Wie weiter in Venezuela? (Teil 3)

Das Referendum zur Verfassungsreform am 2. Dezember brachte die erste Niederlage von Hugo Chavez bei einer Abstimmung. Der Verfassungsvorschlag wurde mit 50,7% gegen 49,3% abgelehnt. Das Scheitern geht vor allem auf die hohe Wahlenthaltung zurück, denn die Opposition konnte im Vergleich zu den Präsidentschaftswahlen 2006 nur etwas über 200.000 Stimmen dazu gewinnen, während Chavez über 2,9 Mio. Stimmen verloren hat. Angesichts der knapp 4,4 Mio. Stimmen für die neue Verfassung bedeutet das, dass Chavez fast 40% seiner WählerInnen abhanden gekommen sind.

Dass AnhängerInnen des "revolutionären Prozesses" in Massen zuhause geblieben sind, liegt in erster Linie daran, dass viele ArbeiterInnen und BewohnerInnen der Armenviertel vom schleppenden Fortgang der gesellschaftlichen Veränderungen zunehmend enttäuscht sind. Trotz aller Sprüche vom Sozialismus lebt die Mehrheit der Bevölkerung weiterhin in Armut, die Herrschaft des Großkapitals in Ökonomie (und Medien) bleibt unangetastet, rechte Killer ermorden weiterhin AktivistInnen der LandarbeiterInnenbewegung, immer wieder geht die Polizei gegen Proteste von ArbeiterInnen vor.

Wir analysieren die aktuelle Situation und die weiteren Perspektiven.

  

Teil 3: Referendum und weitere Perspektiven

Von den ChavistInnen und ihren internationalen AnhängerInnen ist die Verfassungsreform oft als ein Schritt in Richtung Sozialismus hingestellt worden. Abgesehen davon, dass MarxistInnen natürlich eine sozialistische Entwicklung über Volksabstimmungen und Verfassungsreformen für unmöglich halten, wollen wir hier erstmal dem Inhalt des von Chavez vorgelegten Verfassungsentwurfs auf den Grund gehen.

Der Kern des neuen Verfassungsentwurfes wurde von einer vom Präsidenten handverlesenen Kommission ausgearbeitet, die über vier Monate geheim und abgeschottet von den betroffenen Gruppen arbeitete. Mit einigen Änderungen wurde dieses Reformpaket (Block A) von der Nationalversammlung Anfang November 2007 angenommen und um weitere Verfassungsreformen (Block B) ergänzt. Diese abgehobene und bürokratische Vorgangsweise widersprach all den chavistischen Ansprüchen von "partizipativer Demokratie". Komplettiert wurde das auch noch durch das staatliche Verbot, für einen Boykott des Referendums aufzurufen. All dem entspricht auch der Inhalt des Verfassungsentwurfs: Ausweitung der Macht des Präsidenten und diffuse soziale Absichtserklärungen.

Präsidialmacht

Die Verfassungsreform sah eine deutliche Stärkung der Exekutivgewalt und dabei insbesondere des Präsidenten vor. So sah etwa Artikel 225 vor, dass der/die PräsidentIn nicht nur die/den 1. VizepräsidentIn, sondern auch weitere VizepräsidentInnen nach eigenen Gutdünken ernennen kann. Er (und nicht mehr die/der VizepräsidentIn) sollte nach Artikel 185 die Leitung des Staatsrates, des obersten Beratungsgremiums des Staates, übernehmen; außerdem sollte er in Zukunft die Mitglieder dieses Gremiums ernennen. Statt einer Wahl durch die Bevölkerung sollte auch die Ernennung der FunktionsträgerInnen (regionale VizepräsidentInnen, BezirksfunktionärInnen) von Bundesstaaten, Bundesterritorien und Bundesstädten nach Artikel 16 ein Recht des Präsidenten sein. Und Artikel 11 sah sogar vor, dass der Präsident so genannte "strategische Verteidigungszonen" einrichten kann, in denen er über eine Art Notstandsrecht regiert – eine Maßnahme, die nicht nur gegen rechte PutschistInnen eingesetzt werden kann, sondern auch gegen streikende ArbeiterInnen.

