Die Morde an der Journalistin Anna Politkowskaja und dem Geheimdienstler Alexander Litwinenko haben Russland wieder in das Licht der Weltöffentlichkeit gerückt. Nachdem in den vergangenen Jahren beispielsweise die Massaker an der tschetschenischen Bevölkerung immer weniger Aufmerksamkeit von Seiten der bürgerlichen Medien erfahren haben, scheint es, als würde nun der autoritäre Staatsapparat Wladimir Putins neu entdeckt. Demgegenüber soll es uns im Folgenden nicht darum gehen, in naiver Weise etwas plötzlich Vorgefundenes zu beklagen, sondern umgekehrt diese „Entdeckung“ anhand ihrer sozialen und politischen Grundlage zu beschreiben und zu definieren.
Die Art und Weise, wie die bürgerliche Berichterstattung die Ermordung Litwinenkos aufgenommen hat, spricht Bände über das journalistische Interesse an der diesem Phänomen zugrunde liegenden Realität. Manche Artikel lesen sich wie Auszüge aus Spionageromanen und die Ankündigung von Johnny Depp und Michael Mann, den Fall zu verfilmen, zeigt deutlich, dass liberale Intellektuelle mehr an Erscheinungen als an Wirklichkeiten interessiert sind.
Die Entwicklung des russischen Staatsapparates hin zu einem autoritären Regime wurde im Laufe des vergangenen Jahrzehnts durch politisch motivierte Prozesse und Morde an mächtigen Gegnern immer wieder bestätigt. Parallel dazu wurden seit dem Amtsantritt von Wladimir Putin die Macht von Militär und Geheimdienst gefestigt, ausgebaut und die entsprechenden Eliten in den administrativen Staatsapparat eingebunden. Angesichts dieser Militarisierung und der anscheinenden Abgehobenheit des Staates von den sozialen Klassen ist nachvollziehbar, warum die Putinherrschaft oft als Bonapartismus bezeichnet wird. Um diese Annahme jedoch überprüfen zu können, wird es notwendig sein, die Rolle der russischen Regierung zu untersuchen.
Soziale Situation
Die soziale Realität der überwiegenden Mehrheit der russischen Bevölkerung ist alles andere als rosig. Eine im September 2005 erschienene Studie über den Lebensstandard in Russland zwischen 1991 und 2004[ 1 ] zeigt deutlich, dass sich die Situation der ArbeiterInnen und Bauern/Bäuerinnen seit der Einführung des kapitalistischen Wirtschaftsystems nicht verbessert sondern in den meisten Bereichen verschlechtert hat. So sind die durchschnittlichen realen Einkommen im Jahr 2004 um 30% niedriger als jene des Jahres 1991, also noch vor der Liberalisierung der Güter- und Dienstleistungspreise. Besonders betroffen sind die RentnerInnen, die heute mit einer Pension, die 64% des Wertes von 1991 beträgt, auskommen müssen.
Diese Zahlen zeigen zwar eine deutliche Differenz an, sagen aber an sich noch nichts über das reale Lebensniveau der russischen Bevölkerung aus. Dafür ist es notwendig, in Betracht zu ziehen, welche Auswirkung dieser Einkommensunterschied auf die Konsum- und insbesondere die Ernährungsgewohnheiten hat. Die genannte Studie weist darauf hin, dass der Nahrungsmittelkonsum stark zurückgegangen ist. Verzichtet wird in erhöhtem Maße auf Waren wie Fleisch, Milchprodukte, Eier und Zucker bzw. Süßwaren; aber auch Kartoffeln und Gemüse werden weniger verbraucht. Es liegt auf der Hand, dass dieser Verzicht Auswirkungen auf die Qualität der Ernährung der Bevölkerung hat. Im Jahr 2003 blieb mit Ausnahme von Brot bei allen wichtigen Lebensmitteln der Konsum unter der von der russischen medizinischen Akademie erstellten Ernährungsnorm. So hat sich zwischen 1991 und 2000 der Konsum von Milchprodukten annähernd halbiert, was in Bezug auf die genannte Ernährungsnorm nur 54% ausmacht.
