Ein Skandal von noch nicht erahnbarem Ausmaß erschüttert derzeit das aufstrebende "Wirtschaftswunderland" China: Mehr als 1000 Minderjährige sollen in Ziegeleien und Bergwerken als Sklaven und Sklavinnen gehalten worden sein.
Wie staatliche Medien in den letzten Tagen und Wochen berichteten, sollen in den nordchinesischen Provinzen Shanxi und Henan unzählige Menschen, darunter bis zu 1000 Minderjährige, unter sklavenähnlichen Bedingungen zur Arbeit in Ziegelfabriken und Stollen gezwungen worden sein. Ein Skandal von solchen Ausmaßen, dass er selbst von der extrem repressiven und zensurerprobten chinesischen Regierung nicht vertuscht werden konnte. Diese kündigte nach dem bekannt werden der Vorfälle an, "hart durchgreifen" zu wollen. Und tatsächlich: Mehr als 35.000 PolizistInnen veranstalteten eine Großrazzia in etwa 7500 Ziegeleien, Kohleminen und Gießereien. Die staatliche Nachrichtenagentur Xinhua meldete am Freitag den 23. Juni, die Polizei habe mittlerweile mehr als 568 Menschen aus etlichen Ziegeleien und Bergwerken befreit und 169 Verdächtige festgenommen.
Die Berichte des bisher Aufgedeckten lesen sich wahrhaft schrecklich. So befreite die Polizei Kinder, die teilweise erst 8 Jahre alt waren, ausgehungert, mit eiternden Wunden an Füßen, Hüften und Armen. "Sie waren in Lumpen gekleidet, dreckig von Staub und Schlamm", sagte ein Bauer, der gesehen hatte, wie einige der Arbeiter vergeblich versucht hatten, zu fliehen. Anderswo stießen die Behörden auf eingesperrte geistig Behinderte. Die Betriebe, in denen die SklavInnen bis zu 16 Stunden pro Tag unter unvorstellbaren Bedingungen arbeiten mussten, wurden wie Gefängnisse geführt. Aggressive Wachen nötigten die ZwangsarbeiterInnen mittels Prügeln und scharfen Hunden zur Arbeit. Ein Ziegelei-Besitzer gab an, er habe eine Kind "versehentlich" mit einer Schaufel erschlagen und dessen Leiche nachts verscharrt. Der Chef einer Ziegelei, Zaho Yanbing, gab im chinesischen Staats-Fernsehen zu, er habe einen Arbeiter mit einer Schaufel erschlagen, weil dieser nicht hart genug gearbeitet habe. "Seine Leistung war so schlecht, da wollte ich ihn ein bisschen erschrecken". Für ihre SklavInnen hatten die AusbeuterInnen den EntführerInnen 30 bis 50 Euro "Vermittlungsgebühren" gezahlt.
Der Skandal schlägt ungewöhnlich hohe Wellen in der chinesischen Politik. China.org.cn, eine Online-Tageszeitung des chinesischen Staats, titelte: "Sklavenarbeit schockiert die Nation". Die Wochenzeitung Nanfang Zhoumo erschien mit der Titelseite: "Schwarzarbeit mit Blut und Tränen von Kindern". Es gab sogar Rücktrittsforderungen an PolitikerInnen (was unüblich für chinesische Medien ist). Ein Fall im Süden der Provinz Shanxi erregt die chinesischen Öffentlichkeit besonders: Eine Ziegelei, in der 32 ZwangsarbeiterInnen ausgebeutet wurden, liegt im Hofgelände des dörflichen Parteisekretärs und gehört seinem Sohn Wang Bingbing. Doch wahrscheinlich sind noch zahlreiche weitere ParteifunktionärInnen in den Skandal verwickelt. Aufgebrachte Angehörige der ZwangsarbeiterInnen werfen den Behörden vor, dass genau jene, die sich jetzt als BefreierInnen aufspielen, jahrelang weggeschaut haben. Diese Korruptions-Vorwürfe werden auch von der, in Hongkong ansässigen, Organisation "China Labour Bulletin" geteilt, die von etwa 1000 illegalen Kohleminen in der Provinz Shanxi, dem Zentrum der chinesischen Kohleindustrie, spricht. Diese würden von korrupten lokalen KP-FunktionärInnen gestützt. (Zum Artikel)
