Am 30. Januar war es so weit, mit den Unterschriften von Manfred Schell, dem Chef der LokführerInnen-Gewerkschaft GDL und von Bahn- Personalvorstand Margret Suckale wurde das Ende eines der spektakulärsten Arbeitskämpfe im Deutschland der letzten Jahre besiegelt.
Als die Gewerkschaft Deutscher Lokführer am 3. Juli 2007 in einen vierstündigen bundesweiten Warnstreik trat, war die mediale deutsche Öffentlichkeit entsetzt: Bis zu 40% mehr Lohn wäre die unangemessene Forderung der LokführerInnen, das wäre der Ruin für die deutsche Wirtschaft! Blickt man hinter die Kulissen, so sieht die Realität anders aus: Das Fahrpersonal der Deutschen Bahn (DB) musste von 1994 bis 2006 einen Reallohnverlust von 9,5% hinnehmen, der maximale Nettolohn einer/s alleinstehenden LokführerIn betrug am Höhepunkt seiner/ihrer „Karriere" höchstens 1350 Euro, mit Zulagen konnten dies bis zu 1600 Euro werden. Die Situation beim Zugbegleitpersonal (ZugbegleiterInnen, Restaurantbetrieb) sieht noch deutlich schlechter aus.
Dem entgegen forderte die GDL einen neuen Tarifvertrag für das Fahrpersonal. Der sollte neben Lohnerhöhungen um gut 25% (der Bruttolöhne – der Anstieg der Nettolöhne ist wegen der Steuerprogression deutlich geringer; außerdem sollte ein guter Teil der Zulagen in den Lohn integriert werden) und Arbeitszeitverkürzungen auch etwa eine bessere betriebliche Pensionsvorsorge umfassen. Am 10. Juli kam es daher zu einem neuerlichen bundesweiten Warnstreik, der aber gerichtlich in einem Eilverfahren verboten wurde. Allerdings streikte die GDL trotzdem, solange der Gerichtsbeschluss nicht zugestellt wurde, der Streik endete aber eine dreiviertel Stunde früher als geplant. Das gerichtliche Verbot bezog sich darauf, dass der Vorschlag für einen Tarifvertrag der GDL auch Bereiche umfasste, die von aktuellen Verträgen erfasst würden und somit gegen die Friedenspflicht verstießen.
Die GDL verzichtete in Folge auf einige Forderungen und konzentrierte sich auf ihre Kernforderungen: Lohnerhöhungen, Verkürzung der Arbeitszeit und einen eigenständigen Tarifvertrag, um nicht mehr völlig von den Co-Management betreibenden Gewerkschaften Transnet und GDBA abhängig zu sein. Der Weg zum Streik wurde eingeleitet und in einer Urabstimmung Ende Juli/Anfang August stimmten 95,8% der GDL-Mitglieder für Streik. Der für 9. August geplante Streik wurde vom Arbeitsgericht Nürnberg, das der Konzern angerufen hatte, nun als „unverhältnismäßig" verboten. Zwei Schlichter, die CDU-Politiker Biedenkopf und Geißler, wurden berufen, doch die Verhandlungen scheiterten am Widerstand des Bahnvorstandes. So kam es zu mehrstündigen bis mehrtägigen Streiks am 5., 12., 18. und 25./26. Oktober im Nah- und Regionalverkehr. Nachdem das Landesarbeitsgericht Chemnitz auch das Streikverbot für den Güter- und Fernverkehr aufhob, gab es von 8. bis 10. Oktober einen 42-stündigen Streik im Güterverkehr und von 14. bis 17. November einen Streik im Güter- und Personenverkehr.
Dies war der bis dahin längste Streik bei der Deutschen Bahn, er hat den Güterverkehr im Osten Deutschlands zum Erliegen gebracht, auch im Westen fuhr nur jeder dritte Güterzug. Zahlreiche S-Bahnen in den Ballungsräumen fuhren nur sehr eingeschränkt. Die Auswirkungen drohten auch die restliche Wirtschaft, die um Zulieferungen fürchtete, stark zu beeinträchtigen. Insofern wuchs der Druck auf die Bahnführung um Mehdorn, den Tarifkonflikt beizulegen. Unter der Drohung eines unbefristeten Streiks kam es letztendlich zu langwierigen Verhandlungen, auch unter Miteinbeziehung des sozialdemokratischen Bundesverkehrsministers Wolfgang Tiefensee – sie führten zum endgültigen Abschluss am 30. Januar 2008.
Standesvertretung oder kämpferische Gewerkschaft?
