren auch relativ stabil hoch bleiben, was die Verteilungsspielräume erweitert, doch die generelle Frage der Verteilung des Reichtums und des Eigentums an Produktionsmitteln und Rohstoffen, die von immer mehr Menschen gestellt wird, kann so nicht beantwortet werden. Dabei ist die Erwartungshaltung an die neuen MachthaberInnen relativ groß, wenn diese enttäuscht wird, weil sich die reformistische Linke (wie etwa in Brasilien) als die bessere Marionette des Kapitals herausstellt, ist ein Durchmarsch autoritärer und populistischer Polit-Caudillos nicht ausgeschlossen, falls es nicht gelingt eine glaubwürdige revolutionäre Alternative zu verankern.
Weltweit die meiste Beachtung finden zweifellos die politischen Prozesse in Venezuela. Im Jahr 1998 wurde der ehemalige Fallschirmspringer-offizier Hugo Chávez Frias mit 56% der Stimmen zum Präsidenten des Landes gewählt. Chávez, der bereits 1992 Anführer eines Putsch gewesen war und dafür 2 Jahre ins Gefängnis musste, ist ein typischer Vertreter einer Tradition, die wir in (halb-)kolonialisierten Ländern (aber auch z.B. in der portugiesischen Nelkenrevolution) des Öfteren finden: der Typus des fortschrittlichen Offiziers oder Soldaten, zumeist selbst aus ärmlichen Verhältnissen stammend, der sich über seine Arbeit im Repressionsapparat politisiert, nach links geht und schließlich – seiner militärischen Logik folgend – versucht, das System durch einen Putsch und eine fortschrittliche Militärregierung zu verändern (während in Konsequenz die Massen gleichzeitig passiv bleiben und zu Statisten degradiert werden). Doch Chávez veränderte seine Positionen und kandidierte mit seiner Partei, der MVR (Bewegung für eine Fünfte Republik) erfolgreich bei den Wahlen 1998.
Nach der großen Ölkrise 1973 waren die Einkünfte Venezuelas aus dem Ölexport rapide gestiegen, das Land wurde zu einem der wohlhabendsten in Südamerika. Damit einher ging eine Phase der politischen Stabilität, doch mit dem Einbruch des Ölpreises ab 1983 brachen diese Einkünfte weg, was eine anhaltende Wirtschaftskrise nach sich zog. In Folge versuchten die verschiedenen Regierungen, die daraus entstehenden Probleme nach Weisungen des Internationalen Währungsfonds (IWF) mit neoliberalen „Reformen“ zu lösen. Das führte im Februar 1989 zum so genannten Caracazo, einem von den Slums der Hauptstadt Caracas ausgehenden Aufstand – bei der Niederschlagung dieses Aufstandes wurden bis zu 5000 Menschen getötet. Dies wiederum war eine der Vorbedingungen des Putsches von 1992 und in Folge der Wahl von Chávez 6 Jahre später.
Zu Beginn unterschied sich Chávez, der seine linksnationalistische politische Theorie in Anlehnung an Simon Bolívar „Bolivarismus“ nennt, nicht wesentlich von anderen linksreformistischen Präsidenten in Mittel- und Südamerika. Am Beginn seiner Regierungszeit setzte Chávez sehr widersprüchliche Zeichen, fortschrittlichen Maßnahmen standen reaktio-näre Maßnahmen gegenüber. So garantierte die neue Verfassung von 1999 freien Zugang zum Gesundheitswesen, gleiche Löhne für Männer und Frauen, kulturelle Rechte der indigenen Bevölkerung, eine Arbeits-zeitverkürzung und das Verbot der Privatisierung der Öl-, und Gasindustrie sowie des Rentensystems. In Folge wurden auch die so genannten Misiónes gegründet, die am traditionellen Staatsapparat vorbei Gelder aus den Ölüberschüssen für Sozialprogramme bereit stellen. Auf der anderen Seite wurden zu Beginn der Chávez-Regierung die öffentlichen Ausgaben reduziert, die Löhne im öffentlichen Dienst eingefroren, der Telekom-munikationssektor privatisiert und Vorschläge für eine Privatisierung der Aluminiumindustrie und der Elektrizitätswirtschaft in Umlauf gebracht sowie in der Verfassung Privateigentum und Marktwirtschaft fest ge-schrieben.
Dennoch wurden die sichtbaren Sozialreformen unter Chávez von der Bevölkerung sehr positiv aufgenommen, 2000 wurde er in Neuwahlen mit fast 60% im Amt bestätigt. Im April 2002 schließlich dachte die Opposition, dass die Zeit reif sei für einen Putschversuch. Der korrupte Gewerkschaftsdachverband CTV, Wirtschaftsverbände, katholische Kirche, die bürgerlichen Parteien und die privaten Fernsehsender riefen mit Unterstützung der US-Botschaft in Caracas zum Generalstreik auf, mit dem sie den Rücktritt von Chávez erzwingen wollten. Teile des Militärs nahmen Chávez in Haft. Der Präsident des Unternehmerverbands, Pedro Carmona, ließ sich als Übergangspräsident vereidigen und löste sofort das Parlament und das Oberste Gericht auf. Der Putsch löste Massenproteste bei weiten Teilen der Bevölkerung aus, während die „Chávistas“ ziemlich unvor-bereitet schienen. Die Putschisten feierten schon ihren Sieg, sie wurden aber bald darauf von regierungstreuen Militärs verhaftet. Chávez wurde befreit und wieder ins Präsidentenamt eingesetzt (und kündigte in Folge eine weiche Linie gegen die PutschistInnen an). Im Dezember des gleichen Jahrs riefen CTV und Unternehmensverbände zu einem unbefristeten Generalstreik auf, der zwei Monate andauerte und in Wirklichkeit eine Aussperrung durch die KapitalistInnen war. 2004 schließlich strengte die Opposition ein Referendum gegen Chávez an, die Bevölkerung entschied mit 60% zu 40% bei einer Wahlbeteiligung von 70% für seinen Verbleib im Amt. Doch all diese Angriffe und Versuche der Reaktion waren nicht nur nicht erfolgreich, sie trieben die Bewegung und damit auch Chávez weiter nach links, der sich immer positiver über sozialistische Ideen äußerte.