Kapitalistische Restauration
Doch was sind die Hintergründe des Ganzen? Wie konnte es dazu kommen? Die, von der chinesischen Kommunistischen Partei massiv vorangetriebene, Restauration des Kapitalismus hat in China eine tiefe soziale Kluft entstehen lassen. Mit einem Gini-Index von 44,7 (0 bedeutet völlig Gleichheit, 100 völlige Ungleichheit) hat das Land mittlerweile die USA überholt, die einen Gini-Index von 40,8 aufweisen. Tendenz steigend. Shanxi und Henan gehören zu den ärmsten Provinzen des Landes. Zwar sind die sozialen Standards hier nicht so niedrig wie in noch weiter im Hinterland gelegenen Provinzen wie etwa Sichuan oder der inneren Mongolei, aber breite Teile dieser Regionen bekommen nichts vom hierzulande oft bejubelten chinesischen "Wirtschaftswunder" mit. 2005 betrug das monatliche Durchschnittseinkommen in Shanxi und Henan um die 910 Yuan (etwa 89 Euro), das ist nur knapp die Hälfte des durchschnittlichen Einkommens in Shanghai (1650 Yuan, ca. 162 Euro). (Quelle: Statistikamt der VR China, 2005) Noch stärker ist das Lohngefälle zwischen Stadt und Land. EinE durchschnittlicheR StadtbewohnerIn in Küstenprovinzen verdient 11.523 Yuan/Jahr, einE durchschnittlicheR LandbewohnerIn in Westchina hingegen nur 2.146 Yuan/Jahr – eine unglaubliche Differenz von 1:5,4. BewohnerInnen der betroffenen Orte meinen, es wäre eine, diese Regionen prägende, Mischung aus Armut und Gleichgültigkeit, welche diese Zustände erst zugelassen hätte.
Armut auf dem Land
Noch immer arbeitet fast die Hälfte der chinesischen Erwerbsbevölkerung in der Landwirtschaft. Doch durch den zunehmenden Druck auf die Bauern/Bäuerinnen seit dem WTO-Beitritt Chinas 2001 können viele nicht mehr mithalten. Sie müssen nun ihre Produkte zu Weltmarktpreisen verkaufen, was bei der Subventionspolitik der imperialistischen Länder praktisch unmöglich ist. (Knapp 50% des landwirtschaftlichen Produktionswerts in den EU-Staaten werden subventioniert, in Japan sind es sogar 65%). Aber auch durch Requirierung von Ackerland (welches formell noch immer dem Staat gehört) für diverse Projekte, die von Gewerbeparks über Rohstoffbohrungen bis hin zu Golfplätzen für die neue chinesische Bourgeoisie reichen, verlieren viele Bauern/Bäuerinnen ihre Lebensgrundlage. Von 1997-2004 gingen so 6,6 Mio. Hektar Anbaufläche verloren, wovon 40 Mio. Bauern/Bäuerinnen mitsamt ihren Familien betroffen waren. ("Junge Welt" vom 28.12.2004)
Auch die, parallel zur Etablierung kapitalistischer Verhältnisse stattgefundene Einführung von Gebühren für Schuldbildung, gesundheitliche Versorgung etc. treibt viele LandbewohnerInnen in die Armut. An der prekären sozialen Lage am Lande ändert auch die im Jahr 2004 von der chinesischen Regierung begonnene neue Agrarpolitik, die "neue sozialistische Dörfer" schaffen soll, nicht viel.
