Die neue Regierung von Kosova/Kosovo unter Hashim Thaçi wird in Kürze einseitig die Unabhängigkeit erklären. Diese wird dann umgehend von den USA und der überwiegenden Mehrheit der EU-Staaten anerkannt werden. Nach den Präsidentenwahlen in Serbien vom 3. Februar 2008, die mit einem knappen Sieg von Boris Tadic endeten, ist auch eine von seinem Kontrahenten Borislav Nikolic nicht ausgeschlossene serbische Militäraktion unwahrscheinlich geworden. Das kosovarische Parlament arbeitet mit Hochdruck an der Verabschiedung einer Verfassung und gibt den staatlichen Hoheitssymbolen den letzten Schliff.
Die EU hat sich auf die Einsetzung einer Zivil-Verwaltung in Kosova/Kosovo verständigt. Die "EULEX"-Mission wird aus 1.800 Polizist/inn/en und Rechtsexpert/inn/en bestehen und soll nach einer mehrmonatigen Übergangszeit die bisherige UN-Verwaltung UNMIK ablösen. Die EU-Botschafter/innen einigten sich weiters auf die Einsetzung eines Sonderbeauftragten, der nach der offiziellen Unabhängigkeitserklärung bestellt werden dürfte. Die Weichen sind also gestellt, der Prozess nicht mehr aufzuhalten. Grund genug, sich etwas detaillierter mit dieser Entwicklung und den Argumenten pro und kontra Unabhängigkeit auseinanderzusetzen.
Nationale Zusammensetzung
Die ethnische Situation von Kosova/Kosovo, den historischen Regionen Kosova/Kosovo und Rrafshi i Dukagjinit/Metochien, ist nicht erst jetzt eindeutig: Nach der serbischen Volkszählung von 1991 waren etwa 85% Albaner/innen, 10% Serb/inn/en und 5% Roma und andere Minderheiten (wie der Türk/inn/en, Jüdinnen/Juden, Kroat/inn/en, Bosnier/innen, Torbesch/inn/en, Mazedonier/innen, Goran/inn/en, Aschkali/Ägypter/innen); nach den Angaben des (albanischen) Statistischen Amtes von Kosova waren 2004 88% Albaner/innen, 7% Serb/inn/en, 5% andere Minderheiten, v.a. Roma, aber auch z.B. Türk/inn/en. Die Zahlenangaben von heute beruhen zwar nur auf Schätzungen, scheinen aber im Großen und Ganzen die ethnische Zusammensetzung von Kosova/Kosovo wiederzugeben – mit mindestens 85% Albaner/innen, einem weiter gesunkenen Anteil von Serb/inn/en und einem in etwa gleich gebliebenen Anteil der anderen Minderheiten. Lediglich in der Zahl der Roma, die sich wegen Verfolgung und Diskriminierung traditionell auch in Kosova/Kosovo in Umfragen und Volkszählungen nur zu einem Teil zu ihrer Volksgruppe bekennen, dürften größere Unsicherheiten bestehen (wobei die Roma in Jugoslawien eine unterdrückte Minderheit waren, ihre Situation jedoch deutlich besser war als in den meisten anderen osteuropäischen Staaten).
In den letzten Jahren und Jahrzehnten hat es größere Umschichtungen in der Zusammensetzung der Bevölkerung gegeben: Dies hängt erstens mit einer langen Geschichte von ethnischen Säuberungen und Vertreibungen zusammen, zweitens mit einer traditionell unter Albaner/inne/n signifikant höheren Geburtenrate als unter Serb/inn/en und drittens mit der ökonomischen Situation: Kosova/Kosovo war der traditionell am wenigsten entwickelte Teil des ehemaligen Jugoslawien – was zu starken Migrationstendenzen führte. So verließen viele Albaner/innen die Provinz Kosova/Kosovo; aber auch viele Serb/inn/en gingen weg, da sie in Serbien bessere Lebensbedingungen sahen. Albaner/innen sind heute in allen Teilen des ehemaligen Jugoslawien zu finden. Auch außerhalb Jugoslawiens leben Hunderttausende Kosova-Albaner/innen, in der Schweiz, in Deutschland, Österreich etc. Auch Serb/inn/en haben vor allem in den letzten Jahren in großer Zahl das Land verlassen – zum Teil in Folge von politischer Unsicherheit, wegen ökonomischer Perspektivlosigkeit und getrieben von der Furcht vor Übergriffen albanischer Nationalist/inn/en.
Trotz einer langen Geschichte von Migration und Vertreibungen hat sich aber die ethnische Zusammensetzung in Kosova/Kosovo doch über größere Zeiträume nicht grundlegend geändert, wenn auch längerfristig der Anteil der Albaner/inn/en angestiegen sein dürfte: In der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen waren etwa 70 Prozent der Bevölkerung Albaner/innen, der Rest verteilte sich auf Serb/inn/en und andere. Auch in früheren Jahrhunderten scheint das heutige Kosova/Kosovo ethnisch gemischt und, wenn auch nicht im selben Ausmaß dominant wie heute, albanisch-sprechend besiedelt gewesen zu sein. Dieses Zusammenleben mehrerer Ethnien über längere Zeiträume verdeckt allerdings eine lange Tradition der Unterdrückung und Benachteiligung der Albaner/innen.
Kosova/Kosovo bis 1944/1945
Nach Jahrhunderten der Zugehörigkeit zum Osmanischen Reich gehörte Kosovo/Kosova seit den Balkankriegen 1912/1913 zu Serbien, ab 1918 zum "Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen", dem SHS-Staat, bzw. später zu Jugoslawien und verblieb – von einer kurzen Ausnahme während des Zweiten Weltkriegs unter nazi-faschistischer Okkupation abgesehen – bis zum Zusammenbruch Anfang der 1990er Jahre bei Jugoslawien. Es steht außer Zweifel, dass diese Zugehörigkeit nicht dem Willen der Mehrheit der damaligen Bevölkerung, die damals wie heute albanisch-sprachig war, entsprach.
Schon Juni 1878 wurde am Berliner Kongress eine Neuregelung der territorialen Verhältnisse auf dem Balkan beschlossen: Die Interessen der sich eben erst formierenden albanischen Nation fanden keine Berücksichtigung, Teile des von Albaner/inne/n besiedelten Gebiets wurden Serbien und Montenegro zugesprochen. Die 1878 gegründete Liga von Prizren versuchte sowohl Gebietsabtretungen zu verhindern und damit das albanisch-sprachige Gebiet als Einheit zu erhalten, als auch Autonomie innerhalb des Osmanischen Reiches gewährt zu bekommen. Beides scheiterte – 1881 wurde die Liga militärisch von den osmanischen Truppen zerschlagen. Auch nachfolgende Aufstände wie die der Liga von Peja (1895) wurden militärisch zerschlagen. Während des Ersten Balkankrieges (1912) wurden die osmanischen Truppen von den Armeen des Balkanbundes (Serbien, Bulgarien, Griechenland und Montenegro) rasch zurückgeschlagen – am 28. November 1912 wurde von einem albanischen Nationalkongress in der Küstenstadt Vlora im heutigen Mittelalbanien die von den Großmächten zunächst nicht anerkannte Unabhängigkeit proklamiert.
Auf der Botschafterkonferenz von London (Sommer 1913) wurde die Errichtung eines Fürstentums in Albanien beschlossen – und ebenso wurden in London die Grenzen des neuen Staates festgelegt. Das albanische Siedlungsgebiet wurde zerteilt: Der größte Teil von Kosova/Kosovo fiel ebenso wie die albanischsprachigen Gebiete des heutigen Mazedonien an Serbien, der westliche Teil des heutigen Kosova/Kosovo wurde von Montenegro annektiert.
Mit dem Ersten Weltkrieg wurden die politischen Verhältnisse in Kosova/Kosovo zementiert – das Gebiet ging im neuen Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen auf. Die albanische Mehrheitsbevölkerung verfügte über keine Minderheitenrechte, öffentliche und private Schulen mit albanischer Unterrichtssprache wurden geschlossen, die Amtssprache war Serbokroatisch. Um die Provinz zu stabilisieren, sollte die ethnische Zusammensetzung langfristig geändert werden – serbische Familien wurden angesiedelt. Und während auf eine grundlegende Agrarreform in den nördlichen Teilen des SHS-Staates, also des späteren Jugoslawiens, verzichtet wurde, sollte durch eine solche in Kosova/Kosovo Land für Neusiedler/innen frei gemacht und durch parallel dazu gestartete Umsiedlungsprogramme nach Albanien und in die Türkei die Zahl der Muslime reduziert werden. Zwischen 1919 und 1928 stieg so nach offiziellen Angaben der slawische Bevölkerungsanteil der Provinz von 24 auf 38 Prozent an.
Unter diesen Bedingungen konnte sich die albanische Kultur nicht mehr weiter entwickeln, die traditionelle Familienstruktur und die Bindung an den Islam (und in geringerem Ausmaß an die katholische Kirche) wurde konserviert.
Die Unterdrückung rief albanischen Widerstand hervor, der sich in den 1920er Jahren durch aufständische Bewegungen und militante Aktionen Luft machte. In der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen blieb die albanische Bevölkerung (wie auch die Roma, die Türk/inn/en und andere kleinere Gruppen) national unterdrückt, Zwangsassimilierung und Ansiedlungsprogramme waren Ausdruck eines anti-albanischen Chauvinismus, der von der Kommunistischen Internationale (zumindest in den 1920er Jahren) auch aktiv bekämpft wurde.