Einzelne Betriebe wurden unter der so genannten Cógestion (einer Mischung aus Mitbestimmung und ArbeiterInnenkontrolle) verstaatlicht. Die Ölindustrie wurde allerdings von der Cógestion ausgeschlossen. In diesem Bereich will die Regierung die ArbeiterInnen offenbar in keiner Weise mitreden lassen, sondern selbst die volle Kontrolle behalten. Für die Zukunft schließt Chávez weitere Privatisierung aus und überlegt künftige Verstaatlichungen (betont allerdings gleichzeitig, dass in „Einzelfällen“ Privatisierungen weiterhin möglich wären). Vor allem aber sprach Chávez lange Zeit von einem dritten Weg zwischen Kapitalismus und Sozialismus, doch ihn seiner Rede am Weltsozialforum in Porto Allegre 2005 bekannte er, dass er den Sozialismus für die richtige Lösung hält und propagiert nunmehr den „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“. In der gleichen Rede allerdings lobte er Brasiliens Präsident Lula.
Die Person Chávez spielt in der politischen Szenerie Venezuelas die Rolle eines Katalysators und Ausdrucks des Wunsches der Massen nach Veränderung. Doch gleichzeitig sollte nicht übersehen werden, dass Chávez weiterhin sehr widersprüchlich ist und bisher auch keine Maßnahmen gesetzt hat, die das Kapital substantiell schmerzen. Die Sozialprogramm werden über die Überschüsse der ohnehin staatlichen Ölgesellschaft finanziert, Neu-Verstaatlichungen betrafen nur einzelne Betriebe – in der Vergangenheit Mittel- und Südamerikas gab es bereits weit radikalere Reformen, die deshalb den Rahmen des Kapitalismus noch lange nicht überschritten haben. Die hohen Öleinkünfte schaffen für die bürgerlich-nationalistische Chávez-Regierung Verteilungsspielräume und stabilisieren sie. Die „bolivarische“ Regierung sucht den Ausgleich mit der herrschenden Klasse und den PutschistInnen und sie arbeitet gleichzeitig zunehmend gegen eine von der Regierung unabhängige ArbeiterInnen-bewegung. Trotz dieser freundlichen Signale in Richtung des einheimi-schen und imperialistischen Kapitals steht Chávez mehr als andere Regierungen unter dem Druck der unteren Bevölkerungsschichten und wird deshalb in Washington als unberechenbar betrachtet. Eine wesentliche Bedeutung hat auch Chávez´ Rolle als „schlechtes Beispiel“ für andere Länder in der Region, in denen die ArbeiterInnenklasse nach dem Vorbild Venezuelas Forderungen an ihre Regierungen stellt, ohne, dass diese dort ebenfalls aus Ölverkäufen gedeckt werden können.
Vor allem für die USA besteht die Gefahr auch in der Bedeutung Venezuelas für die Ölzufuhr der USA. Wie kaum ein anderes Land Lateinamerikas – mit Ausnahme Panamas – war Venezuela seit den 1930er Jahren an die USA gebunden, für die die venezolanischen Ölreserven von strategischer Bedeutung sind (die USA beziehen aktuell rund 15% ihres Öls aus Venezuela). Chávez hatte wiederholt damit gedroht, dass er im Fall einer Invasion oder Blockade die Öllieferungen an die USA einstellen werde, allein diese Drohung stellt für die USA ein unannehmbares Risiko dar. Dementsprechend waren die USA bisher bereits in mehrere Putschversuche gegen Chávez involviert und rüsten auch die Armee und die rechtsextremen Paramilitärs des Nachbarlands Kolumbien mit seiner reaktionären Regierung auf.
Auch die Zusammenarbeit mit Kuba (von wo im Austausch für billiges Erdöl tausende ÄrztInnen nach Venezuela geschickt werden) und der Versuch, gemeinsam mit Kuba mit der ALBA eine alternative Frei-handelszone aufzubauen, passt den USA keineswegs ins Konzept. Gleich-zeitig arrangierten sich die internationalen Großkonzerne in den letzten Jahren zunehmend mit der venezolanischen Regierung, ihre Gewinne stiegen rasant an. Und Chávez sucht die Zusammenarbeit mit den neo-liberalen „Linksregierungen“ in Brasilien und Argentinien ebenso wie mit den Regimes in China und dem Iran.
Die Frage, welchen Weg Venezuela geht, wird nicht in der Präsi-dentschaftskanzlei, sondern auf der Straße und in den Kämpfen der Massen entschieden werden. Eine wesentliche Bedeutung kommt dabei dem neugegründeten Gewerkschaftsdachverbands UNT (Unión Nacional de Trabajadores, „Nationale Arbeiter Union“) zu, der in Folge der reaktio-nären Politik des alten Gewerkschafts-Dachverbands CTV gegründet wurde und mittlerweile die Mehrheit der Lohnabhängigen vertritt. Inner-halb der UNT spielt die klassenkämpferische Mehrheit rund um die Strömung C-CURA („clasistas“) eine besondere Rolle im Kampf um die Weiterführung des revolutionären Prozesses, gegen reformistische und stalinistische Einflüsse und um die Unabhängigkeit vom chávistischen Staatsapparat. Aus diesem Kreis, aus verschiedenen Organisationen mit trotzkistischem Selbstverständnis sowie aus StudentInnenorganisationen wurde Mitte Juli 2005 die Partido Revolución y Socialismo – PRS (Partei Revolution und Sozialismus) formiert, um den revolutionären Prozess weiterzutreiben und zu vollenden. Entscheidend wird dabei sein, weder anbiedernd noch sektiererisch zu sein, den Prozess kritisch, aber solidarisch zu begleiten, die bisherigen Errungenschaften bedingungslos zu verteidigen und in Verbindung mit den Kämpfen der ArbeiterInnenklasse den Aufbau einer revolutionären Massenpartei zu organisieren.
Zur genaueren Analyse der Entwicklung in Venezuela verweisen wir auf die gemeinsame Broschüre von AL und AGM: Für eine sozialistische Revolution in Venezuela. Bilanz und Perspektiven des „bolivarischen Prozesses“ und die Chancen für die Arbeiter/innen/bewegung.