Die vorgesehene uneingeschränkte Wiederwählbarkeit des Präsidenten (Artikel 230) wäre an sich nicht problematisch oder undemokratisch; wenn die Bevölkerung Chavez oder jemanden anderen immer wieder wählen möchte, sollte sie das auch können. Problematisch wird das Ganze aber dann, wenn derselbe Artikel eine Verlängerung der Amtszeit des Präsidenten auf sieben Jahre vorsieht und damit die Wahlmöglichkeit der Bevölkerung reduziert. Noch problematischer ist dabei, dass der Präsident oder die Präsidentin die einzige Person sein sollte, die das Recht haben sollte, in ihrem Amt wieder gewählt zu werden.

Die geplante Aufhebung der "Unabhängigkeit" der Zentralbank (wo in Wirklichkeit einige mit der herrschenden KapitalistInnenklasse verbundene BankerInnen/ÖkonomInnen wesentliche Entscheidungen für das ganze Land treffen) wäre eigentlich auch ein richtiger Schritt. Die neue Verfassung (Artikel 318) sah allerdings nicht die Kontrolle der Zentralbank (im sozialistischen Sinn) durch Organe der Lohnabhängigen oder zumindest (im bürgerlich-demokratischen Sinn) durch die Nationalversammlung vor, sondern die Unterstellung unter den Präsidenten.

Im Gegensatz zu einer entscheidenden Rolle des Proletariats in sozialen Umwälzungen, wie sie MarxistInnen anstreben, steht auch die politische Aufwertung des Militärs im Verfassungsentwurf. Artikel 328 definiert die "bolivarianischen Streitkräfte" als "patriotisches und antiimperialistisches Instrument des Volkes". Zugleich sollte die für die "innere Sicherheit" zuständige Nationalgarde, die zuletzt auch wieder gegen protestierende ArbeiterInnen eingesetzt wurde, Teil der Armee werden (Artikel 329). Solche Absichten sind natürlich Ausdruck davon, dass Chavez selbst aus dem Militärapparat kommt und seine Macht erheblich darauf stützt. Wie fatal es für die ArbeiterInnenbewegung und Linke sein kann, auf einen Teil des bürgerlichen Repressionsapparates wie die Armee zu hoffen, deutete zuletzt General Raul Baduel an, der als führender chavistischer Militär direkt in das Lager der rechten Opposition wechselte. Es sei an die Entwicklung in Chile Anfang der 70er Jahre erinnert, wo Präsident Salvador Allende noch selbst den späteren rechten Putschisten Augusto Pinochet zum Oberbefehlshaber des Militärs ernannte.

Soziales und Sozialismus?

Die prochavistischen Kräfte argumentierten freilich stets, dass die Verfassungsreform wesentliche soziale Verbesserungen bedeute. Das bezieht sich vor allem auf zwei Punkte, nämlich Arbeitszeitverkürzung und soziale Absicherung. Artikel 90 sah als Ziel die Begrenzung der täglichen Arbeit auf sechs Stunden und der Wochenarbeitszeit auf 36 Stunden vor. Artikel 87 beinhaltet einen "Fonds für soziale Stabilität", der prekär Beschäftigten und Hausfrauen eine soziale Absicherung und insbesondere einen Rentenanspruch bringen sollte. Die Zusage einer Kürzung des Arbeitstages und der Schaffung eines solchen Fonds haben die ProletarierInnen allerdings bereits mit der Verfassung von 1999 bekommen. Die Regierung und die Nationalversammlung waren seitdem aber unfähig, die Vorgaben der Grundgesetze über Soziale Sicherheit und über Arbeit umzusetzen. Die ChavistInnen hatten seit Ende 2006 eine überwältigende Mehrheit in der Nationalversammlung und hätten seitdem all diese Dinge mit einfachen Gesetzen beschließen können. Sie waren dazu nicht bereit. Angesichts dessen muss davon ausgegangen werden, dass die beiden erwähnten Punkte vor allem Köder waren, um die arme Bevölkerung dazu zu bringen, für die Verfassungsreform und damit die neuen Kompetenzen von Chavez zu stimmen.