Längerfristig war das Ansiedlungsprogramm ein Misserfolg. Viele Kolonist/inn/enfamilien kehrten in den 1930er Jahren wieder in ihre ursprünglichen Siedlungsgebiete zurück. Ein Grund lag in den Übergriffen auf Kolonist/inn/en und in der Furcht vor albanischen Racheaktionen, aber der Hauptgrund lag in der schlechten Infrastruktur, im Mangel an landwirtschaftlichen Geräten, aber auch in der Korruption der serbischen Behörden, die das Gebiet als eroberte Provinz, die immer noch nicht als wirklich befriedet galt, mehr schlecht als recht verwalteten. Ab Mitte der 1930er Jahre begann ein neues umfangreiches Konfiskationsprogramm, das die albanische bäuerliche Bevölkerung zum Verlassen des Landes bewegen sollte. Den albanischen Bauernfamilien sollten nur 0,4 Hektar pro Person verbleiben, was für ein Überleben zu wenig gewesen wäre. Richtungweisend für die Überlegungen war das Memorandum von Vasa Cubriloviç von 1937. Für den angesehenen Wissenschaftler waren die bisher angewandten Methoden zur Marginalisierung der albanischen Mehrheitsbevölkerung nicht effizient genug. Der Regierung Jugoslawiens wurden miteinander kombinierte Methoden bis zur offen legitimierten und staatlich organisierten Vertreibung vorgeschlagen (und bis ins Detail sogar die Kosten der ethnischen Säuberungen berechnet), um sich des albanischen Problems ein für allemal zu entledigen.
1938 wurde mit der Umsetzung des Programms begonnen: Mit der türkischen Regierung wurde ein Abkommen geschlossen, auf dessen Basis 200.000 muslimische Albaner/innen (dazu auch Türk/inn/en und slawische Moslems) aus Kosova/Kosovo und Mazedonien nach Anatolien umgesiedelt werden sollten. Der Ausbruch des Zweiten Weltkriegs verhinderte eine Umsetzung des ganzen Programms der staatlich organisierten ethnischen Säuberung – lediglich etwa 100.000 bis 150.000 Albaner/innen (nicht alle über dieses Programm) dürften in dieser Zeit Kosova/Kosovo verlassen haben. Der deutsche Überfall (April 1941) führte zur raschen Niederlage des Königreichs Jugoslawien, zu dessen Zusammenbruch und zu seiner Besetzung. Wie die Kroat/inn/en oder die Slowen/inn/en beteiligten sich auch die Albaner/innen kaum an der Verteidigung des ungeliebten Staates, von dem sie in den vergangenen Jahrzehnten national unterdrückt worden waren. Nach der Kapitulation wurde Kosova/Kosovo in eine italienische, eine deutsche und ganz im Süden eine bulgarische Besatzungszone geteilt. Vom faschistischen Italien wurde sein Anteil an der Beute mit Albanien vereinigt. Die Zivilverwaltung im größeren Teil von Kosova/Kosovo wurde in die Hände albanischer Kollaborateure gelegt, die nun ihrerseits die serbische Minderheit, insbesondere die neu Zugewanderten, zu unterdrücken begannen. Wie auch in anderen Landesteilen nützten die Achsenmächte Deutschland, Italien und Bulgarien die Feindschaft zwischen den Balkanvölkern zur Stabilisierung der Herrschaft. Zehntausende Serb/inn/en und Roma, Hunderte Juden/Jüdinnen, aber auch antifaschistische Albaner/innen wurden von den faschistischen Truppen und ihren albanischen Handlangern ermordet.
Sommer 1943 besetzten nach der Kapitulation Italiens deutsche Truppen mit Albanien auch den italienischen Anteil an Kosova/Kosovo. Mit einer albanerfreundlichen Integrationspolitik wurde versucht, Kosova/Kosovo ruhig zu halten. Dies wurde von den faschistischen Machthabern auch durch eine Modifikation der nationalsozialistischen Rassenideologie abgesichert – die Albaner/innen wurden zu einer höherwertigen Rasse als die Slaw/inn/en deklariert. Vor dem Hintergrund jahrzehntelanger Unterdrückung reagierten größere Teile der Albaner/innen auf die Umwerbungsversuche der neuen Besatzungsregimes positiv – der Kampf der jugoslawischen Partisan/inn/en fasste nur schwer Fuß in Kosova/Kosovo.
Seit der Kapitulation Italiens (1943) wurde aber auch Kosova/Kosovo zunehmend zum Aktionsgebiet jugoslawischer Partisan/inn/enverbände. Angriffe auf deutsche Wehrmachtsverbände und die albanische Hilfspolizei wechselten sich mit der Ermordung serbischer Zivilist/inn/en ab. 1944 wurde die Kosova-albanische SS-Division Skanderbeg aufgestellt. Ihr Standort war Prizren (wo sich auch heute wieder das Hauptquartier der deutschen Truppenkontingente befindet), ihr hauptsächliches Operationsgebiet Kosova/Kosovo. Auch von dieser albanischen SS-Division wurden schwere Kriegsverbrechen begangen: So tötete sie am 28. Juli 1944 im Dorf Veliko 380 Ortsansässige – großteils Serb/inn/en (darunter 120 Kinder) – und steckte 300 Häuser in Brand. Andererseits aber kämpften auch in Titos Partisan/inn/enverbänden Albaner/innen, und es gab schon während des Krieges eine eigene kommunistische kosovarische Gebietsorganisation. Albaner/innen waren in deren Leitung bis 1945 in der Mehrheit. Von Tito war den albanischen Kommunist/inn/en das Recht auf nationale Selbstbestimmung zugesagt worden, nur müsste Jugoslawien zuerst von den Faschisten befreit werden. Allerdings wurde nie genau definiert, was mit dem Recht auf Selbstbestimmung gemeint sei und ob auch – wenn die Mehrheit der Bevölkerung dies wünsche – die Lostrennung des Kosova/Kosovo von Jugoslawien darunter fallen würde. Für einen großen Teil der albanischen Kommunist/inn/en war diese Perspektive auf jeden Fall ein großer Ansporn, um sich in den Kampf der Volksbefreiungsarmee einzugliedern.
Neben den Partisan/inn/en Titos operierten in Kosova/Kosovo auch albanische und Kosova-albanische Partisan/inn/enverbände, die der Befehlsgewalt der albanischen KP unter Enver Hoxha unterstanden. Insgesamt werden für Kosova/Kosovo etwa 20.000 Partisan/inn/en unter dem Kommando Titos oder Hoxhas genannt. Noch während der Kampfhandlungen kam es zu Konflikten zwischen den beiden stalinistischen Parteien, wem Kosova/Kosovo nach dem Krieg zugesprochen werden sollte. Schon Sommer 1943 war Hoxha von den Beratern der jugoslawischen KP gezwungen worden, das mit der national-konservativen Nationalen Front, dem Balli Kombetar, geschlossene Abkommen von Mukjë (in der Nähe von Tirana gelegen) aufzukündigen – in diesem Abkommen war die Lösung der albanischen nationalen Frage als gemeinsames Ziel aller an der Befreiung Albaniens interessierten Kräfte formuliert worden.
Noch einmal wurde eine Zukunft der nationalen Selbstbestimmung klar formuliert – auf der Konferenz von Bujan. Im heutigen albanischen Bezirk Tropoja versammelte sich Dezember 1943 / Januar 1944 eine Konferenz von jugoslawischen und albanischen Repräsentant/inn/en unter der Führung des Regionalkomitees der KP für Kosovo/Kosova und der albanischen KP. Die Konferenz, in der ein Befreiungsausschuss der antifaschistischen Volksbefreiungsfront für Kosovo/Kosova gewählt wurde, beschloss eine Resolution, dessen Kernsätze klar das Ziel der Selbstbestimmung umrissen:
"Kosovo und das Dukagjin-Plateau (Metohija) formieren eine Region, in der albanische Bewohner dominieren, welche heute, wie schon immer, sich wünschen, mit Albanien vereinigt zu sein. (…) Der einzige Weg, auf dem das albanische Volk von Kosovë und Methohija mit Albanien vereinigt sein kann, ist durch einen gemeinsamen Kampf mit den anderen Völkern Jugoslawiens gegen die kriminellen Nazi-Okkupanten und dessen Söldlinge, weil dies der einzige Weg ist, die Freiheit zu gewinnen, in welcher alle Nationen, einschließlich des albanischen Volkes, in der Lage sein werden, ihr eigenes Schicksal zu wählen durch das Recht der Selbstbestimmung – sogar bis hin zu einer Abspaltung."
Aber 1944, mit dem Rückzug der deutschen Truppen und der Machtübernahme der Tito-Partisan/inn/en, musste die albanische KP faktisch auf alle diesbezüglichen Ansprüche verzichten: Albanien wurde von seinem übermächtigem Verbündeten Jugoslawien, dem einzigen Bündnispartner, gezwungen, die Vorkriegsgrenzen zu akzeptieren. Lediglich in einem auch von Stalin angedachten Anschluss Albaniens an Jugoslawien hätte die Vereinigung der albanischen Gebiete noch zustande kommen können. Darauf jedoch ließ sich die stalinistische Bürokratie Albaniens nicht ein.
Tito-Jugoslawien und Kosova/Kosovo
Nach dem Zweiten Weltkrieg verblieb Kosova/Kosovo also im neu organisierten jugoslawischen Staatsverband, in dem unter Tito auf bürokratischem Wege die kapitalistischen Eigentumsverhältnisse abgeschafft wurden. Es wurde in das föderal organisierte Jugoslawien als Bestandteil der Teilrepublik Serbien integriert. Vom Selbstbestimmungsrecht bis hin zur staatlichen Lostrennung war nun keine Rede mehr. Die Konferenz von Bujan wurde von der jugoslawischen KP als national-chauvinistische Abweichung charakterisiert. Und die albanische Mehrheit der regionalen KP-Parteileitung wurde auf bürokratische Weise gekippt – mittels Weisung aus Beograd wurde schon 1945 die Verkleinerung des Führungsgremiums auf 11 Personen beschlossen; nun waren fünf Albaner/innen und sechs Serb/inn/en darinnen vertreten. 1945 kam es bereits zu Aufstandsbewegungen gegen die neuerliche serbische Dominanz, die von der jugoslawischen Volksbefreiungsarmee und von Polizeiverbänden niedergeschlagen werden konnten. Unterstützung von Seiten der albanischen KP blieb aus, Hoxha und die albanische Partei, die sich bis 1948 an Jugoslawien orientierte, hielten ihrem Bündnispartner Tito die Treue. Gleichzeitig war das ungleiche Bündnis Titos und Enver Hoxhas aber auch der Garant dafür, dass die jugoslawische KP nicht zu allzu offensichtlichen Formen der Unterdrückung Zuflucht nahm.