Ein weiterer Faktor für das Elend der russischen Bevölkerung sind die verschiedenen Strategien mit denen angesichts der geringen Einkommen das Überleben gesichert wird. Eine Studie, die sich speziell mit der Armut in Russland beschäftigt [ 2 ], hat beispielsweise erfasst, dass im Jahr 2003 5,3% der Haushalte Einnahmen aus einer zweiten Arbeitsstelle beziehen. In doppelt so vielen Haushalten garantiert eine informelle Lohnarbeit das Überleben. 30% sind von Zuwendungen in Form von Naturalien oder Geldmitteln von Freunden oder Verwandten abhängig, während beinahe die Hälfte aller Haushalte ihr Überleben durch Subsistenzwirtschaft (Produktion für den Eigenbedarf) sichert. Auf dem Land steigt der Prozentsatz der Menschen, die einen Teil ihrer Ernährung durch den Anbau von Kartoffeln und Gemüse gewährleisten, sogar auf 80%.
Diese letzten Indizien zeigen deutlich, dass der Staat unfähig ist, auch nur das nackte Überleben der großen Mehrheit der russischen Bevölkerung zu gewährleisten. War die Abhängigkeit von der Subsistenzwirtschaft während dem Bestehen der Sowjetunion eine sich durchgängig haltende Lebensrealität und somit eindeutiges Zeichen für die Unfähigkeit der stalinistischen Bürokratie, so ist dieser Indikator heute noch alarmierender. Standen die Menschen in den 1980er Jahren oft noch in Schlangen vor halbleeren Geschäften, so stehen sie heute vor überquellenden Regalen mit Waren, die sie sich nicht leisten können.
Zwar ist die industrielle Produktion zwischen 1999 und 2004 um 40% gewachsen um somit gerade einmal wieder den Wert von 1992 zu erreichen (in diesem Zeitraum hatte die großflächige Zerstörung der post-sowjetischen Wirtschaft begonnen), aber die Arbeiter- Innen und Bauern/Bäuerinnen haben mitnichten davon profitiert. Während sich auf die ärmsten 20% der Bevölkerung 4% der gesamten Einkommen verteilen, sichern sich die reichsten 20% mehr als die Hälfte (52%). Diese zweite Gruppe lebt mit 1000 bis 2000 Dollar monatlich während die erste Gruppe mit weniger als 85 Dollar auskommen muss. (Allerdings ist der Reichtum der russischen OligarchInnen bekanntlich nach oben beinahe unbegrenzt) Diese Ungleichheit wurde durch die Einführung eines Einheitssteuersystems („Flat Tax“) naturgemäß noch verstärkt: der Beitrag der Reichsten zum Gesamtsteueraufkommen fiel in Folge auf 25%.
Vor dem Hintergrund dieser alarmierenden Fakten ist klar, dass der russische Staatsapparat von Seiten der Bevölkerung nicht als unparteiischer Schiedsrichter im Walten des „freien Marktes“ angesehen wird. Nur 1% der befragten Personen glauben, dass die ärmste Bevölkerungsschicht durch die Regierungspolitik unterstützt wird. Dagegen machen sich mehr als die Hälfte der Befragten keine Illusionen über die Bevorteilung der „Reichen“ (53%) und der „Mächtigen“ (54%).
Sowohl der Ex-Agent und Kreml-Kritiker Litwinenko, als auch die kritische Journalistin Anna Politkowskaja, die am Tag ihrer Ermordung einen Bericht über Folter in Tschetschenien vorbereitet hat, befinden sich im unmittelbaren Umkreis von einflussreichen Oligarchen[ 3 ], deren Interessen seit Beginn von Putins Amtszeit zugunsten jener anderer MilliardärInnen in den Hintergrund gedrängt werden. Boris Beresowski, persönlicher Freund von Alexander Litwinenko und Herausgeber seiner Bücher lebt seit 2001 im Londoner Exil und der Multimilliardär und Aeroflot-Boss Alexander Lebedew (so wie Putin ein ehemaliger KGBOffizier) ist einer der Finanziers des Magazins Nowaja Gaseta, für das Politkowskaja arbeitete. Beide haben durch solide politische Kontakte direkt von den Privatisierungen profitiert, haben ihren Reichtum in der Ära vom Präsident Boris Jelzin gescheffelt und zugleich wichtige politische Ämter bekleidet. Beide sind vor Putin in Ungnade gefallen.