Artikel 70 des Verfassungsentwurfes proklamierte eine aktive Rolle des Volkes beim "Aufbau des Sozialismus". Gemeint ist damit, abgesehen von der Ebene der "schönen Worte", wohl eine sehr begrenze Mitbestimmung in untergeordneter Stellung zwecks Integration und Sicherung einer stabilen Machtbasis. Schließlich wird eine entscheidende Rolle der ArbeiterInnenklasse bei der Bestimmung der weiteren Entwicklung sowohl durch die anderen Verfassungsbestimmungen als auch durch die fortgesetzte Praxis des Chavismus konterkariert.

Die propagierten Consejos Laborales (Arbeitsräte) sind keine von den ArbeiterInnen geschaffenen Organisationen, sondern von der staatlichen Bürokratie initiiert. Statt um ein Instrument "partizipativer Demokratie" handelt es sich bei ihnen vielmehr um ein Mittel des Chavismus, den Einfluss kämpferischer Gewerkschaften zurückzudrängen. Indem staatlich bevormundete Strukturen protegiert und gleichzeitig anti-gewerkschaftliche Politik fortgesetzt wird, betreibt die Regierung die Spaltung der ArbeiterInnenklasse. Mit Artikel 141 sollten die öffentlich Bediensteten als Instrumente der zentralen Staatsgewalt neu definiert werden; GewerkschafterInnen fürchten, dass damit unter anderem das Streikrecht im öffentlichen Dienst unterminiert werden sollte.

Während die (internationalen) Fans des Chavismus in Zusammenhang mit der Verfassungsreform einen "Sozialismus des 21. Jahrhunderts" ausmalten, hatte der von Chavez vorgelegte Entwurf mit Antikapitalismus nichts zu tun. Die kapitalistischen Eigentumsverhältnisse wurden darin überhaupt nicht in Frage gestellt. Artikel 115 erkennt ausdrücklich verschiedene Eigentumsformen an und erlaubt gerade mal dem Staat – wenn im öffentlichen Interesse und nur nach einem Gerichtsurteil – Besitzungen zu enteignen (freilich nur gegen Entschädigung). Das muss wenig überraschen, liegt es doch ganz auf der Linie der bisherigen Politik des Chavismus, der den Kompromiss mit dem nationalen und internationalen Kapital sucht. Anfang Juni 2007 sagte Chavez auch ganz offen: "Wir haben keine Absicht, die Oligarchie, Venezuelas Bourgeoisie, auszumerzen. Das haben wir in unseren acht Jahren zur Genüge bewiesen."

In der Auseinandersetzung um die Verfassungsreform haben VertreterInnen der Regierung gegenüber den Medien auch wiederholt betont, dass die Reform Privateigentum schützt. Die Propaganda der Regierung gegenüber der chavistischen Basis, dass die "gemischten Betriebe" (teils in Staats-, teils in Privateigentum) den Weg zum Sozialismus darstellten, wird immer weniger Leute täuschen können. Auch dieses "Privat-Public-Partnership" funktioniert nach kapitalistischen Kriterien auf einem kapitalistischen Markt. Nicht zufällig dankte sogar die rechte Führung des KapitalistInnenverbandes FEDECAMERAS dem Vizepräsidenten Jorge Rodriguez dafür, dass die Verfassungsreform das Privateigentum an Produktionsmittel respektiert.

Linke Debatte um die Reform

Chavez und seine UnterstützerInnen hatten im Zuge der Kampagne um die Verfassungsreform wiederholt erklärt, dass alle, die nicht für die Reform sind, Teil einer "internationalen Verschwörung" seien. Es wurde versucht, das Referendum als Abstimmung für oder gegen Chavez, für oder gegen den "revolutionären Prozess" darzustellen. GegnerInnen und SkeptikerInnen gegenüber der Verfassungsreform in der Linken und ArbeiterInnenbewegung wurden von den ChavistInnen und besonders auch ihren internationalen Fans als Teil der Konterrevolution diffamiert. Es wurde alles versucht und das ganze Gewicht der Autorität des Präsidenten in die Waagschale geworfen, um bei der Abstimmung ein JA zu erreichen. Freilich wurde die Kampagne stark bürokratisch von oben und nicht von der Basis organisiert.