Bolivien ist gemeinsam mit Venezuela das Land, in dem der revolutionäre Prozess am weitesten fortgeschritten ist. Ausdruck dessen war die Wahl von Evo Morales von der MAS (Movimiento al Socialismo, Bewegung zum Sozialismus) zum Präsidenten im Dezember 2005. Morales gilt gemeinhin als Vertreter der Koka-Bauern/Bäuerinnen, weniger bekannt ist, dass die GründerInnen der MAS die so genannten Cocaleros waren, arbeits- und heimatlose Bergleute, die nun Koka anbauten und die kämpferischen Traditionen der BergarbeiterInnen in die neue Bewegung einbrachten. Ähnlich wie Chávez kommt auch Morales aus der indigenen Bevölkerung (die in Bolivien die Mehrheit stellt), seine Wahl ist schon allein dadurch ein Bruch mit der traditionell spanischstämmigen Oli-garchie. Bolivien ist das ärmste Land Südamerikas, durch die anhaltende Wirtschaftskrise verschärft sich für die BolivianerInnen die soziale Lage immer mehr, 60 Prozent der Bevölkerung leben in absoluter Armut. Das Land sah nach dem Ende der Militärdiktatur und verstärkt in den letzten Jahren eine Reihe von äußerst radikalen Kämpfen, die sich vor allem um die Verhinderung der Wasserprivatisierung und um die Forderung nach Vergesellschaftung der Öl- und Gasvorräte drehten.
Im Jänner und Februar 2003 hätte die Massenbewegung bereits erstmals das Potential gehabt, die Regierung zu stürzen, sogar die Polizei beteiligte sich an den Streiks, doch damals unterzeichneten die FührerInnen der MAS und des Gewerkschaftsdachverbandes COB einen Sozialpakt, der der Regierung eine dringend benötigte Atempause verschaffte. Im September 2003 breitete sich der Kampf erneut aus, die indigenen Gemeinschaften beschlossen, der Regierung unter dem Motto “Ahora sí, guerra civil” (Das Maß ist voll – BürgerInnenkrieg!) offen den Krieg zu erklären. Der Verband der GemeinderätInnen von El Alto, einer neben der Hauptstadt La Paz liegenden Schlafstadt mit fast einer Million EinwohnerInnen, rief den Generalstreik aus, dem sich auch die Gewerkschaft COB anschloss. Anfang Oktober musste die Stadt von der Regierung buchstäblich mili-tärisch zurückerobert werden, 20 tote ArbeiterInnen und ein toter Soldat, der durch die Kugel eines Hauptmanns starb, da er sich weigerte, auf die unbewaffnete Menge zu schießen, waren das Resultat. In den Tagen darauf kam es zu dutzenden Aufständen, die sich bald zu einer vorrevolutionären Situation steigerten. Schließlich musste Präsident Gonzalo zurücktreten, nachdem La Paz von den aufständischen Massen überrannt worden war. In El Alto kam es in Folge zu wesentlichen Elementen von ArbeiterInnendemokratie, die Regierung hatte die Kontrolle über die Stadt verloren. Diese lag und liegt in weiten Bereichen bis heute in den Händen eines ArbeiterInnenrates, der Vereinigung der Stadtteilräte (FEJUVE), die auch die bewaffnete Verteidigung der Stadt durch ArbeiterInnenmilizen organisierte und kontrollierte.
Die radikalisierte Situation spiegelte sich auch im COB wieder. Der Bergarbeiter Jaime Solares wurde zum Generalsekretär des COB gewählt und forderte den Kampf „zur Beseitigung des neoliberalen Modells und der kapitalistischen Ausbeuterordnung“ und für „eine Arbeiter- und Bauernregierung.” Heute argumentiert der COB, dass es keine revolutio-näre Partei gebe, und daher die Revolution in Bolivien noch nicht stattge-funden habe (womit er recht hat) und verweigert somit die Initiative zum Aufstand – wobei die Frage offen bleibt, warum nicht RevolutionärInnen aus dem COB das Projekt des Aufbaus einer revolutionären Partei ernsthaft in Angriff nehmen. Im Juni 2005 haben sich COB, einige andere Gewerkschaften sowie die FEJUVE zu einer „Volksversammlung“ zusammengeschlossen, es bleibt abzuwarten, ob sich daraus eine revo-lutionäre Partei entwickeln kann und welche Rolle die radikale Linke, insbesondere die aus trotzkistischer Tradition kommenden Organisationen wie die POR, spielen können. Positiv zu vermerken bleibt, das der COB der MAS weiterhin kritisch gegenübersteht. Nach seiner Wahl hatte Morales in der Frage der Verstaatlichung zurückgesteckt und auch teils bekennende SozialdemokratInnen in führende Positionen befördert. Aufflammende Massenproteste haben allerdings Morales dazu gebracht, am 1. Mai 2006 die Eigentumsverhältnisse in der Gasindustrie zu verändern und Teilverstaatlichungen bzw. Neuverhandlungen von Ver-trägen mit den Gasmultis durchzusetzen. Dies war trotz aller Limitierung und Konzessionen ein wichtiger Schritt, nicht zuletzt, weil hier weltweit sichtbar das Privateigentum an Produktionsmitteln offen in Frage gestellt wurde. Ob längerfristig die Wahl von Morales die Bewegung dämpfen kann oder ob die MAS, die in vergangenen Mobilisierungen eine sehr bremsende Rolle gespielt hat, sich, getrieben von den Erwartungen, weiter radikalisieren muss, bleibt abzuwarten, in Anbetracht der gesamten Lage auf dem Kontinent ist aber die Perspektive der Radikalisierung die wahrscheinlichere.
In Brasilien, mit rund 200 Millionen EinwohnerInnen dem größten Staat der Region, regiert seit Oktober 2002 Präsident Luiz Inácio da Silva, kurz Lula, von der PT (Partido dos Trabalhadores, Arbeiterpartei). Die PT entstand gegen Ende der 70er Jahre aus ArbeiterInnenkämpfen gegen das Militär, das von 1964-1985 das Land regierte. Luiz Inácio da Silva organisierte 1977 als Chef der MetallarbeiterInnengewerkschaft in São Paulo Streiks und wurde dafür inhaftiert. Diese Streiks und Demon-strationen führten 1980 zu einer Parteienreform, wodurch die PT legal gegründet werden konnte. Ihr anfängliches Programm beinhaltete ein gesundes Misstrauen sowohl gegen den sozialdemokratischen Reformismus wie gegen das stalinistische Modell. 1984 kam es zu einem weiteren revolutionären Aufstand, an dem sich Arbeitende und Student-Innen beteiligten und in Folge dessen 1985 die Militärdiktatur gestürzt werden konnte.