Tatsache ist, dass jedes Jahr Millionen Menschen versuchen, der ländlichen Armut zu entfliehen, in dem sie in die Städte ziehen, um in Fabriken und auf Baustellen Arbeit zu suchen. Dort müssen sie auf Gedeih und Verderb jeden beliebigen Job annehmen und darauf hoffen, am Ende des Jahres den versprochenen Lohn ausgezahlt zu bekommen. Die angeblich bereits 200 Mio. "WanderarbeiterInnen" – ehemalige Bauern/Bäuerinnen, die auf der Suche nach Arbeit von Stadt zu Stadt ziehen – bilden heute die unterste Schicht der chinesischen ArbeiterInnenklasse. Sie werden brutal ausgebeutet, haben zumeist weder soziale Absicherung noch gewerkschaftliche Vertretung und sind oft gefährlichen Arbeitsbedingungen ausgesetzt. Allein die Hauptstadt Beijing, wo ca. 1,3 Mio. WanderarbeiterInnen am Bau arbeiten, verzeichnet jährlich 2000 durch Arbeitsunfälle getötete BauarbeiterInnen. (Quelle: Fischer Weltalmanach. Weltmacht China, Frankfurt 2006, S.123) Es wird berichtet, dass viele der SklavInnen an "Knotenpunkten" für WanderarbeiterInnen wie großen Bahnhöfen "aufgelesen" wurden, wo sie mit falschen Versprechungen angelockt oder schlicht und einfach gekidnappt wurden.
Die Reaktionen der "Kommunistischen" Partei
Wie es scheint, wird die Regierung nun mit ihrem Vorhaben, hart durchgreifen zu wollen, ernst machen. An den allgemeinen Zuständen wird sich zwar wenig ändern, da die Parteiführung die Probleme nicht bei der (kapitalistischen) Wurzel packen wird, allerdings wird sie darauf bedacht sein, ein Exempel zu statuieren. Bereits in der jüngeren Vergangenheit gab es oft drakonische Strafen gegen FunktionärInnen, die dem Ansehen der KP Schaden zugefügt hätten. So wurde im Rahmen einer Antikorruptionskampagne im Jahr 2001 sogar der frühere Vizeminister für öffentliche Sicherheit und stellvertretende Leiter der nationalen Sonderkommission gegen Schmuggel, Li Jizhou, zum Tode verurteilt. Im jetzigen Fall liegt es im ureigenen Interesse der Zentralregierung, die zunehmend autonom agierenden "Provinzfürsten" (lokale KP-FunktionärInnen, die oft auch örtliche KapitalistInnen sind und sich als allmächtige Patriarchen geben) in die Schranken zu weisen.
Hier geht es natürlich auch um ideologische Legitimation. Eine Partei, die sich immer noch kommunistisch nennt, die aber gleichzeitig die sozialen Errungenschaften des Landes (welches nie sozialistisch oder gar kommunistisch war!) aushöhlt, muss ihre Macht auch irgendwie legitimieren. Auf die zunehmenden sozialen Spannungen im Land reagiert die KP-Spitze (neben repressiven Maßnahmen) auch mit – in China traditionell sehr wichtiger – Symbolik. So zum Beispiel, wenn Premierminister Wen Jiabao das Neujahrsfest gemeinsam mit Bergarbeitern im Stollen feiert. Symbolik kann natürlich auch in die andere Richtung gehen. Als die KP-Führung 2005 alle chinesischen Ferrari-BesitzerInnen zum üppigen Festbankett in die Große Halles des Volkes in Beijing einlud, um "10 Jahre Ferrari in China" zu feiern, zeigte sie ganz unverblümt, welchen sozialen Interessen sie sich wirklich verschrieben hat.