Die GDL – Gewerkschaft Deutscher Lokführer ist eine der drei wesentlichen Gewerkschaften für das Bahnpersonal. Neben ihr gibt es die zum Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) gehörende Transnet (die mit 250.000 Organisierten bei weitem die größte EisenbahnerInnen- Gewerkschaft ist) sowie die Eisenbahn-BeamtInnengewerkschaft GDBA. Die GDL vertritt vor allem LokführerInnen, ca. drei Viertel der rund 20.000 TriebwagenführerInnen sind bei der GDL organisiert, darüber hinaus noch eine Minderheit, etwa 30% des übrigen Fahrpersonals, etwa 11.000 KollegInnen. Auch Beschäftigte in privaten Transportbetrieben sind in der GDL organisiert.
Die GDL wurde schon 1867 als Verein Deutscher Lokomotivführer gegründet und bezeichnet sich als erste deutsche Gewerkschaft, stand aber mit dem Motto „Hilfe zur Selbsthilfe" in der Nähe der bürgerlich-sozialreformerischen Bewegungen. Sie ist kein Mitglied des DGB, sondern des konservativen Deutschen Beamtenbundes und hatte von Anfang an auch den Charakter einer bornierten Standesvertretung. So ist es nicht verwunderlich, dass ihr Vorsitzender Manfred Schell Mitglied des sogenannten ArbeinehmerInnen-Flügels der CDU ist und für diese auch von 1993/94 im Deutschen Bundestag saß.
Die Entwicklung zu einer zumindest in Ansätzen kämpferischen Gewerkschaft, die – wenn auch mit berufsständischen Tönen vermengt – eine Klassenorganisation ihrer Mitglieder ist und sich wohltuend vom Geschwafel des DGB um das „Gesamtwohl der deutschen Bevölkerung" abhebt, kam mit der Wiedervereinigung. Die ehemaligen ostdeutschen LokführerInnen gaben nicht dem Werben von DGB/Transnet nach, sondern schlossen sich der kleinen GDL an, die sich durch den Zustrom fast aller 15.000 ostdeutscher LokführerInnen der Mitgliederzahl nach de facto verdoppelte. Dies erklärt auch, warum die GDL im Osten Deutschlands ihre Streiks noch lückenloser durchführen konnte als im Westen. Aus derselben Mischung aus Kampfbereitschaft und Standesborniertheit entspringt auch der Weg der GDL in den Streik: Einerseits konnte sie den niedrigen Tarifabschluss durch Transnet und GDBA (4,5% Lohnerhöhung) nicht hinnehmen, andererseits war im Drängen nach einem eigenständigen Tarifvertrag auch deutlich eine Konzentrierung auf die LokführerInnen (im Gegensatz zur Gesamtheit der Bahnangestellten) zu spüren.
Einheit um jeden Preis?
Das Phänomen einer kleinen, aber durchaus kampfbereiten Gewerkschaft ist nichts Neues, gerade für die Situation der letzten Jahre in Deutschland. Die Streiks der ÄrztInnengewerkschaft Marburger Bund oder der PilotInnengewerkschaft Cockpit wurden einerseits sehr vehement geführt, andererseits wurde für Lohnerhöhungen für gutbezahlte, hochqualifizierte SpezialistInnen gekämpft, die keine Rücksicht auf die schlechter gestellten KollegInnen (etwa nichtärztliche Krankenhaus-Beschäftigte bzw. Bodenpersonal der Fluggesellschaften) nahmen. Solche Standesgewerkschaften von besser gestellten Angestellten haben durchaus reaktionäres Potenzial – als Beispiel mag die Gewerkschaft der Steiger im britischen Bergarbeiterstreik 1984/85 dienen, deren Nichtteilnahme am Streik mit ein Grund für die Niederlage war.
Auch im Streik der GDL gab es Linke (etwa aus Linkspartei und DKP), die gegen den Streik auftraten, da er die „Gewerkschaftseinheit" untergrabe und somit im Endeffekt die Kampfkraft der Lohnabhängigen insgesamt schwächen würde. Völlig aus der Luft gegriffen sind diese Ängste nicht: Auch wenn die Gewerkschaften Transnet und GDBA im Moment brave Schoßhündchen sind und etwa Transnet-Chef Norbert Hansen im Bahnaufsichtsrat der Privatisierung der Bahn zugestimmt hat, so gibt es durchaus auch ein strategisches Interesse des Bahnvorstandes, einen eigenen Tarifvertrag mit der GDL abzuschließen, selbst unter der Bedingung, etwas bessere Löhne zu zahlen. Längerfristig kann es von Vorteil sein, wenn die Bahnbediensteten keine einheitlichen Interessen haben, sondern nach Gewerkschaftslinien aufgespalten werden können.