Doch seitdem ist die PT fast kontinuierlich nach rechts gegangen. Der Bruch mit dem ökonomischen System ist kein Thema mehr – ein humanisierter Kapitalismus ist nun das Ziel der PT. Bereits im Wahlkampf hat die PT enorme Zugeständnisse an das brasilianische Kapital gemacht und Bündnisse mit rechten Parteien geschlossen. Anfänglich dachten viele in der Basis der PT, dass diese Politik nur dazu dienen würde, eine Mehrheit bei den Wahlen zu bekommen, doch die weitere Entwicklung hat sie eines Besseren belehrt. Die PT ist mittlerweile Repräsentantin einer sozialdemokratischen Politik, die für das Kapital äußert beruhigend ist. Die konservative Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) etwa erklärte: „Er [Lula] gewann nicht nur die Herzen des Volkes, sondern den Kredit von Banken und Unternehmern.” So unterschrieb die PT eine Vereinbarung mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF), die diesem mehr Zuge-ständnisse machte, als er tatsächlich forderte. Eine Pensionsreform wurde eingeführt, die das Pensionsalter erhöhte und alle Errungenschaften angriff, die die Angestellten der Bundesstaaten gemacht hatten (woraufhin 600.000 Bundesangestellte rund einen Monat gegen die Regierung streikten). In Folge dessen schloss die PT drei Abgeordnete und die sehr populäre Senatorin Heloísa Helena, die gegen diese Pensionsreform eintraten, aus der Partei aus (den Ausgeschlossenen schlossen sich seitdem weitere Abgeordnete der PT an).
Die Ausgeschlossenen gründeten in Folge die P-SOL (Partei für Sozialismus und Freiheit), eine strömungsübergreifende Partei in trotzkistischer Tradition, die in Umfragen bei rund 3-5% liegt und für ihre erstmalige Wahlzulassung erfolgreich 450.000 Unterschriften sammelte. Eine besonders peinliche Rolle in der Politik der PT spielt hingegen die Mehrheit der brasilianischen Sektion des sich auf den Trotzkismus berufenden „Vereinigten Sekretariats der Vierten Internationale“ (VS, in Österreich SOAL, in Deutschland RSB und ISL), die der PT als linker Flügel Flankendeckung gibt und sogar mit einem Minister in der kapitalistischen Lula-Regierung vertreten ist (während gleichzeitig die ausgeschlossene Senatorin Helena zur Minderheit im brasilianischen VS gehört). Das VS selbst distanziert sich mittlerweile von der Mehrheit seiner Sektion, hat diesen Schritt allerdings unzumutbar lange hinausgezögert, anstatt sich von Beginn an klar von dieser Politik zu distanzieren und entsprechende organisatorische Konsequenzen zu ziehen.
Neben der P-SOL ist auch die „Linke“ in der PT (deren wesentlichste Organisation allerdings die VS-Mehrheit ist) durchaus noch nicht besiegt, bei den Wahlen im Herbst 2005 über den Vorsitz der PT, an der sich 230 000 Mitglieder beteiligten, konnte sie 48% (!) der Stimmen auf sich vereinigen, was darauf hindeutet, dass auch in der PT das letzte Wort noch nicht gesprochen ist. Eine wesentliche Bedeutung für die Linke außerhalb der PT-Opposition und der P-SOL hat die PSTU (Vereinigte Sozialistische Arbeiterpartei), eine sich als trotzkistisch verstehende Partei, die selbst ebenfalls eine Zeit lang in der PT gearbeitet hatte und bei den letzten Wahlen 400.000 Stimmen (0,4%) bekam. Weiters hervorzuheben ist die Landlosenbewegung MST (Movimento dos Sem Terra), die mit ihren Landbesetzungen ein beständiger Stachel im Fleisch der Herrschenden ist. Sie spielt auch eine nicht unwesentliche Rolle innerhalb der PT-Linken und kritisiert die PT-Führung scharf wegen ihres Verrats an den Anliegen der Landlosen (so lässt die PT-Regierung zu, dass die Polizei gegen Landbesetzungen der MST eingesetzt wird).
Die Politik der PT-Führung selbst ist allerdings nicht auf persönliches Versagen, Korrumpierbarkeit oder Unfähigkeit zurückzuführen (auch wenn all das eine Rolle spielen mag). Das Problem ist, dass die PT das kapitalistische Wirtschaftssystem nicht grundsätzlich ablehnt und damit nach den Regeln dieses Systems spielen muss. Sozialabbau, Schuldendienst, Kürzungen im öffentlichen Dienst und ähnliches sind die logische Folge. Und mit dieser Politik hat sie der ArbeiterInnenklasse und den armen Massen Brasiliens nichts zu bieten. Es besteht schließlich die Gefahr, dass von der Enttäuschung von der PT nicht nur die radikalere Linke profitiert, sondern dass auf der Grundlage einer politischen Demoralisierung der Massen rechte PopulistInnen einen Aufschwung erleben können.
Die Wahlen in verschiedenen lateinamerikanischen Ländern im Jahr 2006 brachten nur teilweise eine Fortsetzung des Linksrucks am Kontinent. In Mexiko verlor der eher mit Lula als mit Chávez zu vergleichende Linkskandidat und ehemalige Bürgermeister von Mexiko City, Andrés Manuel López Obrador von der Demokratischen Revolutionären Partei (PRD) knapp gegen seinen Widersacher von der rechtskonservativen PAN. Die Präsidentschaftskandidatur von López Obradors konnte im Vorfeld erst von einer Demonstration von 1,2 Millionen Menschen durchgesetzt werden und es scheint, dass es auch bei der Wahl selbst massive Unregel-mäßigkeiten zuungunsten von Obrador gegeben hat. Dieser Wahlbetrug löste anhaltende Massenproteste gegen das rechte Regime aus. Obwohl die Regierungsübernahme durch Obrador vorerst gescheitert ist, bedeuten sein Wahlergebnis und die darauf folgenden Proteste dennoch eine Links-entwicklung in Mexiko.