1948 kam es zum Bruch des Kommunistischen Informationsbüros (der unter Regie Stalins gegründeten, loseren Nachfolgeorganisation der 1943 aufgelösten Kommunistischen Internationale) mit Titos Jugoslawien. Der bürokratische Aufbau des jugoslawischen "Sozialismus in einem Land" kollidierte mit den ebenfalls bürokratischen Interessen der Stalinschen Sowjetunion. In diesem Konflikt, der mit der Verstoßung von Tito aus der offiziellen kommunistischen Weltbewegung endete, bezog die albanische KP auf Seiten Stalins Stellung. Damit war nun plötzlich das nationale Problem in Kosova/Kosovo aktuell geworden. Die albanische Mehrheit der Provinz, nun nicht mehr zurückgehalten von einem abhängigen Bündnispartner, wurde zur Gefahr für die Einheit Jugoslawiens. Um die Provinz nachhaltig zu stabilisieren, kehrten die serbische Parteiführung und die jugoslawische Regierung zu einer Kosovo-Politik zurück, bei der die jugoslawische KP Anleihen nahm bei der nationalistischen Politik von Vorkriegsjugoslawien mit ihrer Politik von Entnationalisierung und Vertreibung.
Der albanischen Mehrheit wurden keine Minderheitenrechte gewährt, lediglich die bei weitem kleinere türkische Minderheit wurde ab 1950 durch solche geschützt. Da das albanische stalinistische Regime die Grenzen schloss und die wenigen Nachrichten, die aus Tirana nach Jugoslawien drangen, als wenig ermutigend empfunden wurden, verblieb neben der Assimilation als einzige Möglichkeit, um der nationalistischen Bedrückung zu entgehen, die Deklaration als Türk/inn/en und damit die Chance, in das "Mutterland" auszuwandern. Bis 1966 dürften aus Kosova/Kosovo bis zu 200.000 Menschen in die Türkei, die große Mehrheit davon Albaner/innen, emigriert sein. An ihre Stelle traten wie vor dem Krieg serbische Neusiedler/innen. Staatliche Stellen in Kosova/Kosovo wurden größtenteils mit Serb/inn/en besetzt. Erst in den 1960er Jahren, als eine junge Generation herangewachsen war, die neben der albanischen Muttersprache auch das Serbokroatische beherrschte, begann sich dies langsam zu ändern.
Auch wenn Elemente der nationalistischen Vorkriegspolitik gegenüber der albanischen Mehrheit nach 1945 (und verstärkt nach 1948) wieder aufgenommen wurden, war die Kosovo-Politik Beograds keine Fortschreibung der Politik des jugoslawischen Königreichs. Denn anders als in der Zwischenkriegszeit wurde unter Tito versucht, dem nationalen Konflikt durch eine forcierte ökonomische Entwicklung den Boden zu entziehen.
Investiert wurde in die Infrastruktur, in den Bergbau und in die Schwerindustrie, die Mittel kamen aus den Transferleistungen, die aus den nördlichen Teilrepubliken den Bundesfinanzen zugingen und dann in die weniger entwickelten Gebiete flossen. Was jedoch auch die titoistische Variante des Stalinismus nicht schaffte, war eine nachhaltige Verkleinerung des Entwicklungsrückstandes: Das starke Wachstum der Bevölkerung von Kosova/Kosovo führte zu einer dauernden Nachfrage nach neuen Arbeitsplätzen, sodass letztlich beide Seiten die Entwicklungspolitik anzugreifen begannen: In den nördlichen Provinzen wie Slowenien bekamen viele das Gefühl, ihre Gelder würden in der unzivilisierten Albanerprovinz sinnlos hinausgeworfen, während viele Albaner/innen meinten, dass die Zentralregierung nicht genug für ihre arme Provinz tun würde.
1966 kam es zu einer dramatischen Wende in der jugoslawischen Nationalitätenpolitik: Im Politbüro des Bundes der Kommunisten standen sich eine Strömung um Tito, die für allgemeine Reformen eintrat, und ein serbisch dominierter Flügel unter Innenminister Aleksandar Rankovic gegenüber. Als Befehlshaber der Polizei war dieser entscheidend für die staatliche Repression auch gegen die albanische Bevölkerung von Kosova/Kosovo verantwortlich. Rankovic wurde 1966 aus dem Politbüro entfernt und als Minister gestürzt. Der Weg war nun auch für eine neue Kosovo-Politik frei.
Unter Tito wurde in mehreren Schritten die Lage der Albaner/innen verbessert und ihnen mehr Autonomie zugestanden. In der jugoslawischen Bundesverfassung von 1974 wurde Kosova/Kosovo wie auch die Vojvodina als autonome Provinzen und als Föderationssubjekte etabliert, blieben aber Bestandteil der Teilrepublik Serbien. In der Regierung und im Parteiapparat von Kosova/Kosovo dominierten zum ersten Mal seit 1945 wieder Albaner/innen. Albanisch wurde zweite Amts- und Unterrichtssprache, was auch bedeutete, dass sich für immer mehr Albaner/innen eine Anstellung im (bis dahin faktisch den Serb/inn/en vorbehaltenen) Staatsdienst als Perspektive eröffnete. Die albanische Kultur wurde gefördert und eine Universität in Priština/Prishtina eröffnet. Eine "Albanisierung" des öffentlichen Lebens begann, die von vielen Serb/inn/en als Provokation empfunden wurde – nach Titos Tod (1980) wurde dieser Unmut immer offener geäußert. Im Gefühl der Ohnmacht gegenüber einer immer selbstbewusster auftretenden albanischen Mehrheit und verstärkt durch den wirtschaftlichen Niedergang der 1980er Jahre wanderten Zehntausende Serb/inn/en aus Kosova/Kosovo ab – schon 1981 dürfte deren Zahl 50.000 überschritten haben. Doch das ökonomische Desaster konnte natürlich auch von einer albanischen Majorität in der Provinzführung nicht aufgehalten werden – die gegenseitigen Schuldzuweisungen für Korruption, Misswirtschaft und Entwicklungsdefizite sowie die steigende Frustration über die sich verschlechternden Lebensbedingungen zerstörten den fragilen Kompromiss, der mit der neuen Bundesverfassung 1974 gefunden wurde. Soziale Unruhen auf albanischer Seite bekamen eine immer stärker nationalistische Schlagseite; die Gefühle, von Belgrad nur betrogen zu werden, entluden sich in antiserbischen Ausschreitungen.
1981 war es zu gewalttätigen Demonstrationen der albanischen Student/inn/en in Priština/Prishtina gekommen, die gegen die schlechten Lebensbedingungen protestierten. Polizisten aus Serbien wurden nach Priština/ Prishtina herangeführt und brachen den Aufstand. Die Führung der Provinz wurde administrativ ausgewechselt und die Kontrolle Beograds verstärkt. Während der ganzen 1980er Jahre konnten aber Unruhen nicht mehr gänzlich unter Kontrolle gebracht werden und nahmen auf beiden Seiten einen immer ausgesprochener nationalistischen Charakter an. Mit dem Tod Titos war die komplizierte föderale Verfassung von 1974 in die Krise geschlittert. Dies zeigte sich am klarsten dort, wo Jugoslawien am schwächsten war – in Kosova/Kosovo. Als eine nach den dominanten Serb/inn/en und Kroat/inn/en größte Nation Jugoslawiens neben den serbokroatisch sprechenden Muslim/inn/en und den Slowen/inn/en verlangten die Albaner/innen vergeblich den Status eines Staatsvolks, die Loslösung Kosovas von Serbien und die Errichtung einer gleichberechtigten jugoslawischen Teilrepublik.
Ab Ende der 1980er Jahre konnte Slobodan Miloševic, Vorsitzender des serbischen Bundes der Kommunisten und seit 1987 Präsident der Sozialistischen Republik Serbien, durch eine dezidiert nationalistische Politik seinen weiteren politischen Aufstieg sicherstellen – einen Aufstieg, der in dem medial gut inszenierten, gegen die Albaner/innen und an die Kosovo-Serb/inn/en gerichteten Kampfruf "Niemand soll es wagen, euch zu schlagen!" gipfelte.
Jugoslawiens Zerfall, die 1990er Jahre und die NATO-Intervention
Die Albaner/innen blieben auch im bürokratischen Arbeiter/innen/staat Jugoslawien national unterdrückt. Selbst in den Jahren der jugoslawischen Bundesverfassung von 1974 blieb ihnen das nationale Selbstbestimmungsrecht verwehrt – es war klar, dass von Seiten der jugoslawischen Bundesorgane eine Herauslösung der Provinz aus dem jugoslawischen Staatsverband niemals toleriert, ja nicht einmal die Gleichstellung mit den anderen Föderationsrepubliken akzeptiert werden würde. Trotzdem waren die Jahre nach 1974 nicht nur in wirtschaftlicher, sondern auch in politischer Hinsicht die Periode, in der am ehesten die Basis für eine Integration der albanischen Mehrheit Kosovas/Kosovos in Jugoslawien gegeben war. Von daher war für den serbischen Nationalismus auch seit den 1970er Jahren diese Verfassung das Haupthindernis, das einer nachhaltigen "Wiederherstellung der Ordnung" in der Provinz entgegenstand.
Mit einem Paukenschlag wurde von Seiten des serbischen Parlaments am 28. März 1989 die jugoslawische Bundesverfassung von 1974 faktisch ausgehebelt: Einstimmig wurde der Status des Kosovo als autonome Provinz Serbiens aufgehoben, Gesetzgebung und Jurisdiktion serbischen Behörden übertragen. Die Antwort waren Demonstrationen in Kosova/Kosovo, bei denen (nach offiziellen Angaben) 29 Demonstrant/inn/en und zwei Polizisten getötet wurden. Der Ausnahmezustand wurde über die Provinz verhängt, allerdings gelang vor dem Hintergrund der desintegrativen Tendenzen und der Todesagonie, in die der jugoslawische Stalinismus geraten war, eine Befriedung der Provinz nicht mehr.