Nicht nur die klassischen chavistischen Parteien, sondern auch große Teile der venezolanischen und internationalen radikaleren Linken unterstützten die Verfassungskampagne weitgehend unkritisch. Die MAREA-Strömung um Stalin Perez Borges kritisierte zwar die fehlende Transparenz bei der Erstellung des Verfassungsentwurf, argumentierte aber, dass die neue Verfassung trotzdem einen Fortschritt im "revolutionären Prozess" sei. Dabei ging es für MAREA sicherlich auch darum, sich in der PSUV nicht zu isolieren und nicht womöglich gleich ausgeschlossen zu werden (immerhin war die Zustimmung zur Verfassung ja bislang die einzige politische Basis für die Teilnahme an der PSUV). Und dahinter stand auch die Befürchtung, dass eine Niederlage von Chavez in der Verfassungsfrage der rechten Opposition nützen könnte; ein Aspekt, durch den sich auch andere Gruppen, die dem Entwurf kritisch gegenüber standen, zu einer JA-Stimme nötigen ließen.

Die Strömung um Orlando Chirino übte dennoch massive Kritik an dem Verfassungsentwurf. Bereits Mitte September 2007 formulierte Chirino in einer Debatte innerhalb der C-CURA, dass der Verfassungsentwurf "nichts mit einer sozialistischen Perspektive zu tun" habe und das "kapitalistische Eigentum in keiner Weise in Frage stellt. (…) Die bürgerliche Justiz bleibt intakt, die Verwaltung bleibt in den Händen der Kapitalisten und wird weiter die Ausbeuter und die Diebe in den weißen Hemden bevorzugen. Die Verteidigung der Revolution wird weiter in den Händen einer professionellen Armee verbleiben und nicht des bewaffneten Volkes (…)." Die sozialen Verbesserungen in der Verfassung seien durch die Regierung interpretierbar und als jahrzehntelang aktiver Gewerkschaftskämpfer sei er bei solchen Dingen extrem misstrauisch.

In einer Erklärung von Ende November (von der RSO ins Deutsche übersetzt – hier) fasste Chirinos "Bewegung für den Aufbau einer Arbeiterpartei" ihre Position zusammen: Der Verfassungsentwurf habe mit einer Vertiefung des revolutionären Prozesses nichts zu tun; er beschränke die demokratischen Freiheiten der Massen. "Privateigentum an Produktionsmitteln und der Verbleib multinationaler Unternehmen als Teilhaber der Öl-Industrie" sei "mit dem Sozialismus unvereinbar." Die Arbeiter bei Sanitarios Maracay und anderer besetzter Betriebe hätten "verstanden, dass die Verteidigung des Privateigentums durch die Regierung nicht nur ein Slogan in der Kampagne der Befürworter der Verfassungsreform ist. (…) Im gesamten Projekt Verfassungsreform fehlt das klare Bekenntnis des Präsidenten oder der Nationalversammlung zum Bruch mit den in- und ausländischen privaten Unternehmern und den Großgrundbesitzern."

Die Hoffnung – so Chirino weiter – der "aus Washington ferngesteuerten putschistischen Opposition", dass ein NEIN bei der Verfassungsabstimmung einen Verzicht auf revolutionäre Errungenschaften bedeute, sei ein gewaltiger Irrtum. Bei jeder putschistischen Aktion würden "sie Millionen von Arbeitern gegenüber stehen; wir sind bereit, Fabriken zu besetzen und den Zustand herbei zu führen, in dem sie unter unserer Kontrolle produzieren." Die putschistische Opposition sei weiterhin der "große Feind des Volkes": "Es gilt, sie nieder zu werfen, ohne ihnen, wie es die Regierung getan hat, weitere Zugeständnisse zu machen. Es gilt, sie der Unternehmen, der Ländereien, der Banken und großen Gewerbe zu enteignen, auf dass diese unmittelbar vom Volk verwaltet und kontrolliert werden. Das ist der Sozialismus, für den wir kämpfen."