In Peru verlor im April 2006 Ollanta Humala von der links-nationalistischen Union por el Perú (UPP), besser bekannt als Humala-Bewegung, gegen seinen Gegner Alan García, den Kandidaten der APRA, einer ursprünglich-antiimperialistischen Partei mit sozialistischer Rhetorik, die allerdings schon während der ersten Amtszeit Garcías zu einer linksreformistischen Partei verkam.. Humala, der als Verbündeter von Präsident Chávez gilt, ist vor allem im andinen Hochland beliebt und eng mit den Kokaanbauern/bäuerinnen verbündet, die in der Conferencia Nacional de Productores Agropecuarios de las Cuencas Cocaleros del Perú (CONPACCP) zusammengeschlossen sind. Gleichzeitig ist Humala sehr umstritten, so gibt er nationalistische Kriegsdrohungen gegen Chile von sich und ihm wird vorgeworfen, in der Vergangenheit als Offizier an Repressionen beteiligt gewesen zu sein. Bemerkenswert an dieser Wahl ist, dass die Konservativen es nicht einmal in die Stichwahl schafften. Deutlich auch die Wahlen zum Parlament, wo die UPP 44, die APRA 35, das Rechts-Bündnis hingegen nur 19 Mandate hält.
In Nicaragua ist die Rückkehr der SandinistInnen in Gestalt von Daniel Ortega oder seinem Widersachers Herty Lewites wahrscheinlich – wie sich danach der Kurs der FSLN entwickeln wird, ist derzeit nicht abzusehen.
Die Präsidentschaftswahlen in Venezuela, bei denen Präsident Chávez voraussichtlich erneut kandidieren und auch gewählt werden wird, beenden im Dezember 2006 das lateinamerikanische Superwahljahr.
Eine wesentliche Frage für die Zukunft Mittel- und Südamerikas ist die Frage der Landverteilung. Riesigen Latifundien stehen Millionen von landlosen LandarbeiterInnen gegenüber. In Brasilien beispielsweise ver-fügen knapp 10% der GrundbesitzerInnen über 80% des Landes, die rest-lichen 90% teilen sich die verbleibenden 20% der nutzbaren Flächen. Die Landfrage und die Verteidigung der Rechte der Landlosen ist eine wichtige Frage für jede marxistische Strömung in Mittel- und Südamerika. Revolutionäre Politik bedeutet, eine Antwort auf die drängende Frage der Landverteilung zu geben und für die entschädigungslose Enteignung der GroßgrundbesitzerInnen zu kämpfen.
Wo sich Bauern/Bäuerinnen wehren, schicken die GroßgrundbesitzerInnen eigene Paramilitärs oder die ihnen ergebene Polizei, die Zahl der allein in Brasilien seit dem Ende der Diktatur von Paramilitärs, Militär oder Polizei getöteten LandarbeiterInnen geht in die Tausende (so wie in vielen Ländern der Region auch klassenkämpferische GewerkschafterInnen immer wieder Opfer der Reaktion werden, in den Werken des Coca-Cola-Konzerns in Kolumbien etwa werden laufend lästige GewerkschafterInnen liquidiert, insgesamt wurden allein in Kolumbien im letzten Jahrzehnt rund 4000 GewerkschafterInnen ermordet). Der Aufbau von bewaffneten Selbstverteidigungsgruppen der ArbeiterInnenklasse und der landlosen Bauern/Bäuerinnen ist hier eine zentrale Frage.
Auch in Mittel- und Südamerika sind heute – trotz der weiter bestehenden Bedeutung der Landfrage – das städtische Proletariat bzw. die städtischen verelendeten Massen in den Slums, die bestimmende Kraft. Die Proletarisierung der Bevölkerung hat massiv zugenommen, in Venezuela, Argentinien oder Chile etwa leben über 90% der Bevölkerung in Städten, in Brasilien immer noch über 80%. Allein in den 20 größten Städten Mittel- und Südamerikas leben weit über 100 Millionen Menschen, also ein Fünftel der gesamten EinwohnerInnen der Region. Hervorzuheben sind Mexico-City und São Paulo in Brasilien mit jeweils über 20 Millionen sowie Buenos Aires in Argentinien mit weit über 10 Millionen (fast einem Drittel der Bevölkerung Argentiniens!). Auch in den Ländern, in denen derzeit der Linksruck am weitesten fortgeschritten ist, Venezuela und Bolivien, geben große Städte den Ton an: Caracas, die Hauptstadt Venezuelas, ist mit 4,6 Millionen EinwohnerInnen die achtgrößte Stadt Südamerikas, Boliviens Hauptstadt La Paz und seine Satellitenstadt, das revolutionäre El Alto, kommen immer noch auf fast 2 Millionen Ein-wohnerInnen (obwohl in Bolivien insgesamt der Verstädterungsgrad mit rund 60% deutlich niedriger ist). In diesen beiden Ländern leben auch jeweils ca. 20% der Bevölkerung in der Hauptstadt, ein ähnlich kon-zentriertes Verhältnis also wie in Österreich.
Einhergehend mit der Proletarisierung wandelt sich in einzelnen Staaten auch die Produktion. Vor allem Mexiko, Brasilien und Argentinien, in gewisser Hinsicht aber auch Venezuela und Chile, sind wirtschaftlich relevante „Schwellenländer“. Beispielsweise wird etwa 40% des Brutto-inlandsprodukts in Brasilien von der Industrie erwirtschaftet, knapp die Hälfte vom Dienstleistungssektor, die Landwirtschaft trägt nur noch zu etwa einem Zehntel bei. Die wichtigsten Exportartikel sind Maschinen (darunter Autos und Flugzeuge), Stahl, Aluminium und Zinn, sowie Kaffee, Zucker und Fleisch. São Paulo, die größte Stadt Südamerikas, ist das größte deutsche Investitionszentrum außerhalb der EU und den USA. Für die Mehrzahl der Länder gilt allerdings weiterhin, dass ihre Exportartikel immer noch fast ausschließlich Rohstoffe sind – vor allem Venezuela profitiert dabei derzeit vom sehr hohen Erdölpreis. Im Land selbst spielt zumeist die Schattenwirtschaft einen bestimmenden Anteil, in Venezuela etwa leben bis zu fünfzig Prozent derjenigen, die sich ihren Unterhalt selbst verdienen, in der Schattenwirtschaft, das heißt, sie arbeiten als StraßenhändlerInnen, SchrottsammlerInnen, TagelöhnerInnen etc. Doch auch eine weitreichende Industrialisierung würde die Länder der Region nicht automatisch aus dem Würgegriff des Imperialismus befreien, wie das Beispiel Südkorea belegt.