Die nationalistische Politik Serbiens in Kosova/Kosovo wurde nun immer stärker von einer offen chauvinistischen Grundstimmung bestimmt. Grundstücksverkäufe von Serb/inn/en an Albaner/innen wurden verboten. Die Polizei wurde dem serbischen Innenministerium unterstellt, albanische Polizist/inn/en wurden entlassen. Albanischsprachiger Unterricht an Schulen und Universitäten wurde verboten. Die albanischen Abgeordneten des Kosovo-Parlaments riefen daraufhin am 2. Juli 1990 die Republik Kosova aus, die als siebte Republik im jugoslawischen Staatsverband definiert wurde. Serbien reagierte umgehend mit der Auflösung des Parlaments am 5. Juli 1990 und der Vorlage von Loyalitätserklärungen zum serbischen Staat an sämtliche öffentlich Bediensteten; etwa 80.000 Albaner/innen, die die Unterschrift verweigerten, wurden entlassen.
Mit der Proklamation der Unabhängigkeit Sloweniens und Kroatiens im Juni 1991 wurde der Zerfall Jugoslawiens offenkundig. Schon im September 1990 hatte das kosovarische Parlament mit der Kaçanik-Verfassung die Republik Kosova ausgerufen. September 1991 wurde diese weder inner-jugoslawisch noch international anerkannte Proklamation durch ein Referendum, das von Kosova-albanischer Seite organisiert wurde und mit dem erwarteten überwältigenden 90%-Sieg der Unabhängigkeitsbefürworter/innen endete, abgesichert. 1992 wurde Ibrahim Rugova zum Präsidenten der neuen "Republik" gewählt. All dies wurde von serbischer Seite für illegal erklärt, aber auch die "internationale Staatengemeinschaft" (mit Ausnahme Albaniens, das eine eingeschränkte, staatsrechtlich nicht bindende Anerkennung aussprach) versagte die Zustimmung zur Unabhängigkeit.
Ab Anfang der 1990er Jahre begann unter der Führung von Rugovas LDK (Lidhje Demokratike të Kosovës – Demokratische Liga von Kosova) der Aufbau des Schattenstaates, eines Kosova-albanischen Parallelstaates. Serbische Institutionen wurden boykottiert, albanische Schulen für etwa 400.000 Schüler/innen wurden ebenso organisiert wie eine rudimentäre medizinische Versorgung und ein eigenständiger öffentlicher Nahverkehr. Finanziert wurde er durch Abgaben der Kosova-albanischen Diaspora. Etwa eine halbe Million Kosova-albanische Arbeitsmigrant/inn/en in Europa und die einflussreiche albanische Emigration in den USA hatten mindestens drei Prozent ihres Einkommens abzuführen und ermöglichten so das Überleben der parallelen Strukturen, die zwar vom serbischen Staat nicht anerkannt, aber letztlich geduldet wurden. Ironischer Weise führte gerade der Boykott serbischer Institutionen zur Festigung der nationalistischen Strömungen in Serbien: Durch den nahezu lückenlosen albanischen Wahlboykott konnten die nationalistischen Parteien und die "Sozialistische" Partei Serbiens in Kosova/Kosovo mit den vergleichsweise wenigen serbischen Stimmen "billige" Parlamentssitze erlangen.
Aber auch auf albanischer Seite kam es zu einer Verhärtung: Die von der "internationalen Staatengemeinschaft" so hoch gelobte "verantwortungsvolle" Politik des gewaltfreien Widerstandes, wie sie Rugova verkörperte, konnte in diesem Umfeld keine Erfolge erzielen und verlor auf Kosova-albanischer Seite immer stärker die Legitimation. Insbesondere nachdem mit dem Dayton-Vertrag die kroatischen Eroberungen faktisch anerkannt wurden, wuchs bei den Albaner/inne/n die Unzufriedenheit mit Rugovas Politik der "Gewaltfreiheit". So kam es im Winter 1996/1997 gegen den Willen Rugovas zu Student/inn/endemonstrationen in Priština/Prishtina. 1996 verübte die Nationale Bewegung für die Befreiung Kosovas (LKÇK) mehrere Bombenanschläge auf Lager für serbische Flüchtlinge aus Bosnien. Auch eine UÇK, die Kosova-Befreiungsarmee (Ushtria Çlirimtare e Kosovës), bekannte sich zu Bombenanschlägen und trat so erstmals in Erscheinung. Entstanden aus kleinen Hoxha-stalinistischen Splittergruppen, die sich 1982 zur Volksbewegung für eine Republik Kosova (LPRK) zusammenschlossen, entwickelte sich Anfang der 1990er Jahre die Volksbewegung Kosovas (LPK), die bei der Formierung der UÇK 1994/1996 eine tragende Rolle spielte.
Zu einer dramatischen Veränderung kam es Frühjahr 1997, als mit dem Zusammenbruch der staatlichen Autorität in Albanien die Möglichkeiten zu einer Bewaffnung immer größerer Gruppen wuchsen. Aktionen wie die Stürmung der Kalaschnikoff-Fabrik in Poliçan und die Plünderung vieler Armeelager versorgten den militanten Kosova-albanischen Widerstand mit dem entsprechenden Inventar. Trainingslager wie das bereits länger bestehende im mittelalbanischen Labinot erhielten größeren Zulauf. Der nordostalbanische Bezirk Tropoja mit seiner Hauptstadt Bajram Curri, 1997 der größte offene Waffenmarkt Europas (Kalaschnikoffs konnten Frühjahr 1997 bereits um 4 USD gekauft werden), wurde zum Rückzugsgebiet der sich formierenden Guerilla-Formationen. Die bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen den serbischen Polizei- bzw. Militär-Einheiten und der nun immer besser organisierten und bewaffneten albanischen Guerilla nahmen ab Sommer 1997 stark zu. Am 28. November 1997, dem albanischen Nationalfeiertag (am 28.11.1912 war in Vlora der albanische Nationalstaat ausgerufen worden), traten UÇK-Kämpfer beim Begräbnis eines in serbischem Polizeigewahrsam umgekommenen Lehrers zum ersten Mal in der Öffentlichkeit auf.
Durch den Aufstieg der UÇK seit 1996 kamen nun auch zunehmend Kräfte hinzu, die mit den "linken" Ursprüngen von LPK & Co. nichts am Hut hatten, darunter auch mafiose Vereinigungen und traditionelle Clan-Strukturen, wie beispielsweise der einflussreiche Jashari-Clan aus der Drenica-Region, der im 2. Weltkrieg mit den faschistischen Besatzern kollaboriert hatte. Dazu kamen Exilgruppen in den USA, die – anders als die in Deutschland und der Schweiz – rechtsgerichtet waren und die nun erste Kontakte zu US-Geheimdiensten und US-Medien herstellten. Diese reaktionären Kräfte gingen mit den stalinistischen UÇK-Gründern auf einer nationalistischen Grundlage ein Bündnis ein. Die Basis der UÇK, die 1998 von 300 auf 30.000 Kämpfer anwuchs, konnte nun immer schwerer eindeutig von LPK & Co. dominiert werden. Zum anderen wurde auch für den Imperialismus die UÇK neben Rugova und seiner LDK zu einem Ernst zu nehmenden Player – diese Entwicklung beschleunigte sich durch die Übertritte von Offizieren der FARK, den vom Imperialismus kontrollierten Bewaffneten Kräften der Republik Kosova, zur UÇK. Auch über das weitgehend vom Westen abhängige Albanien wurde der Einfluss des Imperialismus gestärkt, der sich ab 1998 immer direkter in den Kosovo-Konflikt einschaltete.
Der Imperialismus setzte aber immer noch auf eine "Verständigung" – oder besser gesagt auf politischen Druck. Die Balkan-Kontaktgruppe und die OSZE verurteilten die Gewaltanwendung und riefen beide Seiten zum Dialog auf. Die Gespräche vom Mai 1998 in Beograd zwischen Rugova und Miloševic endeten jedoch ergebnislos. Die Kampfhandlungen in Kosova/Kosovo gingen weiter, Sommer 1998 gab es nach Angaben des UNHCR und des IKRK bereits 160.000 Binnenflüchtlinge. Im Herbst 1998 forderte mit der Resolution 1199 der UNO-Sicherheitsrat den Rückzug der serbischen Einheiten, die NATO drohte Serbien erstmals mit Luftangriffen, und mit dem Holbrooke-Miloševic-Abkommen wurde die Entsendung einer OSZE-Beobachtermission vereinbart.
Dennoch blieb die UÇK dem Westen keineswegs geheuer. Um einer beginnenden Destabilisierung Mazedoniens und Albaniens, ja potenziell des gesamten Balkanraumes entgegenzuwirken, orientierten sich die Imperialisten schließlich auf ein bosnisches Modell, das beiden Seiten aufgezwungen werden sollte: ein NATO-Protektorat, das einerseits ein eigenmächtiges Agieren der UÇK militärisch unterbindet und andererseits Rest-Jugoslawien weiter schwächt – mit der sehr realistischen Option, direkt gegen Jugoslawien vorzugehen. Nach dem "Massaker von Racak", bei dem 45 Albaner/innen – allem Anschein nach sowohl UÇK-Kämpfer/innen als auch unbeteiligte Zivilist/inn/en – getötet wurden, wurde der Druck auf Beograd Schritt für Schritt erhöht. Es wurde von der NATO instrumentalisiert und zum zentralen Vorwand für eine Intervention hochstilisiert. Als "letzte Chance für eine Friedenslösung" wurde im Februar 1999 die Konferenz von Rambouillet einberufen. Das imperialistische Diktat sah eine weitgehende Autonomie von Kosova/Kosovo vor, das weiterhin im jugoslawischen Staatsverband bleiben sollte. Festgelegt wurde außerdem, dass das neue NATO-Protektorat "in Übereinstimmung mit den Prinzipien der freien Marktwirtschaft" funktionieren sollte. 2002 würde eine internationale Konferenz endgültig über dessen Status entscheiden. Ähnlich wie in Bosnien und dem Dayton-Vertrag sollte auch in Kosova/Kosovo die Einhaltung des Abkommens durch NATO-Truppen überwacht werden. Unter starkem internationalen Druck verzichtete die Kosova-albanische Delegation auf ihre Forderung nach einem Referendum über die Zukunft des Landes und unterzeichnete das Abkommen am 18. März 1999, während die serbisch-jugoslawische Delegation die Unterschrift verweigerte.