Nur die Spitze des Eisberges
Der jetzige Skandal ist nur die Spitze des Eisberges. Im "Wirtschaftswunderland" China arbeiten Millionen und Abermillionen Menschen unter unvorstellbaren Bedingungen für den kapitalistischen Weltmarkt. Die Industrieregionen Süd- und Ostchinas, wie etwa das Perlflussdelta rund um die Metropolen Hongkong, Guangdong und Shenzhen, mit 500.000 Fabriken (!) wahrscheinlich das größte zusammenhängende Industriegebiet der Welt, haben sich zu gigantischen "Ausschweißungsgebieten" (Marx) entwickelt. Die Unternehmen der Schuh-, Bekleidungs- oder Elektronikindustrie beschäftigten hauptsächlich 18-25-jährige ArbeitsmigrantInnen aus dem chinesischen Hinterland, die oft 60 oder mehr Stunden pro Woche arbeiten müssen (offiziell sind 44 Wochenstunden erlaubt). Soziale Rechte sind ein Fremdwort in Chinas neuen Industriebetrieben. Laut einer offiziellen Untersuchung verletzen 80% (!) der privaten Unternehmen das Arbeitsrecht. (Quelle: Xinhuanet, 29.12.05)
Die ArbeiterInnen schlafen häufig in ekeligen Quartieren direkt auf dem Fabrikgelände. Andere wohnen in städtischen Elendsvierteln. Unlängst sprach der chinesische Vizebauminister Qui Baoxing als erster hoher Parteioffizieller von "Slums im chinesischen Stil". Im offiziellen Sprachgebrauch heißen Slums – die im "sozialistischen" China ja gar nicht existieren dürften – allerdings "Dörfer innerhalb von Städten".
Das alles ist auch hierzulande mehr oder weniger bekannt. Doch nicht so oft wird erwähnt, dass hier in großen Ausmaßen "westliche" Konzerne am Werk sind, die direkt oder mittels chinesischer AuftragsfertigerInnen produzieren lassen. Nicht nur aus diesem Grund ist das momentane China-Bashing der "westlichen" bürgerlichen Medien ziemlich unangebracht und heuchlerisch. Zustände wie in China herrschen in vielen Ländern dieser Welt vor, in denen europäische, us-amerikanische und japanische Konzerne produzieren lassen. Und SklavInnenarbeit gibt es auch in Europa – hauptsächlich im Bereich der Prostitution. In seinem Buch "Die neue Sklaverei" spricht der US-amerikanische Soziologe Kevin Bales von sage und schreibe 3000 illegal festgehaltenen HaussklavInnen allein in Paris.
Widerstand der Unterdrückten
Doch die chinesischen Unterdrückten nehmen ihr Schicksal nicht einfach so hin. Immer öfter kommt es zu heftigen Auseinandersetzungen von ArbeiterInnen und Bauern/Bäuerinnen mit der Staatsmacht. 2003 meldete die Regierung noch 58.000 "Protestaktionen", 2004 waren es bereits 74.000, 2005 schon 87.000. (Diese Statistiken erfassen zwar sehr Verschiedenes, von Kundgebungen bis hin zu Riots, jedoch ist davon auszugehen, dass viele Proteste gar nicht registriert werden). Erst vor kurzem kam es in der südchinesischen Provinz Guangxi zu wilden Protesten gegen drastische Strafen der lokalen Behörden bei der Durchsetzung der Ein-Kind-Politik. Dabei wurden mehrere Regierungsgebäude angezündet, tausende Menschen lieferten sich Straßenschlachten mit der Polizei.
Besonderes Augenmerk muss in diesem Zusammenhang natürlich auf die Aktionen der ArbeiterInnenklasse gelegt werden. Anfang Juni versuchte die Polizei in der südchinesischen Metropole Shenzhen tausende ArbeiterInnen (mehrheitlich Frauen), die bereits seit 10 Tagen gegen die langen Arbeitszeiten und Entlassungen ohne Abfindung in einer Fabrik für Plastikweihnachtsbäume mit 10.000 Beschäftigten streikten, auseinanderzujagen. Fünf Stunden lang widerstanden die Arbeiterinnen diesem Versuch, dann löste sich die Menge wegen heftigem Regen auf. Eine Streikende wurde von Polizisten geschlagen, es gab 100 vorübergehende Festnahmen. (Mehr zu Protesten in China in der Presseschau von www.umwaelzung.de).
Noch ist China im Allgemeinen von einem Aufstiegsgefühl beseelt. Doch der Widerstand gegen die kapitalistischen Zustände nimmt zu. Im Falle einer Wirtschaftskrise, steigender Arbeitslosigkeit und Perspektivlosigkeit könnte es zu einem Aufflammen der Klassenkämpfe kommen, dessen Folgen noch nicht absehbar sind. Das weiß auch die chinesische Regierung, die tunlichst versucht, dies zu verhindern …