Vor allem für die USA spielen Rohstoffreichtum und billige Arbeitskraft auf dem Südkontinent eine wesentliche Rolle. Mit verschiedenen Mechanismen versuchen die USA, die wirtschaftliche Kontrolle über den Kontinent zu behalten. Dazu setzen sie wesentlich auf die Etablierung verschiedener Wirtschaftsbündnisse. Unmittelbar involviert sind die USA in die NAFTA (Nordamerikanische Freihandelszone), die die USA, Mexiko und Kanada aneinanderbinden und im Versuch des Aufbaus der gesamtamerikanischen Freihandelszone (FTAA, spanisch ALCA), der alle 34 Staaten Nord-, Süd- und Mittelamerikas sowie der Karibik (mit Ausnahme Kubas) beitreten sollen. Dementgegen steht der 1991 gegrün-dete Mercosur (Gemeinsamer Markt des Südens) mit Argentinien, Brasilien, Paraguay, Uruguay und Venezuela und die 2005 von Venezuela initiierte ALBA (Bolivarianische Alternative für ganz Amerika), die derzeit Venezuela und Kuba umfasst. Natürlich ist der Versuch, ein Gegengewicht zur ALCA aufzubauen, an sich nachvollziehbar. Denn die ALCA-Verträge versprechen vor allem für die USA Gewinne. Sie würden den USA auf dem Industriesektor, bei Finanz- und Versicherungs-dienstleistungen, bei öffentlichen Aufträgen und im Agrarexport entgegen-kommen und wohl auch Brasilien und Argentinien im Gegensatz zur aktuellen Annäherung an die EU wieder stärker an die USA binden. Doch auch Mercosur und ALBA als Versuche unabhängigen Wirtschaftens können bei der engen Verflechtung der Weltmärkte nicht die Problematik der „Sachzwänge“ des Kapitalismus aufheben, die entstehen, solange die Eigentumsfrage nicht radikal gestellt und beantwortet wird.
Eine weitere Radikalisierung in Lateinamerika könnte in den USA auch die BefürworterInnen einer militärischen Lösung stärken. Bereits jetzt sind gegen Venezuela einige unverhüllte Drohungen ausgesprochen worden und die Aufrüstung von Venezuelas Nachbarn Kolumbien schreitet ungehindert fort. Doch die Ressourcen US-Imperialismus sind zum gegenwärtigen Zeitpunkt mit seinen Interventionen im Irak und im Afghanistan (wo zur Entlastung der USA auch EU-Truppen, vor allem aus Deutschland, immer stärker eingesetzt werden), belastet, eine direkte Intervention und damit ein weiterer Krieg, der nur mit Bodentruppen (und gegen motivierte SoldatInnen und Freiwillige) zu führen wäre und womöglich in einer weiteren Besatzung enden könnte, würde derzeit an die Grenzen der Möglichkeiten der US-Militärs gehen. Es ist aber auch davon auszugehen, dass derzeit ein Putschversuch in Venezuela oder Bolivien eher zu einer weiteren Radikalisierung führen würde. Die USA und der US-Imperialismus (aber nach den Erfahrungen der vergangenen Jahrzehnte auch insgesamt die Idee einer Militärdiktatur) sind in breiten Schichten Lateinamerikas sehr verhasst, eine Militärintervention würde auf erheb-lichen Widerstand stoßen und könnte eine radikalisierende Wirkung auf den ganzen Kontinent haben. Dieser könnte auch relevante Teile der spanischsprachigen ArbeitsimmigrantInnen in den USA umfassen, die mit rund 13 % der Bevölkerung mittlerweile noch vor den Schwarzen die größte Minderheit in den USA stellen. Diese Risken werden die USA derzeit nur im Notfall – etwa im Fall einer proletarischen Revolution – eingehen (noch eher jenes, einheimische PutschistInnen zu unterstützen). Doch damit ist keineswegs gesagt, dass sich dies in Zukunft nicht ändern könnte.
Hier ist auch die Rolle der EU zu betrachten. Derzeit haben die EU und die USA in Mittel- und Südamerika teils gegensätzliche Interessen, die EU versucht, Marktanteile für sich zu gewinnen und hält sogar selbst immer noch Kolonien in der Region (ebenso wie die USA, die die Karibikinsel Puerto Rico ihrem Staatsgebiet zurechnet). Bei den EU-Kolonien handelt es sich um eine Reihe von Karibikinseln in britischem (Virgin Islands, Antigua, …), französischem (Guadeloupe, Martinique, …) und niederl-ändischem (Niederländische Antillen) Besitz, die teilweise vor der Küste Venezuelas liegen, sowie auf dem Festland selbst Französisch-Guyana – diese Kolonien könnten in Folge auch als militärische Aufmarschgebiete dienen. Denn sollte es eine weitere Radikalisierung geben, wird sich schnell weisen, dass der alte Satz „Pack schlägt sich, Pack verträgt sich“ volle Bestätigung findet und die herrschenden Eliten der USA und der EU ihre Zwistigkeiten beilegen werden, um gemeinsam gegen eine revolutio-näre Entwicklung des Kontinents vorzugehen versuchen werden – womit wiederum revolutionäre Kräfte in den imperialistischen Zentren gefordert sind, den Kampf gegen den eigenen Imperialismus zu intensivieren und im Fall eines Angriffs für die Niederlage des eigenen Imperialismus einzu-treten. Hier würden Spanien und Portugal durch die gemeinsame Sprache und die kämpferischen Traditionen ihrer eigenen ArbeiterInnenklassen die Rolle eines Brückenkopfes für die Linke in Europa bilden.
Die Ausgangsbedingungen für die Linke sind derzeit relativ günstig. Einheimische autoritäre Lösungen sind weitgehend diskreditiert, der US-Imperialismus ist aktuell kaum interventionsfähig und der EU-Imperialis-mus hat bisher noch keine Erfahrungen mit Interventionen dieser Größenordung. Die einheimischen kapitalistischen Eliten haben in einigen Ländern empfindliche Niederlagen erlitten, in den Kämpfen gegen die neo-liberalen Angriffe der 80er und 90er Jahre ist auch das Vertrauen in den Staatsapparat gewaltig gesunken und hat gleichzeitig das Vertrauen in die eigenen Stärke zugenommen. Allerdings fehlen relevante revolutionäre Organisationen, die die Rolle des Katalysator dieser Prozesse und Stim-mungen werden könnten. Sollte es nicht gelingen, solche aufzubauen, kann die Stimmung in Apathie und Frustration umschlagen, was wiederum Putsche einheimischer Eliten oder/und eine militärische Intervention sehr erleichtern würde.