Die jugoslawische Regierung konnte Rambouillet unmöglich akzeptieren, hätte das doch bedeutet, die militärische Kontrolle über Kosova/Kosovo an die NATO und neue albanische "Polizeikräfte" (d.h. eine von der NATO kommandierte UÇK) abzugeben und damit den Kosovo letztlich zu verlieren. Außerdem sah der lange geheim gehaltene Anhang B des Abkommens von Rambouillet vor, dass die NATO-Truppen in ganz Jugoslawien völlige Bewegungsfreiheit gehabt hätten und außerhalb der jugoslawischen Gesetzlichkeit gestellt worden wären. Die serbische Ablehnung war einkalkuliert. Damit war der Weg für die NATO-Luftangriffe am 24. März 1999 frei.
In der westlichen Öffentlichkeit begann eine massive antiserbische Hetze. Die NATO-Führung, die Clinton-Regierung in den USA und die "rot"-grüne Regierung von Schröder in Deutschland sprachen von Völkermord, ethnischen Säuberungen, Massenvergewaltigungen und KZs im Kosova/Kosovo. Joschka Fischer rief gar zum Krieg mit den Worten "Nie wieder Auschwitz!". Diese (den NS-Terror verharmlosende) Propaganda steht in deutlichem Widerspruch zu den Fakten. Nach OSZE-Angaben gab es vor dem Beginn der NATO-Bombardements in den bürgerkriegsartigen Auseinandersetzungen in Kosova/Kosovo weniger als 300 Tote, darunter sowohl UÇK-Kämpfer/innen, serbische Polizisten/Soldaten, albanische und serbische Zivilist/inn/en und Albaner/innen, die von der UÇK als Kollaborateure betrachtet wurden. Flüchtende Zivilist/inn/en gab es vor dem 24. März 1999 nur vor lokalen Kampfhandlungen und meist nur vorübergehend.
Mit den NATO-Angriffen veränderte sich die Situation schlagartig. Es kam nun zu einer massenhaften Flucht der albanischen Zivilbevölkerung. Auch wenn der vom deutschen Verteidigungsminister Scharping am 8. April 1999 präsentierte so genannten "Hufeisenplan", der eine angeblich von langer Hand geplante Massenvertreibung der albanischen Bevölkerung durch die serbische Armee beweisen sollte, ziemlich sicher ein Fälschung ist, so flüchteten die Zivilist/inn/en nun doch in erster Linie vor den serbischen Truppen. Es mag auch die allgemeine Kriegssituation eine Rolle gespielt haben, der Hauptgrund war aber, dass die serbische Armee dazu überging, in mit der UÇK umkämpften Gegenden die gesamte Bevölkerung aus den Gebieten zu drängen. Hunderttausende fanden vorübergehend in Albanien und Mazedonien Zuflucht und konnten dann nach Ende des Krieges wieder nach Kosova/Kosovo zurückkehren. Während der NATO-Angriffe und der serbischen Offensive am Boden kam es auch zu Massakern durch serbische Einheiten. Es handelt sich dabei um vereinzelte Aktionen, deren Ausmaß im Gegensatz zu der seit Racak betriebenen imperialistischen Völkermord-Legende steht. Im ganzen Kosova/Kosovo-Krieg starben nach Angaben von UNO/Rotem Kreuz in Kosova/Kosovo maximal 5.500 Menschen, darunter sind gefallene UÇK-Kämpfer/innen, zivile Opfer von serbischem Militär und serbischer Polizei, zivile albanische und serbische Opfer der Kämpfe zwischen serbischer Armee und UÇK, Opfer der NATO-Bomben und albanische "Kollaborateure" (in Serbien starben durch die NATO-Bomben mehr als 2.000 Menschen).
In den Planspielen der NATO war die UÇK nichts anderes als eine am Boden operierende Hilfstruppe, die Hauptschläge wurden von der Luft aus geführt. Mit Rambouillet und erst Recht mit dem Beginn der NATO-Angriffe ging die UÇK offen und eindeutig auf eine pro-imperialistische Position über.
Der NATO ging es mit dem Angriff auf Jugoslawien allerdings – ganz im Gegensatz zur medialen Propagandaoffensive – nicht im geringsten um die albanische Bevölkerung. Die Luftschläge verschlechterten nicht nur für die serbische, sondern auch für die albanische Zivilbevölkerung die Lage nur weiter: Die zivilen Opfer in Jugoslawien sind weit größer, als in den westlichen Medien zugegeben wurde, für Hunderttausende wurden die Lebensgrundlagen vernichtet, und sowohl Serbien als auch Montenegro und insbesondere Kosova/Kosovo haben mit der Hinterlassenschaft der Bombenabwürfe in Form von uranverseuchten Böden zu kämpfen.
Worum es der NATO tatsächlich ging, waren im Wesentlichen drei Dinge: Erstens sollte ein unbotmäßiges Regime geschwächt und in die Schranken gewiesen (und eventuell gestürzt) werden. Zweitens sollte der südliche Balkan befriedet und eine stabile Einflusszone des Westens, durchsetzt mit NATO-Protektoraten, verwandelt werden. Drittens, und dabei ging es um weit mehr als um Kosova/Kosovo und den Balkan, sollte die NATO endgültig als die Polizeitruppe der Neuen Weltordnung etabliert werden.
Insbesondere sollte auch der imperialistische Zugriff auf die jugoslawische Ökonomie sichergestellt werden. Im Gegensatz zur Mythologisierung mancher Linker handelte es bei Jugoslawien unter Miloševic nicht um einen "sozialistischen Staat", auch der Staatsbesitz an Produktionsmitteln wurde zunehmend privatisiert. Allerdings – anders als in den meisten anderen osteuropäischen ehemaligen degenerierten Arbeiter/innen/staaten, aber durchaus vergleichbar mit der Slowakei unter Vladimir Meciar – in erster Linie nicht zu Gunsten des imperialistischen Kapitals, sondern zur Schaffung einer einheimischen Bourgeoisie. Deshalb war – trotz der fortgesetzten nationalistischen Unterdrückungspolitik seitens Serbiens gegenüber den Kosova-Albaner/inne/n – der Platz von Marxist/inn/en auf Seiten des von der NATO mit übermächtiger militärischer Gewalt angegriffenen Jugoslawien. Die notwendige bedingungslose Verteidigung Jugoslawiens gegen die imperialistische Aggression musste aber mit einer entschiedenen Kritik am serbischen Regime und seiner nationalistischen Politik verbunden werden und auch das Selbstbestimmungsrecht der Kosova-Albaner/innen mit einschließen. Der Rückzug der serbischen Armee beendete die Kampfhandlungen. Die Hunderttausenden geflüchteten Albaner/innen kehrten wieder zurück. Offiziell wurde Kosova/Kosovo durch die UN-Resolution 1244 der Status eines autonomen Territoriums innerhalb der ehemaligen Bundesrepublik Jugoslawien (nach der Unabhängigkeit Montenegros der Republik Serbien) zugesprochen und unter UN-Verwaltung gestellt. Obwohl es nominell zu Serbien gehört, ist Kosova/Kosovo seit 1999 faktisch ein Protektorat der UNO, in dem die Sicherheit von der durch ein UN-Mandat legitimierten "Friedenstruppe" Kosovo Force (KFOR) unter Führung der NATO garantiert werden soll.
Politisch verwaltet wurde die Provinz von der UN-Mission Kosovo (UNMIK), die von ihr gegründeten lokalen Institutionen der provisorischen Selbstverwaltung haben nur sehr eingeschränkte Entscheidungsbefugnisse. Überdies wurde in den serbischen Enklaven des Kosovo, insbesondere im Norden, eine von Serbien finanzierte parallele Verwaltungsstruktur mit eigenen Schulen, Gerichten und Behörden aufgebaut, die von der UNMIK zwar toleriert, aber nicht anerkannt wurde.
Unter der Herrschaft der UNMIK hat sich die Lage der Bevölkerung weiter verschlechtert. Während eine kleine herrschende Elite, oft Verbunden mit mafiösen Strukturen, im Überfluss lebt, ist ein großer Teil der Bevölkerung extrem arm, die Arbeitslosigkeit wird auf 60 bis 80 % geschätzt. Währenddessen betreibt die UNMIK unter ihrem Chef, dem deutschen Diplomaten, SPD-Politiker und UN-Sonderbeauftragten Joachim Rücker eine Politik der Kolonialherrschaft mit Privatisierungen zu Gunsten von imperialistischen Konzernen über die Kosovo-Treuhand (AKM). Von den Privatisierungen, die oft weit unter Marktwert der Unternehmen geschehen, etwa der Bergbau-, Metall-, Energie-, Textil- und Bauindustrie, profitieren in erster Linie deutsche, aber auch österreichische Konzerne. In Folge kommt es zu Massenentlassungen und Verschlechterungen der Arbeitsbedingungen.
Politisch geben in Kosova/Kosovo zwei Parteien, die PDK (Partia Demokratike e Kosovës – Demokratische Partei von Kosova) unter Hashim Thaçi und die LDK des verstorbenen Schriftstellers und früheren Präsidenten Ibrahim Rugova, den Ton an. Dass beide Parteien auf nicht gerade enthusiastische Zustimmung stoßen, zeigt die geringe Beteiligung bei den letzten Parlamentswahlen vom 17. November 2007, die bei gerade einmal 42,8% lag. Die beiden Parteien repräsentieren in erster Linie nur unterschiedliche Fraktionen der kosovarischen Elite sowie unterschiedliche Ausrichtungen auf den europäischen bzw. amerikanischen Imperialismus.