"Viele Arbeiter und Arbeiterinnen sprechen sich offen gegen die Verfassungsreform aus, weil sie wissen, dass diese einen Rückschritt bedeutet. Andere tun dies in verdeckter Form, weil sie den enormen Druck, den die Regierungsfunktionäre auf sie ausüben, spüren, insbesondere im Sektor der öffentlichen Verwaltung und in der PDVSA. Das Gute ist, dass die Arbeiterinnen und Arbeiter, die so denken oder handeln, nichts gemein haben mit den Unternehmern, den Großgrundbesitzern, den multinationalen Unternehmen oder den von einander losgelösten randalierenden Demonstranten oder den faschistischen Berufsputschisten. Als Revolutionäre können wir nicht blind und taub sein gegen diese Klagen, die von unten kommen und nach einer Form suchen, in der sie sich am 2. Dezember gegen die Verfassungsreform ausdrücken können. (…) Wir rufen die Arbeiter dazu auf, am 2. Dezember einen LEEREN STIMMZETTEL abzugeben, auf dem sie keine der beiden Optionen (SI oder NO) ankreuzen, sondern lediglich bestätigen, dass sie wählen. (…) Wir organisieren uns politisch in einer Arbeiterpartei, um weiterhin für den Sozialismus ohne Dienstherren, ohne Bürokraten und ohne Korruption zu kämpfen."

Verleumdungen

Dieser Aufruf führte zu einer massiven Hetzkampagne der ChavistInnen gegen Orlando Chirino und die "Bewegung für den Aufbau einer Arbeiterpartei". Es kam zu einer Welle offener und anonymer Beschimpfungen und Drohungen. Chirino wurde als Verräter und Konterrevolutionär bezeichnet. Es wurden Stimmen laut, die eine Zensur von APORREA, der wichtigsten linken Internetplattform in Venezuela, forderten; offensichtlich mit dem Ziel, Chirino und "seine Bande" an der Verbreitung ihrer politischen Positionen zu hindern.

In Puerto la Cruz wurden sogar fingierte Flugblätter in Umlauf gebracht, in denen Jose Bodas, der führende Gewerkschafter der C-CURA in der Erdölindustrie, zu einem NEIN zur Verfassungsreform aufruft. Dieses Manöver konnte aber nur kurzzeitig Verwirrung stiften: Die Erdölarbeiter erkannten, dass es sich um eine Verleumdung handelte, und viele sammelten die Flugblätter selbst ein und warfen sie weg. Der Versuch, Jose Bodas als Teil der Kampagne der rechten Opposition hinzustellen, ist umso perverser, als im Sommer 2006 der chavistische Wahlrat CNE mit der rechten, putschistischen CTV-Gewerkschaft kooperiert und so (vergeblich) versucht hatte, den Wahlsieg Bodas´ in der regionalen PDVSA zu verhindern.

Die internationalen Fans von Hugo Chavez wollten in der Hetze gegen Chirino natürlich nicht zurückstehen. Es war von einer "fünften Kolonne" in der bolivarischen Bewegung die Rede und von der "schändlichen" Gruppe von Chirino, die "gemeinsam mit der Konterrevolution agitierte". Es wurden Gerüchte in die Welt gesetzt, wie dass Chirino von der sozialdemokratischen Friedrich-Ebert-Stiftung aus Deutschland finanziert sei. Der US-amerikanische "linke" Soziologieprofessor James Petras ging sogar soweit zu behaupten, dass Leute wie Chirino bezahlte Agenten der CIA seien.

Aussagen wie die von Petras sind einfach nur unverschämte Lügen. Beim Tratsch um die Ebert-Stiftung handelt es sich um die windig Konstruktion, dass Chirino auf einer CTV-Veranstaltung gesprochen haben soll und die CTV wiederum von der sozialdemokratischen Stiftung Geld bekommt. Daraus eine politische Abhängigkeit zu konstruieren, ist absurd. Noch absurder sind solche Anwürfe freilich, wenn sie von Leuten kommen, die selbst bequeme Posten im akademischen Establishment in imperialistischen Ländern besetzen, sich selbst gut in sozialdemokratischen Strukturen eingerichtet haben oder sich selbst Reisen und Funktionäre von den venezolanischen Botschaften finanzieren lassen.