Ein Beispiel für eine solche Intervention stellt aktuell Haiti dar. Dort stehen rund 10.000 UNO-SoldatInnen als Besatzungskräfte, die den 2004 von den USA, Kanada und Frankreich angeleiteten Staatsstreich absichern sollen. Einen Teil dieser Soldaten stellt auch Lulas Brasilien, das damit offenbar versucht, sich als regionale Ordnungsmacht zu etablieren. Der vor dem Putsch regierende Jean-Bertrand Aristide wurde abgesetzt und ins Exil verschleppt.
Das Land hat eine unruhige Geschichte hinter sich. Von 1915-1934 besetzten die USA das Land, ab 1957 regierten die von den USA und Frankreich gestützten Diktatoren Papa Doc Duvalier und sein Sohn Baby Doc, bis ein Aufstand sie 1986 stürzte. 1990 schließlich wurde Jean-Bertrand Aristide, der als Hoffnung der Armen galt, zum Präsidenten gewählt, doch bereits 1991 durch einen reaktionären Putsch zum ersten Mal ins Exil gezwungen. Mit US-Unterstützung und politisch nach rechts gerückt kehrte Aristide mit Hilfe einer US-Intervention 1994 zurück. In seiner zweiten Präsidentschaft 1994-1996 setzte er dann Sozialabbau-Programme (so genannte „Stabilitätsprogramme“ des Internationalen Währungsfonds, IWF) um. Unter seinem Nachfolger René Préval (den Aristide anfänglich unterstützt hatte) wurde dieser Sozialabbau fortgesetzt.
Diese Entwicklung brachte im Jahr 2000 erneut Aristide an die Regierung, der sich von Préval gelöst hatte und nun wieder radikaler auftrat. In Folge versuchte Aristide, es allen recht zu tun. Einerseits setzte er Privati-sierungen fort und öffnete Freihandelszonen, andererseits begann er mit Sozialprogrammen. Kubanische Ärzte wurden ins Land geholt, Spitäler und Schulen gebaut, eine Alphabetisierungskampagne begonnen und der Mindestlohn verdoppelt. Mit Kuba und Venezuela verhandelte er über einen regionalen Handelsblock, was für den Imperialismus der Tropfen war, der das Fass zum Überlaufen brachte und schließlich dazu führte, dass er von den USA, Kanada und Frankreich aus dem Amt gejagt wurde (die ihren Putsch durch UNO-SoldatInnen absicherten). Anfang 2006 wurden erstmals wieder Wahlen abgehalten. Diese konnte Ex-Präsident René Préval für sich entscheiden. Préval galt in diesen Wahlen trotz seiner Vergangenheit, seiner nur vagen sozialen Versprechungen und seiner Pro-Besatzungs-Position als Kandidat der ärmeren Bevölkerungsschichten. Daher kann seine Wahl als Linksruck gewertet werden, zwar nicht in der Person von Préval, aber sicherlich im Bewusstsein der Massen, die den, erst durch Massenproteste gegen massive Wahlfälschung durchgesetzten Amtsantritt von Préval als Fortschritt betrachten.
Wie sich die nächste Periode entwickelt, wird wesentlich davon abhängen, ob Préval eher dem Druck dieser Massen oder dem des Imperialismus nachgibt, wie sich Aristides Partei Famni Lavalas positionieren wird und ob revolutionäre Gruppen wie die OTR, die „Organisation des Travailleurs Révolutionnaires“ (OTR, Organisation der revolutionären Arbeiter), den Einfluss haben werden, diesen Prozess gegen reformistische und offen reaktionäre Kräfte voranzutreiben.
Einen wesentlichen Anteil an den momentanen Möglichkeiten hat zweifel-los auch der Zusammenbruch der stalinistischen Staaten. Hat dieser An-fang der 90er noch eher negative Auswirkungen gehabt, zeigt sich heute, dass dieser Zusammenbruch neue Räume eröffnet hat. Jahrzehntelang sind stalinistische „Kommunistische“ Parteien in der „Dritten Welt“ für ein so genanntes Etappenkonzept eingetreten, das besagte, dass unterentwickelte Länder und Kolonialländer noch nicht reif für den Sozialismus seien und zuerst eine kapitalistische Etappe durchlaufen müssten. Ein solches Kon-zept allerdings widerspricht zutiefst einer marxistischen Herangehensweise und hätte auch die russische Oktoberrevolution von 1917 unmöglich gemacht. Dieser stalinistische Albdruck ist nun weggefallen, ohne Mos-kaus „Unterstützung“ finden eigenständige Debatten statt.
Teils wird nun die Debatte geführt, ob insbesondere für Länder wie Vene-zuela oder Bolivien ein „kubanischer Weg“, also eine bürokratische Um-wälzung der Produktionsverhältnisse und der Aufbau eines degenerierten ArbeiterInnenstaats, möglich wäre. Doch ohne die Möglichkeit der politi-schen Anlehnung und der strukturellen Assimilierung der Ökonomie an einen starken bürokratischen-degenerierten ArbeiterInnenstaat wie die Sowjetunion, die politisch und militärisch dem Imperialismus die Stirn bieten konnte und darüber hinaus zu relevanter ökonomischer Hilfestellung und Integration in der Lage war, ist eine solche Entwicklung ausge-sprochen unwahrscheinlich. Festzuhalten bleibt allerdings, dass eine solche bürokratische Umwälzung keine wünschenswerte Alternative darstellen würde, die eine sozialistische Gesellschaft ersetzen kann.
Ein wesentliches Erbe der revolutionären Bewegung ist Leo Trotzkis, durch die Oktoberrevolution eindrucksvoll bestätigte, Theorie der „Perma-nenten Revolution“, die besagt, dass in rückständigen Ländern die Bourgeoisie durch ihre enge Verzahnung mit dem Großgrundbesitz nicht in der Lage ist, auch nur die wesentlichen Fragen der bürgerlichen Revo-lution (vor allem die Landfrage) zu lösen, und dass statt dessen das Proletariat die Aufgaben der bürgerlichen Revolution mit übernehmen muss und so die bürgerliche Revolution in die sozialistische Revolution weiterführt, sie also „permanent“ macht. Für Mittel- und Südamerika hat diese Theorie heute enorme praktische Bedeutung, das Beispiel der Oktoberrevolution zeigt auch sehr deutlich, wie eine entschlossene ArbeiterInnenklasse als Führerin des unterdrückten Klassen auftreten kann.