In letzter Zeit erhielt die Bewegung für Selbstbestimmung (LPV – L?vizja Vetëvendosje!), eine linksbürgerlich-nationalistische Bewegung, in der auch Personen mit marxistischem Selbstverständnis arbeiten, verstärkt Zulauf, vor allem von Jugendlichen. Die Vetëvendosje!-Bewegung stand von Anfang an skeptisch der imperialistischen Dominanz, die sich im Ahtisaari-Plan ausdrückte, gegenüber. Sie tritt klar für den Abzug der UNMIK-Truppen aus Kosova/Kosovo ein, konnte sich als Vertreterin einer sofortigen, nicht vom Imperialismus kontrollierten und eingeschränkten Unabhängigkeit profilieren und hat ihre Basis vor allem unter jungen, von der Entwicklung der letzten Jahre enttäuschten Kosova-Albaner/innen. Von den wichtigsten Parteien unterscheidet sie sich vor allem durch ihre klare Frontstellung gegen die UNMIK:
"Die UNMIK, die uns Demokratie predigt, ist selbst eine undemokratische neokoloniale Institution. (…) Die UNMIK hat die absolute Macht in Kosova, es gibt keine Institution, die nicht von ihr geschaffen und kontrolliert wird. Die Resultate sind klar, wir sind das ärmste Gebiet in Europa. Die UNMIK plündert unser Land aus und sie verweigert uns das Selbstbestimmungsrecht," so Albin Kurti, die führende Persönlichkeit der LPV. Kurti war ist einer der Initiatoren der Student/inn/enproteste gegen die Unterdrückung des Miloševic-Regimes. Wegen der Organisation einer Demonstration gegen die UNMIK-Besatzung, bei der zwei Demonstranten von internationalen Polizeikräften erschossen wurden, wurde Kurti Anfang 2007 und erneut am 30. Januar 2008 verhaftet. Unterstützt wird Vetevendosje! unter anderem auch von Adem Demaçi, dem ehemaligen politischen Sprecher der UÇK, der aus Kritik an den Rambouillet-Verhandlungen und dem Bündnis mit dem Imperialismus zurücktrat. Die LPV setzt zur Durchsetzung ihrer Ziele auf Massenmobilisierungen, vor allem Demonstrationen gegen Einrichtungen der Kolonialverwaltung. Bei all der richtigen Frontstellung gegen die imperialistische Besatzung setzt Vetëvendosje! allerdings auch auf reaktionäre Mittel wie etwa einen Boykott serbischer Produkte, eine Zeit lang einer ihrer Hauptagitationspunkte. Eine solche Politik schneidet die albanische Bevölkerung von ihrem potenziell mächtigsten Verbündeten, der Arbeiter/innen/klasse Serbiens ab.
Die aktuelle wacklige Konstruktion, wie sie von der LPV kritisiert wird, stellte niemand in Kosova/Kosovo wirklich zufrieden. Es ist für den Imperialismus auch nicht von Vorteil, den Kolonialstatus auf Dauer fortzuschreiben. Bei den jahrelangen Verhandlungen war der zentrale Fixpunkt, dass einerseits die imperialistische Kontrolle gewährleistet bleiben und andererseits die Region nachhaltig stabilisiert werden sollte. Von Anfang an war klar, dass die Standpunkte Serbiens und der Kosova-Albaner/innen unvereinbar sein würden – Serbien wollte seine territoriale Integrität wieder gewinnen und dem Kosovo als äußerstes Zugeständnis eine weitgehende Autonomie zugestehen, während von Kosova-albanischer Seite nichts anderes als die Unabhängigkeit in Frage kam. Mit Konstruktionen wie dem Ahtisaari-Plan versuchte der Imperialismus daher, eine Kompromissformel zu finden. Das ganze Jahr 2007 war von der Suche nach einer solchen Zauberformel geprägt – vergeblich: Weder weitgehende Minderheiten- und Selbstverwaltungsrechte noch ökonomischer und politischer Druck auf Serbien konnten die Patt-Stellung auflösen. Andererseits wollten sich immer größere Segmente der albanischen Bevölkerungsmehrheit nicht mehr länger hinhalten und mit Gesprächen vertrösten lassen. Der Aufstieg der Bewegung für Selbstbestimmung, der Niedergang der LDK und der Sieg des ehemaligen UÇK-Kommandanten Hashim Thaçi mit seiner Demokratischen Partei des Kosova (PDK) bei den Parlamentswahlen vom 17.11.2007 waren deutliche Hinweise. Die Weichen sind – bei allen Problemen, die das mit sich bringen wird und trotz der Blockade Russlands im Weltsicherheitsrat – unausweichlich auf eine einseitige Ausrufung der Unabhängigkeit gestellt. Wir wollen uns deshalb in der Folge auf die politischen Antworten konzentrieren, die von der Linken in einer solchen Situation gegeben werden können und gegeben werden sollten.
Die Sorge um die "territoriale Integrität" Serbiens
In einem nicht unwichtigen Segment der Linken ist es gang und gebe, sich positiv auf das Völkerrecht, das von der Charta der Vereinten Nationen garantierte Recht auf die territoriale Unversehrtheit und ähnliches zu berufen. So lesen wir etwa in einem Artikel der Jungen Welt von Jürgen Elsässer am 14. Dezember 2007 in Bezug auf Kosova/Kosovo: "Diese Koalition der Willigen missachtet ein Völkerrecht, dem Europa über sechs Jahrzehnte hinweg Stabilität und Sicherheit verdankt." Elsässer liefert auch gleich eine Sorge nach: Diese Koalition "verkennt oder verdrängt die Folgen einer solchen Unabhängigkeit für potenzielle Nachahmer, die sich auf den ‚Präzedenzfall Kosovo' berufen".
Ähnlich – um nur ein weiteres Beispiel zu nennen – auch die Stamokap-Strömung der Sozialistischen Jugend Österreichs in ihrem Newsletter 1/07: Die Sozialistische Jugend müsse "konsequent für die Verteidigung des internationalen Völkerrechts eintreten und somit auch in der Frage des Kosovo innerhalb und außerhalb der SPÖ für die Position Serbiens Stellung beziehen. Wir sagen: Respekt vor der staatlichen Souveränität Serbiens!" Auch die Stamokap-Strömung sieht unabsehbare Gefahren im Falle der Übertretung des internationalen Völkerrechts: Deshalb sei es "umso wichtiger", "die Gefahr einer endgültigen Herauslösung des Kosovos zu berücksichtigen. Dies würde (…) weiteren nationalistischen Gruppierungen in der Region erheblichen Auftrieb verschaffen".
Die Argumentation ist in allen diesen Fällen die gleiche: Neben vielen richtigen Argumenten, etwa dass ein Marionettenstaat Kosova in starke ökonomische und soziale Abhängigkeit vom westeuropäischen Kapital und dessen Militärmaschinerie geraten müsste, dass "jede brachiale Veränderung in diesem fragilen Gleichgewicht" am Balkan "Rückwirkungen auf den ganzen Kontinent haben" würde (Jürgen Elsässer, 16. Januar 2008, Junge Welt), ist das grundlegende Argumentationsmuster immer ähnlich:
1. Die Unabhängigkeitserklärung Kosovas/Kosovos ist gegen die territoriale Integrität Serbiens gerichtet und widerspricht dem Völkerrecht.
2. Dieser einseitige Akt wird potenzielle Nachahmer/innen ermuntern.
3. Die Sezession von Kosova/Kosovo ist daher abzulehnen.
Zuerst einmal ist festzuhalten: Die Argumentation von Elsässer & Co. ist korrekt: Ja, eine einseitige Unabhängigkeitserklärung von Kosova/Kosovo ist ein Angriff auf die territoriale Integrität Serbiens und widerspricht dem Völkerrecht. Kosovo war und ist ein staatsrechtlich integraler Bestandteil Serbiens. Auch im zweiten Punkt werden Elsässer & Co. Recht behalten: Der einseitige Akt der Ausrufung der Unabhängigkeit, besser gesagt: die Anerkennung dieses einseitigen Aktes durch die entscheidenden imperialistischen Nationen wird potenzielle Nachahmer/innen ermutigen. So haben die Regierungen von Abchasien und Südossetien, die sich von Georgien abgespalten und einseitig für unabhängig erklärt haben, nach Angaben des russischen Außenministers Sergej Lawrow "Russland mehrmals gebeten, ihre Unabhängigkeit anzuerkennen, nachdem die USA und EU die Absicht bekundet haben, der Eigenstaatlichkeit des Kosovo zuzustimmen" (22.12.2007, Nachrichten aus Abchasien, http://www.kapba.de/News-D-Dezember2007.html).
Es ist anzunehmen, dass irredentistische Bewegungen und Regierungen von Abchasien, Südossetien, Tschetschenien, Nagorni-Karabach über Nord-Irland und das Baskenland bis zu Nord-Zypern und den tamilischen Rebell/inn/en in Sri Lanka den Ball aufgreifen und auf das kosovarische Beispiel verweisen werden. Selbst die Regierungen von Rumänien oder der Slowakei mit ihren ungarischen Minderheiten sehen die Ausrufung der Unabhängigkeit mit gemischten Gefühlen. Aber folgt daraus, dass Marxist/inn/en den Respekt vor der staatlichen Integrität zur obersten Richtschnur ihres Handelns machen sollen und – auf allgemeiner Ebene – auch für die Verteidigung des internationalen Völkerrechts eintreten müssen? Wir wollen eine allgemeine Frage hinzufügen: Sind für Marxist/inn/en Grenzen veränderbar? Wenn ja, unter welchen Voraussetzungen? Und verteidigen Marxist/inn/en eigentlich das Völkerrecht?
Grundlagen des Völkerrechts
Mit Völkerrecht wird allgemein jene Rechtsordnung bezeichnet, die die Beziehungen zwischen Völkerrechtssubjekten regelt. Von zentraler Bedeutung ist dabei heute die Charta der Vereinten Nationen, die nach Artikel 103 der UN-Charta Vorrang – zumindest für die Mitglieder der Vereinten Nationen – gegenüber anderen internationalen Übereinkünften hat. Völkerrechtssubjekte sind Staaten (aufbauend auf den drei Merkmalen Staatsgebiet, Staatsvolk und Staatsgewalt), dazu kommen noch andere, wie zum Beispiel internationale Organisationen. Nichtstaatliche Organisationen haben hingegen – von Ausnahmen wie dem Internationalen Komitee vom Roten Kreuz oder dem katholischen Malteserorden abgesehen – keine Völkerrechtssubjektivität.