Solche Anwürfe sind aber nicht nur politisch unredlich, sondern auch zutiefst reaktionär. Jemanden in die Nähe der putschistischen Opposition zu rücken, bedeutet im chavistischen Diskurs einen mehr oder weniger offenen Aufruf zu Repression. Mit diesen Methoden hat schon die chavistische Gewerkschaftsfraktion FBT bürokratische und polizeiliche Übergriffe gegen klassenkämpferische ArbeiterInnen vorbereitet. Wer jetzt in der Debatte um die Verfassungsreform gegenüber sozialistischen KritikerInnen genauso agiert, trägt eine Mitverantwortung für künftige staatliche Repressalien gegen kämpferische GewerkschafterInnen.

Chavistische Manöverkritik

Das Ergebnis der Abstimmung um die Verfassungsreform zeigt deutlich, dass es richtig war, weder für ein JA noch für ein NEIN aufzurufen. Ein erheblicher Teil der bisherigen UnterstützerInnen des "revolutionären Prozesses" haben die Zustimmung verweigert – aus Skepsis gegenüber dem Entwurf oder aus Enttäuschung, dass der Chavismus zuletzt viele schöne Worte, aber kaum reale Verbesserungen gebracht hat. Es gab zwar nur 119.000 ungültige Stimmen, aber es ist davon auszugehen, dass viele, die die Position von Chirino und Bodas teilten, unter den 2,9 Mio. waren, die bei den Präsidentschaftswahlen noch für Chavez gestimmt hatten, diesmal aber nicht zur Abstimmung gingen.

Chavez hat in der unmittelbaren Reaktion das Ergebnis akzeptiert und so zumindest Diktaturvorwürfen der bürgerlichen Öffentlichkeit entgegenzuwirken versucht. Es handle sich um einen "weiteren Beweis für die Glaubwürdigkeit unserer Institutionen." Seine UnterstützerInnen erklärten mit Verweisen auf Bushs "Wahlsieg" im Jahr 2000, dass Chavez ein Beispiel an demokratischer Kultur abgegeben habe.

Chavez versuchte seinen AnhängerInnen Mut zu machen indem er sagte, "por ahora (vorerst) haben wir es nicht geschafft". Er benutzte dabei die gleichen Worte, die ihn nach dem gescheiterten Putsch 1992 berühmt gemacht hatten, und signalisierte damit, dass das Projekt für ihn nicht abgehakt ist. Dennoch begann im chavistischen Lager eine gewisse Suche nach Erklärungen für diese erste Niederlage. Teilweise wurde die Stimmungsmache gegen sozialistische KritikerInnen wie Chirino fortgesetzt. Teilweise wurde über die reaktionären Medien und die feindselige Haltung der katholischen Bischofskonferenz geklagt (als wenn etwas anderes zu erwarten gewesen wäre). Teilweise wurde – ähnlich, wie wenn bürgerliche PolitikerInnen in der EU ein Projekt nicht durchbekommen – damit gehadert, dass es nicht gelungen sei, die Sache der Bevölkerung ausreichend zu "erklären". Und bei der Regierungsumbildung Anfang Januar 2008 wurde Vizepräsident Jorge Rodriguez, der Koordinator des Referendums, seines Amtes enthoben.

Es gab im chavistischen Lager aber auch eine Manöverkritik. Edgardo Lander, einer der bekanntesten Intellektuellen Venezuelas und Unterstützer von Chavez, bemängelte, dass die StaatsbürgerInnen zu wenig in die Diskussion um die Verfassung einbezogen gewesen seien. Greg Wilpert, Leiter der prochavistischen Website venezuelanalysis.com, meint, dass es falsch war, die Reform so durchzupeitschen zu versuchen. Und der pakistanisch-britische Autor und Chavez-Unterstützer Tariq Ali bilanzierte es als Fehler, dass die Regierung darauf bestanden hatte, dass die Verfassungsänderungen nicht einzeln, sondern nur als Block abgestimmt werden konnten.