Eine sozialistische Revolution und der Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft benötigen die führende Rolle der ArbeiterInnenklasse, die durch ihre Stellung im Produktionsprozess eine einzigartige Rolle einnimmt. Durch diese Stellung sind für ArbeiterInnen – anders als für Bauern/Bäuerinnen und die Stadtarmut – gemeinsame Organisation und kollektive Kampfformen absolut nahe liegend. Bauern/Bäuerinnen schließen sich heute in Mittel- und Südamerika zu wichtigen Verbänden zusammen. Doch letztlich ist ihr Ziel zumeist, selbst BesitzerInnen eines Stück Landes zu werden – im Gegensatz zur ArbeiterInnenklasse, die für kollektiven Besitz der Produktionsmittel kämpft. In kommenden Kämpfen werden sich Bauern/Bäuerinnen und die Stadtarmut an der Arbeiter-Innenklasse und ihren Kämpfen orientieren, wenn diese es schafft, eine kämpferische Führung heranzubilden.
In allen vergangenen revolutionären Situationen hat die ArbeiterInnen-klasse spontan Vertretungsorgane hervorgebracht, die alle arbeitenden Menschen umfassten, das traditionelle System herausforderten und in fortgeschrittenen Situationen in einer Doppelherrschaft mit diesem konkurrierten. Im Russland vor der Oktoberrevolution waren das die Räte („Sowjets“) der ArbeiterInnen, Soldaten und Bauern/Bäuerinnen, heute kann etwa beispielsweise die FEJUVE in El Alto/Bolivien als Keim eines solchen Vertretungsorgans gelten. Doch natürlich kann eine Situation der Doppelherrschaft nicht ewig andauern, da sie für die herrschende Klasse politisch unhaltbar und inakzeptabel ist. Entweder gewinnt also die revolu-tionäre Klasse die Macht in der Gesellschaft, zerschlägt den bürgerlichen Staatsapparat und kann ihr rätedemokratisches System durchsetzen oder die alten Eliten setzen sich durch und etablieren wiederum bürgerliche Herrschaftsmodelle in bürgerlich-demokratischer oder diktatorischer Form.
Es ist davon auszugehen, dass eine kämpfende ArbeiterInnenklasse in den kommenden Jahren in Mittel- und Südamerika immer wieder auf den entschiedenen Widerstand der Bourgeoisie treffen wird. Wie schon in der Vergangenheit wird das Kapital dabei nicht zögern, Militärs, Polizei und Paramilitärs einzusetzen. Daher ist die ArbeiterInnenklasse gefordert, eigenständige bewaffnete Verteidigungs- und Milizorgane hervorzu-bringen, um sich gegen die Übergriffe des Kapitals wehren zu können (wie dies die BergarbeiterInnen in Bolivien, die mit Dynamitstangen bewaffnet sind, bereits vorexerzieren). Eine zentrale Aufgabe revolutionärer Organi-sationen ist auch eine Zersetzungspropaganda gegenüber und in Polizei und Armee. Deren Zersetzung und im Idealfall der Übergang von Soldat-Innen und PolizistInnen auf die Seite der RevolutionärInnen ist eine wesentliche Voraussetzung einer erfolgreichen revolutionäre Erhebung. Erste Anzeichen einer solchen Entwicklung zeigten sich 2003 in Bolivien, wo Teile der Polizei ebenfalls in den Streik traten und sich Feuergefechte mit dem Militär lieferten.
Die beste Unterstützung, die die revolutionäre Linke in den imperialis-tischen Zentren des Nordens den Ausgebeuteten in Mittel- und Südamerika geben kann, ist der entschiedene Kampf gegen die einheimischen kapitalistischen Eliten. Eine realistische Einschätzung der Klassenkampf-bedingungen ist dabei notwendig. Dabei ist ein Hyperoptimismus, der die objektiven Probleme des Klassenkampfes nicht wahrnimmt, genauso fehl am Platze wie eine pessimistische Stimmung, die erklärt, jeder Kampf wäre ohnehin sinnlos. Die Aufgabe und Verpflichtung aller revolutionären AktivistInnen in den Ländern des Nordens ist der Kampf gegen den eige-nen Imperialismus, den dieser bleibt, wie der deutsche Revolutionär Karl Liebknecht erklärte, der Hauptfeind, der im eigenen Land steht. Darüber hinaus ist eine politische und materielle Unterstützung für klassen-kämpferische und revolutionäre Kräfte in Lateinamerika notwendig.
Die objektive Situation der ausgebeuteten und verelendeten Massen Latein-amerikas und die riesigen Differenzen an Reichtum und Land stellen die Frage einer radikalen Umverteilung auf die Tagesordnung. Doch nur eine sozialis-tische Revolution, für die die objektiven Bedingungen seit vielen Jahren reif sind, kann einen dauerhaften Ausweg aus dieser Misere darstellen. Doch der subjektive Faktor, der Aufbau einer revolutionären Partei und Internationale, hinkt den objektiven Notwendigkeiten hinterher. RevolutionärInnen in Mittel- und Südamerika müssen an der Herausbildung einer solchen revolutionären Partei arbeiten, die nur in einem Umgruppierungsprozess aus verschiedenen Organisationen der radikalen Linken mit den kampfbereitesten Schichten der ArbeiterInnenklasse im Rahmen der sich zuspitzenden Klassenkämpfe ent-stehen kann. Zentrale Aufgabe ist es, am Bewusstseinsstand der Massen mit einem Übergangsprogramm anzusetzen und nicht auf „demokratische Etappen der Revolution“ zu vertrauen, sondern direkt auf das Zerschlagen des bürgerlichen Staatsapparates und die Schaffung einer sozialistischen Gesell-schaft abzuzielen. Wenn der Aufbau dieser Partei und die Bündelung und Weiterentwicklung der Kräfte gelingt, wird die sozialistische Revolution und die darauf folgende vereinigte sozialistische Föderation Lateinamerikas ein wesentlicher Schritt im Aufbau einer sozialistischen Welt-Föderation sein.
Wien, 2006