Das Völkerrecht wird theoretisch in kollektiver Arbeit durch die Delegationen der Mitgliedsländer der Vereinten Nationen erstellt. Alle Regierungen von Mitgliedsstaaten der UNO sind, so die Theorie, bei der Beratung über völkerrechtliche Verträge in gleicher Weise einbezogen. Das gilt für bürgerliche Demokratien ebenso wie für repressive Diktaturen, und das galt auch für die UdSSR, China und die anderen degenerierten Arbeiter/innen/staaten. Wer zum existierenden Völkerrecht ja sagt, kommt auch um dessen Institutionen wie den Internationalen Gerichtshof, den Internationalen Strafgerichtshof, den Internationalen Seegerichtshof, die UN-Menschenrechtskommission oder die Haager Akademie für Völkerrecht nicht herum – alles Institutionen, die der Durchsetzung des Völkerrechts dienen.
In den letzten Jahren haben Begriffe wie humanitäre Intervention immer mehr an Bedeutung gewonnen. Damit wurden Angriffskriege ebenso legitimiert wie imperialistisch motivierte Interventionen in Bürgerkriege. Sie sind Eingriffe in das Hoheitsgebiet eines anderen Staates und sollen – so die Theorie – dem Schutz von Menschen in einer humanitären Notlage dienen, beispielsweise bei Menschenrechtsverletzungen auf großer Ebene. Vorausgesetzt wird, dass der betroffene Staat den Gefährdeten selbst keinen Schutz bieten kann oder selbst nicht dazu in der Lage ist. Allerdings sind humanitäre Interventionen nicht in der Charta der Vereinten Nationen verankert und kollidieren auch mit dem staatlichen Souveränitätsprinzip. Die UNO-Charta gibt aber dem Sicherheitsrat die Möglichkeit, gegen das Verhalten eines Staates, das als Bedrohung des Weltfriedens gesehen wird, militärische Sanktionen zu verhängen. Dazu gehören Völkermord oder wenn ethnische Säuberungen großflächige Fluchtbewegungen auslösen, die auf Nachbarstaaten überzugreifen drohen. Aber auch wenn innerstaatlicher Völkermord nicht Nachbarstaaten betrifft, wird der Weltfrieden als bedroht angesehen und bringt eine Verpflichtung aller Staaten der internationalen Gemeinschaft zur Intervention mit sich. Fassen wir zusammen: Völkerrecht bedingt internationale Strukturen, die dieses auch durchsetzen wollen. Und Völkerrecht abstrahiert grundsätzlich vom Charakter bestehender Staaten, sofern sie nicht wegen systematischer Menschenrechtsverletzungen oder eines Genozids an der eigenen Bevölkerung mit vom Sicherheitsrat ausgesprochenen Sanktionen bedroht sind. Damit sind wir auch schon bei einer der Hauptfragen: Können und wollen Marxist/inn/en Institutionen wie dem UNO-Sicherheitsrat das Recht zusprechen, bestimmte Handlungen von Regierungen zu ahnden oder zu unterstützen? Können und wollen Marxist/inn/en mit Berufung auf internationale Institutionen und das Völkerrecht gegen sezessionistische Bewegungen im Sinne des Schutzes gegebener Grenzen Stellung beziehen?
Dem UNO-Sicherheitsrat haben nach Artikel 24/I der UN-Charta die Mitgliedstaaten "die Hauptverantwortung für die Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit" übertragen. Er setzt sich aus fünf ständigen und zehn nichtständigen Mitgliedern zusammen. Die fünf ständigen Mitglieder (USA, Frankreich, Großbritannien, Russland, China – jetzt die Volksrepublik China, bis 1971 Taiwan) besitzen bei der Verabschiedung von Resolutionen ein erweitertes Vetorecht und werden daher auch als Vetomächte bezeichnet. Der Sicherheitsrat als mächtigstes Organ der Vereinten Nationen ist also keine von den Völkern der Welt wirklich legitimierte Institution, der Marxist/inn/en, ja selbst bürgerliche Demokrat/inn/en getrost die Wahrung des Weltfriedens anvertrauen könnten. Der Sicherheitsrat ist nichts anderes als ein Entscheidungsorgan, dessen Zusammensetzung und Befugnisse das Ergebnis der Kräfteverhältnisse nach dem Zweiten Weltkrieg darstellen.
Natürlich ist das Völkerrecht vom Ansatz her ein historischer Fortschritt. Es ist Ausdruck davon, dass dem Kapital die Grenzen des Nationalstaats zu einem Hemmnis geworden sind. Das Völkerrecht als internationales Recht ist der in die Sprache der bürgerlichen Jurist/inn/en übersetzte Begriff für diese Tendenz zur Überwindung der abgeschotteten und nach ihrem jeweiligen eigenen Rechtssystem agierenden Kleinstaaten. Es ist also wie die UNO eine schwache, vom Imperialismus pervertierte Vorausahnung einer künftigen weltweit organisierten Gesellschaft. Aber das Völkerrecht ist mehr: Es ist auch der Ausdruck der Interessen der zu einem jeweils gegebenen Zeitpunkt die Weltpolitik dominierenden Kräfte, in unserer Periode eben des Imperialismus, der nach 1945 zu einem begrenzten Kompromiss mit der UdSSR Stalins in der Anti-Hitler-Koalition bereit war. Das Völkerrecht war und ist dem Status quo verpflichtet. Damit sind auch die politisch gewollten Grenzen des Völkerrechts umschrieben: Das Völkerrecht schützt das "legitime Interesse" bestehender Staaten nach Unantastbarkeit seiner Grenzen. Es verfolgt nicht per se Völkermord und ethnische Vertreibungen, sondern nur dann, wenn sie dem UNO-Sicherheitsrat (genauer gesagt dessen fünf ständigen Mitgliedern) sauer aufstoßen. In Konflikten, in denen der Sicherheitsrat – dessen Beschlüsse übrigens für alle Mitglieder bindend sind – aktiv geworden ist, darf die UNO-Generalversammlung keine Empfehlung mehr abgeben. Wir haben die bemerkenswerte Situation, dass das Gremium, in dem alle Staaten vertreten sind, nichts Relevantes zu sagen hat, während das Gremium, das durch einige Großmächte beherrscht wird, den Ton angibt.
Völkerrecht ist also nichts anderes als die juristische Umschreibung des Interesses der Großmächte, gegossen in die Sprache des Friedens und der Völkerverständigung. Das vom Imperialismus definierte Völkerrecht kann nicht die oberste Richtschnur für oder gegen eine politische Bewegung sein – so bleibt ein imperialistischer Krieg ein imperialistischer Krieg, mit oder ohne Segen der UNO und des Sicherheitsrates. Unterdrückung bleibt Unterdrückung, mit oder ohne Segen der UNO und des Sicherheitsrates. Und eine legitime Rebellion gegen Unterdrückung bleibt eine ebensolche legitime Rebellion, ob sie nun vom Völkerrecht legitimiert ist oder diesem widerspricht. Das Weltparlament ist in der Realität kein solches, sondern nur Maske und Instrument zur Durchsetzung imperialistischer Interessen.
Daraus ergibt sich automatisch die zweite oben gestellte Frage: Können und wollen Marxist/inn/en mit Berufung auf internationale Institutionen und das Völkerrecht gegen sezessionistische Bewegungen im Sinne des Schutzes gegebener Grenzen Stellung nehmen? Oder anders gesagt: Existiert das Recht auf nationale Selbstbestimmung nur für bestehende (Staats-) Völker? Denn nationale Bewegungen mit einem Interesse an der Errichtung eigener Staaten haben es in diesem juristischen Umfeld generell schwer – eine Anerkennung ihrer Interessen ist durch Beschlüsse des Sicherheitsrates kaum zu erreichen.
Völkerrecht und Selbstbestimmungsrecht der Nationen
Marxist/inn/en haben also das Völkerrecht in Beziehung zu setzen zu den Wünschen und Interessen der Bevölkerung. Die aktuellen und historischen Interessen der überwiegenden Mehrheit der jeweils Betroffenen sind das ausschlaggebende Kriterium. Diese Interessen und nur diese können und müssen die oberste Richtschnur dafür sein, ob nun Aufstand und Rebellion als gerechtfertigt angesehen werden oder nicht.
In der nationalen Frage ist es die Methodik des nationalen Selbstbestimmungsrecht, die diesem Interesse am weitestgehenden entspricht. Das Recht auf Selbstbestimmung bedeutet, dass den Nationen das Recht zugestanden wird, sich nach eigenem Willen einzurichten. Sie sollen das Recht haben, ihr Leben selbst zu gestalten, zu anderen Nationen in föderative Beziehungen zu treten oder sich gänzlich loszutrennen. Insofern handelt es sich beim nationalen Selbstbestimmungsrecht für Marxist/inn/en nicht um ein naturrechtliches Prinzip, sondern um eine Methodik, die die besten Voraussetzungen für den gemeinsamen Klassenkampf der Arbeiter/innen/klasse der unterdrückten und der unterdrückenden Nation schafft. Von Lenin wurden die Grundgedanken des Selbstbestimmungsrechts der Nationen 1916 so zusammengefasst:
"Das Proletariat der unterdrückenden Nationen kann sich mit den allgemeinen, schablonenhaften, von jedem Pazifisten wiederholten Phrasen gegen Annexionen und für die Gleichberechtigung der Nationen überhaupt nicht begnügen. Das Proletariat kann nicht an der für die imperialistische Bourgeoisie besonders unangenehmen Frage der Grenzen des Staates, die auf nationaler Unterjochung beruhen, stillschweigend vorbeigehen. Es kann sich des Kampfes gegen die gewaltsame Zurückhaltung der unterjochten Nationen in den Grenzen des vorhandenen Staates nicht enthalten, und eben dies heißt für das Selbstbestimmungsrecht der Nationen kämpfen. Das Proletariat muss die Freiheit der politischen Abtrennung der von ‚seiner' Nation unterdrückten Kolonien und Nationen fordern. Andernfalls wird der Internationalismus des Proletariats zu leeren Worten; weder Vertrauen noch Klassensolidarität unter den Arbeitern der unterdrückten und der unterdrückenden Nation sind möglich; die Heuchelei der reformistischen und Kautskyschen Vertreter des Selbstbestimmungsrechts, die sich über die von ‚ihren eigenen Nationen' unterdrückten und in ‚ihrem eigenen' Staate gewaltsam zurückgehaltenen Nationen ausschweigen, bleibt dabei immer noch unentlarvt.