Stalin Perez Borges kritisierte, auf welch bürokratische Weise die PSUV für die Verfassungskampagne eingesetzt wurde und dass die Basisorganisationen nicht konsultiert worden waren. Während Chavez selbst von Kritik weitgehend ausgespart blieb, artikulierten linkere ChavistInnen immerhin, dass die Massen von der Sabotage der korrupten chavistischen BürokratInnen genug haben, dass sie der Ansprachen und Versprechungen müde sind und endlich entschiedenere Taten sehen wollen. Manche hoffen auf einen "heilsamen Schock" für die "bolivarische Bewegung" und eine daraus folgende Beschleunigung des "revolutionären Prozesses". Andere fürchten, dass Chavez als Reaktion auf die Abstimmungsniederlage nach rechts gehen und sich stärker auf einen Kompromiss mit der bürgerlichen Opposition orientieren könnte.

Revolutionäre Positionierung

Insgesamt handelte es sich beim Entwurf der Regierung um eine bürgerliche Verfassung, die den Rahmen der kapitalistischen Produktionsweise und des bürgerlichen Staates in keiner Weise verlässt. Sie bedeutete gegenüber der Verfassung von 1999 keine qualitative Veränderung. Einige soziale Verbesserungen, die das chavistisch dominierte Parlament jederzeit beschließen könnte, gingen einher mit erheblichen Ausweitungen der Machtbefugnisse des Präsidenten. Inhalt und Charakter der Verfassung konnten also für klassenbewusste ArbeiterInnen und SozialistInnen keine Gründe sein dafür zu stimmen.

Nun könnte freilich argumentiert werden, dass zwar die neue Verfassung keinen Fortschritt darstellt, dass aber ein Sieg der rechten Opposition gegen das Chavez-Lager verhindert und deshalb für die Verfassung gestimmt werden müsse. Wir denken, dass hier die Gegenargumente gewichtiger sind.

Sicher, die bürgerliche Opposition hat nach der Ablehnung der Verfassungsreform gefeiert. Dennoch wissen die rechten Kräfte sehr gut, dass sie nur etwas über 200.000 Stimmen dazu gewonnen haben. Innerhalb der rechten Opposition wurden durch die erfolgreiche Teilnahme am Referendum die gemäßigten, auf einen Deal mit Chavez orientierten Kräfte gegen die putschistischen Hardliner gestärkt. Der beim Referendum die bürgerliche Opposition unterstützende General Baduel betonte danach den Wunsch nach Aussöhnung. Das Ergebnis ist – nach der RCTV-Kampagne – ein weiterer Schritt am Weg der Neuformierung der rechten Opposition, aber kein wirklicher Durchbruch.

GegnerInnen wie AnhängerInnen des Chavismus sind sich weitgehend darin einig, dass das NEIN zur Verfassungsreform zwar einen Rückschlag für Chavez bedeutet, aber keine schwere Niederlage. Chavez hat in der Nationalversammlung weiter eine riesige Mehrheit und außerdem das Instrument von Ermächtigungsgesetzen in der Hand. Die progressiven Teile der Verfassungsreform könnten die ChavistInnen jederzeit realisieren. Es ist aber auch möglich, dass Chavez jetzt noch mehr den Ausgleich mit gemäßigten Oppositionellen wie Baduel sucht. Der Kompromiss mit der Bourgeoisie ist freilich ohnehin eine Konstante in der chavistischen Politik. Wenn dieses Element jetzt verstärkt wird, kommt es umso mehr darauf an, dass die venezolanische ArbeiterInnenbewegung als eigenständiger Faktor agiert.