Trotzdem überwiegen beim Streik der LokführerInnen in unseren Augen die positiven Punkte: Die Spaltung kam in erster Linie nicht aus sektoralen Interessen der GDL zu Stande, sondern weil Transnet und die GDBA sich mit mickrigen Lohnerhöhungen abspeisen ließen. Und auch wenn in den Stellungnahmen der GDL Sonderinteressen anklangen, so trat sie doch eindeutig für bessere Bedingungen für alle ArbeitnehmerInnen ein, bedauerte die niedrigen Abschlüsse der anderen Gewerkschaften und rief diese zum gemeinsamen Kampf auf.
11% mehr Lohn
Das Ergebnis des Streiks kann sich insgesamt sehen lassen: Eine Einmahlzahlung von 800 Euro im Wesentlichen für die Zeit des Streiks (Juli `07 – Februar `08), eine Anhebung der Löhne um 8% ab März 2008 und eine weitere Erhöhung um 3% ab September, die dann in einer neuen Entgeltstruktur zur Verfügung kommen. Das entspricht gut dem Doppelten des von Transnet und der GDBA verhandelten Abschlusses und ist in Zeiten von Werksschließungen und Lohnkürzungen durchaus beachtlich. Hinzu kommt die Verkürzung der Arbeitszeit bei vollem Lohnausgleich um eine Stunde: Ab Februar 2009 müssen die LokführerInnen „nur" noch 40 Stunden die Woche arbeiten. Festgehalten wird dies in einem eigenen Tarifvertrag. Ein Wermutstropfen hingegen ist, dass dieser Tarifvertrag nur für die LokführerInnen gilt, das restliche Fahrpersonal, bei dem die GDL nicht so stark verankert ist, muss weiterhin mit dem Vertrag von Transnet und DBA leben. Doch auch diese Gewerkschaften haben nach dem erfolgreichen GDL-Abschluss Nachverhandlungen angekündigt.
Insgesamt ist das Ergebnis sicherlich ein Erfolg, dennoch sind viele LokführerInnen der Meinung, dass mehr drinnen gewesen wäre. Und das zu Recht. Schließlich war die GDL-Führung bei den Verhandlungen alles andere als um eine Einbindung ihrer Mitglieder interessiert: Die Verhandlungen mit der Bahnführung fanden im Geheimen statt, die GDL-Mitglieder wurden nur über die Ergebnisse informiert, und das mehr als schleppend. Für Verhandlungen wurden die Streiks ausgesetzt, was Druck von der Bahnführung nahm. Mit einem gewählten Streikkomitee, dass die Verhandlungen öffentlich führt, den Streikenden zur Diskussion und Entscheidung übergibt und den Streik auch während der Verhandlungen fortführt, wäre einiges mehr drinnen gewesen. Auch hat die GDL früh das restliche fahrende Personal aufgegeben und sich auf die LokführerInnen beschränkt, was ihre Einschränkung auf die Vertretung von LokführerInnen zementieren dürfte. Dennoch hat sich die GDL als kämpferische Gewerkschaft auch Zuspruch von anderen Beschäftigten gesichert: so traten Straßenbahn- , Bus- und U-BahnfahrerInnen zur GDL über, allein in München sollen mehrere hunderte ehemals bei der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di organisierte FahrerInnen zur GDL übergetreten sein.
Was die GDL kann…
Die Wahrnehmung des Streiks in der Öffentlichkeit war gespalten: Während die meisten Medien gegen den Streik hetzten und ihn zu einem Duell zwischen Bahn-Chef Mehdorn und GDL-Vorsitzenden Schell personifizierten, genoss der Streik bei der Bevölkerung durchaus Sympathien: Zwar ärgerten sich viele Fahrgäste über den Ausfall von Zügen, doch gaben sie hierfür meist dem „sturen" Mehdorn die Schuld. Auch Meinungsumfragen bestätigen den Eindruck, so wurden Zustimmungsraten von über 70% für den Streik der LokführerInnen erhoben.
Bei all der Beschränktheit der Kämpfe der GDL war das Ergebnis des Streiks aber doch ein relevanter Erfolg. Schwerer wiegt noch, dass dieser Erfolg nicht bei einem defensiven Streik gewonnen wurde, sondern mit offensiven Forderungen nach Lohnerhöhung. Insofern hat der Streik auch Vorbildwirkung: Bei den Berliner Verkehrsbetrieben (BVG) rief die Gewerkschaft ver.di am 1.Februar einen eineinhalbtägigen Warnstreik aus, nachdem das Angebot in den Tarifverhandlungen von Arbeitgeberseite so niedrig war, dass die Beschäftigten mit wilden Streiks drohten. Von den streikenden KollegInnen war oft zu hören: „Was die GDL kann, können wir schon lange!"