Es scheint also, als wolle Putin nicht nur seine KritikerInnen eliminieren, sondern vor allem die Stimmen seiner GegnerInnen. Die Zerschlagung des Medienimperiums von Beresowski war nicht zuletzt ein weiterer Schritt zur Gleichschaltung der Presse, der heute weitgehend abgeschlossen ist. Ein exemplarischer Fall ist aber die so genannte „Yukos- Affäre“; sie zeigt, dass Putins GegnerInnen vor allem auch die WidersacherInnen seiner FreundInnen sind: Michail Chodorkowski, der Anfang der 1990er Jahre durch kriminelle Machenschaften, Korruption und den Kauf von verschleuderten Staatsfirmen ein Wirtschaftsimperium aufgebaut hatte, befindet sich heute in einem sibirischen Arbeitslager. Doch der Grund dafür liegt nicht in der Art, mit der er sich seinen Besitz angeeignet hat, sondern darin, dass er für Putins Clan in politischer und wirtschaftlicher Hinsicht zu mächtig geworden war. Im Zuge der Zerschlagung des Yukos-Imperiums wurde die bis dahin größte Ölfirma zwar verstaatlicht. Doch der staatliche Ölkonzern ROSNEFT, der sich die Übernahme sicherte (und zwei Jahre später selbst von GAZPROM übernommen wurde) hat seit seiner Gründung 1995 stets mehr in die Taschen von Managern und privaten Magnaten wie Sergej Bogdantschikow sowie ihrer politischen Kontakte gewirtschaftet, als in die Staatskassen.
Zweifellos war Chodorkowskis Anklage wegen Steuerhinterziehung berechtigt, doch es fällt auf, dass Prozesse dieser Art einer bestimmten Auswahl unterliegen. So konnte sich der wohl reichste russische Oligarch Roman Abramowitsch (Besitzer des Fußballklubs FC Chelsea) trotz seiner politischen Ambitionen erfolgreich mit der russischen Zentralregierung arrangieren. Der mehrfache Dollar-Milliardär – laut dem Magazin Forbes verfügte er 2006 über 18,7 Milliarden US-Dollar – hatte zuvor als Gouverneur der ostsibirischen Provinz Tschukotka eigenen und anderen Firmen die Bezahlung der lokalen Steuern „erlassen“. Grund für dieses Arrangement war sicher nicht zuletzt die Tatsache, dass Abramowitsch sich von seinem früheren Mentor Boris Beresowski brav distanziert hatte, als dieser nach Putins Amtsantritt zu Fall gebracht wurde. (Beresowski nagt heute mit einem Vermögen von rund 620 Millionen US-Dollar dennoch nicht am Hungertuch.)[ 4 ] Der Fall des Gouverneurs Abramowitsch zeigt deutlich, dass politische und wirtschaftliche Macht Hand in Hand gehen. Die steinreichen lokalen Statthalter haben ihre von Jelzin erhaltenen Privilegien nicht im Geringsten eingebüßt. Der unvorstellbare Luxus, in dem ausgewählte Persönlichkeiten wie Roman Abramowitsch oder der 30-jährige tschetschenische Regierungschef Ramsan Kadyrow leben, machen deutlich, dass den oberen 10.000 die Butter auf dem Brot nicht fehlt. Was von den unteren 100 Millionen nicht behauptet werden kann.
Autoritäres System
Mittels Tschetschenienkrieg und Panikmache vor dem „Terrorismus“, Nationalismus und damit zusammenhängend Xenophobie wird versucht, den Ausgebeuteten den Sand der „nationalen Einheit“ in die Augen zu streuen. Zwar wird in Hinblick auf die bevorstehenden Parlamentswahlen sowie unter dem seit 2005 deutlich anwachsenden Druck der ausgebeuteten Bevölkerungsschichten eine Anhebung der sozialen Zuwendungen in Aussicht gestellt. Doch die militarisierte Staatsmacht dient eindeutig mehr einer Einmischung im Kampf der verschiedenen OligarchInnen mit dem Zweck, bestimmte Interessen vor anderen zu verteidigen.
Doch während beispielsweise der französische Innenminister und konservative Präsidentschaftskandidat Nicolas Sarkozy im aktuellen Wahlkampf beinahe unverhüllt im Namen der gesamten Industriellenvereinigung sprechen kann, ist im heutigen Russland eine autoritäre Herrschaft über die untereinander rivalisierenden Kapitalfraktionen notwendig (wobei die Regierung selbst mit einzelnen dieser Fraktionen verbunden ist). Was nicht bedeuten soll, dass in „westlichen“ kapitalistischen Ländern keine Interessenskonflikte zwischen KapitalistInnen herrschen. Die Abwehr von so genannten „feindlichen Übernahmeangeboten“ durch den Staat ist auch innerhalb der EU eine gängige Praxis. (Als Beispiel hierfür kann die bevorstehende Fusion zwischen dem privaten Energieanbieter Suez und der französischen noch halbstaatlichen EDF gegen die italienische ENEL dienen.)