Damit sind wir auch beim entscheidenden Punkt: 2,9 Mio. bisheriger UnterstützerInnen des "revolutionären Prozesses" haben die Zustimmung zur Verfassungsreform verweigert. Das waren nicht nur, wie manche ChavistInnen behaupten, müde werdende politisch "rückständigere Schichten", sondern auch Lohnabhängige, die von den "sozialistischen" Phrasen bei gleichzeitig kaum merkbaren Verbesserungen für die Massen genug haben, die angesichts dessen der Regierung einen Denkzettel verpassen wollten. Diese Teile der Bevölkerung hätten der Verfassungsreform zu guten Teilen sowieso, unabhängig von einem Aufruf von klassenkämpferischen GewerkschafterInnen, die Gefolgschaft verweigert. In dieser Situation war es umso wichtiger, dass revolutionäre SozialistInnen diese enttäuschten ArbeiterInnen nicht Baduel oder der politischen Apathie überantworten, sondern ihnen eine politische Perspektive in Form eines unabhängigen Klassenstandpunktes der ArbeiterInnenklasse anbieten. Wir denken, dass Orlando Chirino und Jose Bodas und die anderen GenossInnen der "Bewegung für den Aufbau einer Arbeiterpartei" hier einen Schritt in die richtige Richtung gegangen sind.

Die chavistische Führung lavierte von Beginn an zwischen dem Druck der Bourgeoisie und des Imperialismus auf der einen Seite und dem der ArbeiterInnenklasse und der verarmten Massen auf der anderen. Der Druck des Proletariats ist umso stärker, je mehr es aktiv und eigenständig für seine Interessen kämpft – und nicht nur die loyalen und braven Fußtruppen von Chavez abgibt, mit denen er (egal was die Regierung tut) ohnehin rechnen kann. In diesem Sinn kann das Ergebnis beim Referendum tatsächlich eine Warnung für den Chavismus gewesen sein. Das wird wesentlich davon abhängen, ob die klassenkämpferischen ArbeiterInnen und Jugendlichen innerhalb und außerhalb der PSUV eine eigenständige Klassenpolitik vorantreiben und unabhängig von den Wünschen der Regierung den Kampf für ihre Interessen forcieren.

Vor allem aber kann das Abstimmungsergebnis auch Ausgangspunkt dafür sein, unkritische Haltungen und Illusionen gegenüber Chavez und seiner Regierung zu überwinden und ernsthaft am Aufbau der Klassenorganisationen des Proletariats zu arbeiten. Von einem linksbürgerlichen Projekt wie dem Chavismus ist eine sozialistische Überwindung des Kapitalismus nicht zu erwarten. Die ArbeiterInnenklasse wird um die Formierung ihrer politischen und organisatorischen Alternativen nicht herum kommen. Das betrifft nicht nur den Aufbau von klassenkämpferischen gewerkschaftlichen Strukturen in der UNT, sondern auch einer politischen Partei.

Nachdem die PRS an mangelndem Nachdruck bei ihrem Aufbau gescheitert ist, kommt der "Bewegung für den Aufbau einer Arbeiterpartei" nun die größte Verantwortung zu. Anders als einige kleinere Gruppen mit teilweise ähnlichen Positionen hat diese Strömung mit den landesweit bekannten Gewerkschaftsführern Chirino und Bodas ein größeres gesellschaftliches Gewicht und Potenzial. Wie weit sie dieser Verantwortung gerecht werden (oder sich auf Syndikalismus beschränken und politische Zugeständnisse an bürgerliche Kräfte machen) wird sich ebenso zeigen müssen wie die Rolle von kleineren subjektiv revolutionären Gruppen wie der JIR, die Chirino&Co. zuletzt zum gemeinsamen Aufbau einer revolutionären ArbeiterInnenpartei aufgerufen haben.

Die Aufgabe von Revolutionären in den imperialistischen Zentren sehen wir dabei darin, (als Kontrast zum unkritischen Chavez-Jubel bei vielen Linken) die Positionen der genannten Strömungen international bekannt zu machen und zur Diskussion zu stellen und ihren Kampf mit kritischer Solidarität zu begleiten.

Dieser Text wurde erarbeitet von Anke Hoorn (RSO Wien Südwest), Miodrag Jovanovic (RSO Wien Nord), Stefan Neumayer (RSO Berlin), Eric Wegner (RSO Wien Südwest) und Florian Weissel (RSO Wien Uni)

In Bezug auf die linke Debatte zur PSUV verweisen wir außerdem auf einen Artikel von Wladek Flakin von der Unabhängigen Jugendorganisation Revolution Berlin, mit dem wir nicht alle Positionen teilen, den wir aber hier zur Diskussion stellen: http://www.revolution.de.com/themen/venezuela/psuv.html