Diese Interessen gehen in Russland nicht zufällig auseinander. Der Grund dafür ist vielmehr in der letzten Periode der Sowjetunion zu suchen. Hinter den wohlklingenden Begriffen „Perestroika“ (Umbau, Reform) und „Glasnost“ (Offenheit) und mit Gorbatschow als Frontmann verbargen sich nämlich die ManagerInnen der bis dahin staatlichen Betriebe. Diese privilegierte Elite hatte dann auch die Pole-Position beim Start in den Kapitalismus inne und erlangte in den 90er Jahren durch die Beschleunigung der „Reformen“ unter Jelzin binnen kürzester Zeit schier unermesslichen Reichtum. Bereits zehn Jahre nach Auflösung der UdSSR gab es in Russland 36 Dollar-MilliardärInnen, die ein Viertel des gesamten russischen Bruttoinlandsproduktes (BIP) besaßen. Diese ehemaligen BürokratInnen, darunter Lebedew und Chodorkowski, hatten in Boris Jelzin ihren Vertreter gefunden. Doch die Konkurrenz schläft bekanntlich nicht und wählte sich Putin, den Mann fürs Grobe.
Charakterisierung des Regimes
Die Regierung Putin ist offenbar nicht mit der eines beliebigen westeuropäischen Landes vergleichbar. Parteien werden vom Kreml beliebig für verschiedene Zielgruppen gegründet und verschwinden wieder in der Versenkung. In Tschetschenien führt das Regime einen schmutzigen Krieg mit bisher weit mehr als hunderttausend Toten. Die Justiz wird dazu eingesetzt, in autoritärer Manier Putin- KritikerInnen mundtot zu machen – wo dies nicht gelingt, liquidiert der Geheimdienst mißliebige Personen und politische GegnerInnen. Jene KapitalistInnen, die mit Putin konform gehen, herrschen in Einklang mit der Regierung über das Land, diejenigen, die auf das falsche Pferd gesetzt haben oder in Ungnade fielen, finden sich in Sibirien wieder. Und währenddessen fallen immer größere Teile der Bevölkerung in soziales Elend.
Die Situation Russlands ist eine besondere. Der Satz, dass am Beginn jedes großen Vermögens ein großes Verbrechen steht, ist in Russland eine besonders offensichtliche Realität. Im Gegensatz zum langsam gewachsenen Kapitalismus in Mittel- und Westeuropa mit gefestigten bürgerlich- demokratischen Strukturen ist der russische Kapitalismus aus einer chaotischen Situation entstanden: Nach dem Ende des Stalinismus in der Periode von 1989 – 1991 wurde binnen wenigen Jahren die gesamte Wirtschaft umgekrempelt. Die skrupellosesten der ehemaligen BürokratInnen bauten sich entweder binnen kürzester Zeit durch betrügerische Privatisierungen und Korruption ein Vermögen auf oder erweiterten ihre Macht im Staatsapparat (und oft war dies keineswegs ein Widerspruch).
Die Putin-Herrschaft balanciert dabei allerdings nicht, wie der von Marx oder Trotzki beschriebene klassische „Bonapartismus“ (im Sinne Napoleons III) zwischen den Klassen, sondern herrscht über bestimmte Interessen innerhalb der herrschenden Klasse und setzt diese autoritär um, hat aber durchaus „bonapartistische“, also autoritäre Züge.
Wünschenswert allerdings ist, dass die ArbeiterInnenklasse ein klares, politisches Bewusstsein ihrer Situation erlangt, ihre Organisationen gestärkt werden und es zu massenhaften sozialen Kämpfen kommt. Eine solche Entwicklung würde die besitzende Klasse unweigerlich gegen ihren gemeinsamen Feind zusammenschweißen. Die historische Aufgabe der ArbeiterInnenklasse wird dann darin liegen, über diese Situation hinauszugehen und das kapitalistische System mit all seinen Ausformungen auf dem Weg zu einer klassenlosen Gesellschaft zu überwinden und hinter sich zu lassen …
Fußnoten:
[ 1 ] Le niveau de vie en Russie 1991-2004. In: Le courrier des pays de l’est. September 2005
[ 2 ] La pauvreté en Russie. Un état de lieu. In: Le courrier des pays de l’est. Oktober 2005
[ 3 ] Oligarchie: Herrschaft weniger Personen
[ 4 ] www.netstudien.de/Russland/