Anderseits müssen die Sozialisten der unterdrückten Nationen auf die vollständige und bedingungslose, auch organisatorische Einheit der Arbeiter der unterdrückten Nation mit denen der unterdrückenden Nation besonders bestehen und sie ins Leben rufen. Ohne dies ist es unmöglich, auf der selbständigen Politik des Proletariats sowie auf seiner Klassensolidarität mit dem Proletariat der anderen Länder bei all den verschiedenen Streichen, Verrätereien und Gaunereien der Bourgeoisie zu bestehen. Denn die Bourgeoisie der unterdrückten Nationen missbraucht beständig die Losungen der nationalen Befreiung, um die Arbeiter zu betrügen: in der inneren Politik benutzt sie diese Losungen zur reaktionären Verständigung mit der Bourgeoisie der herrschenden Nation (…); in der äußeren Politik bemüht sie sich, sich mit einer der wetteifernden imperialistischen Regierungen zu verständigen, um ihre räuberischen Ziele zu verwirklichen (die Politik der kleinen Balkanstaaten u.a.m.). Die Tatsache, dass der Kampf gegen eine imperialistische Regierung für die nationale Freiheit unter bestimmten Bedingungen von einer andern ‚Großmacht' für ihre ebenfalls imperialistischen Ziele ausgenutzt werden kann, kann die Sozialdemokratie ebenso wenig bewegen, auf die Anerkennung des Selbstbestimmungsrechts der Nationen zu verzichten, wie die mehrfachen Fälle der Ausnutzung der republikanischen Losungen durch die Bourgeoisie in ihrer politischen Betrügerei und Finanzräuberei zum Beispiel in romanischen Ländern die Sozialdemokratie auf ihren Republikanismus zu verzichten bewegen können."
Es scheint klar, dass die Grundgedanken des bestehenden Völkerrechts dieser Methodik diametral widersprechen: Es geht Lenin nicht um die Erhaltung bestehender Grenzen – eines der definierten obersten Ziele des Völkerrechts -, sondern um die Anerkennung des Rechtes auch der unterdrückten Völker, wenn sie wollen, ihre Geschicke selbst in die Hände zu nehmen. Dieses Prinzip gilt auch dann, wenn die Gefahr besteht, dass der Freiheitskampf eines Volkes von einer Großmacht für dessen imperialistische Ziele instrumentalisiert wird.
Wir sind an sich gegen die Abtrennung eines Landes von einem anderen, besonders wenn diese Länder wirtschaftlich eng mit einander verknüpft sind. Trotzdem ist die zeitweilige Loslösung, wenn dies von einer Mehrheit der Betroffenen gewünscht wird, immer noch besser, als diese gegen ihren Willen in einem von ihnen nicht akzeptierten Staatsverband zu halten. Die Anerkennung des Selbstbestimmungsrechts des Nationen findet nur dort seine Grenzen, wo dieses Recht mit einem "höheren Recht" kollidiert. Wenn es sich also z.B. um die unmittelbaren Verteidigungsbedürfnisse einer revolutionären Bewegung handelt, wo also die Erfüllung der nationalen Wünsche ein Aufmarschgebiet für einen konterrevolutionären Aggressor schaffen würde, oder z.B. auch im Falle des Angriffes des Imperialismus auf ein unterdrücktes Land. In diesen streng begrenzten Situationen würden wir argumentieren, dass die Anerkennung des Selbstbestimmungsrechtes zugunsten des Rechts der Selbstverteidigung gegen Imperialismus und Reaktion in einer unmittelbaren Kriegssituation zurückgestellt werden müsste. Von solchen Ausnahmesituationen abgesehen, sind wir von der Gültigkeit der Methodik des nationalen Selbstbestimmungsrechtes überzeugt.
Wie aber stehen Völkerrecht, wie es von UNO und den anderen supranationalen Institutionen definiert wird, und nationales Selbstbestimmungsrecht zueinander? Denn gewiefte Verteidiger/innen des Völkerrechts könnten argumentieren, dass auch das Selbstbestimmungsrecht der Völker im Völkerrecht verankert ist, sich also kein Widerspruch zwischen Völkerrecht und Selbstbestimmungsrecht ergeben müsse. Nach dem Zweiten Weltkrieg findet sich das Selbstbestimmungsrecht in verschiedenen UN-Dokumenten, so etwa in der Charta der Vereinten Nationen, die das Selbstbestimmungsrecht der Völker in den Artikeln 1 und 55 erwähnt, ohne es jedoch zu definieren. So setzten sich die Vereinten Nationen u.a. auch das Ziel, "freundschaftliche, auf der Achtung vor dem Grundsatz der Gleichberechtigung und Selbstbestimmung der Völker beruhende Beziehungen zwischen den Nationen zu entwickeln und andere geeignete Maßnahmen zur Festigung des Weltfriedens zu treffen" (Charta der Vereinten Nationen, Artikel 1 §2). Und in Artikel 55 wird die Herbeiführung eines Zustands "der Stabilität und Wohlfahrt" auch als Voraussetzung gesehen, "damit zwischen den Nationen friedliche und freundschaftliche, auf der Achtung vor dem Grundsatz der Gleichberechtigung und Selbstbestimmung der Völker beruhende Beziehungen herrschen".
Auch in den beiden Menschenrechtspakten von 1966, dem Internationalen Pakt über Bürgerliche und Politische Rechte und dem Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte, wird das Selbstbestimmungsrecht für die Vertragsstaaten als bindend angesehen. In beiden Pakten heißt es gleich lautend in Artikel 1: "Alle Völker haben das Recht auf Selbstbestimmung. Kraft dieses Rechts entscheiden sie frei über ihren politischen Status und gestalten in Freiheit ihre wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung." In einer Mehrzahl der Fälle stehen sich aber das Recht der Staaten auf Integrität und Schutz ihrer Grenzen und das Recht der Völker auf Selbstbestimmung diametral entgegen. Denn natürlich wird auch die "territoriale Unversehrtheit" der existierenden Grenzen in der UNO-Charta garantiert (Artikel 2). Was also jetzt: Garantiert wird sowohl das Recht auf Selbstbestimmung als auch das Recht auf die Unversehrtheit der Grenzen! Das Rätsel löst sich dann auf, wenn unter der Selbstbestimmung der Völker nur die existierenden Staatsvölker subsumiert werden. Dann ist klar: Staatsvölker haben das Recht, sowohl ihre Grenzen zu verteidigen als auch ihre garantierte Selbstbestimmung vor der UNO einzuklagen.
Was aber ist mit Nationen wie den Kurd/inn/en? Für die Verteidiger/innen der staatlichen Souveränität ist die Lage glasklar: Respekt vor der staatlichen Souveränität und der Verweis auf ein Völkerrecht, das für alle verbindlich sein muss, kann nur heißen, dass auch die Türkei, der Iran und der Irak ein Recht darauf haben, ihre Grenzen gegen "Separatismus" und "Terrorismus" zu verteidigen – wer den Respekt vor der staatlichen Souveränität predigt, stellt sich letztlich auf die Seite der existierenden Staaten gegen die nach Unabhängigkeit strebenden Kurd/inn/en.
In dem Zusammenhang ist es nicht verwunderlich, wenn die Verteidiger/innen des Völkerrechts und des Status quo wie Jürgen Elsässer auch die bürgerliche Diktion übernehmen: Wer auf albanischer Seite gegen den serbischen Chauvinismus aufbegehrte, wird umgehend zum "Terroristen" gestempelt. Elsässer verwendet in stereotyper Regelmäßigkeit Begriffe wie "Terrorist" und "Terrorgruppe" für UÇK-Kämpfer, die UÇK bzw. ihre Nachfolgeorganisationen und andere albanisch-nationalistische Bewegungen (Elsässer in der Jungen Welt vom 10.2.2006, 16.1.2008…). damit wird die trotz aller Gegnerschaft zur Neuen Weltordnung die Definitionshoheit des Völkerrechts übernommen: Terrorist/inn/en sind diejenigen, die auf militante Weise gegen den Status quo aufbegehren, ohne dass näher die Frage gestellt wird, ob dieses Aufbegehren nun gerechtfertigt ist oder nicht.
Es gibt noch unzählige weitere Beispiele, die hier zitiert werden könnten für die Unbrauchbarkeit, ja die reaktionären Konsequenzen dieser Methode. Wir wollen ein einziges weiteres herausgreifen – Algerien. Im Unterschied zu den Kolonien (etwa den Ländern im Süden der Sahara) wurde Algerien nicht als Kolonie definiert, sondern als integraler Bestandteil des französischen Mutterlandes. 1830 hatten französische Truppen mit der Besetzung von Algier, Oran und Bone begonnen und damit die Eroberung des Landes eingeleitet. Bis 1906 waren auch die Gebiete Algeriens in der Sahara unterworfen. Französische und andere ausländische Siedler/innen (u.a. Italiener/innen und Spanier/innen) kamen ins Land, umfangreiche Ländereien der einheimischen Bevölkerung wurden enteignet. Gegen diese Enteignungen richteten sich immer wieder Aufstände wie die des al-Muqrani in Ostalgerien (1870-1871). Sie wurden mit brutalen Mitteln niedergeschlagen. Um 1945 befand sich bereits der Großteil des bebaubaren Landes in den Händen von einer Million zumeist französischen Siedler/inne/n.
Schon in der Proklamation der französischen Regierung an die algerischen Siedler vom 2. März 1848 hieß es: "Die Republik wird Algerien verteidigen wie den Boden Frankreichs selbst. (…) Die fortschreitende Angleichung [assimilation] der algerischen Institutionen an die des Mutterlandes liegt in der Absicht der provisorischen Regierung." Regierung und Verwaltung Algeriens sollten den Formen Frankreichs entsprechen. Ähnlich stand es kurz darauf in der Verfassung, so dass Algerien (freilich nur die französischen Staatsbürger/innen) nun sogar Vertreter/innen in die Nationalversammlung entsenden konnte.
Nach der Beendigung des Zweiten Weltkriegs wurden nach Unruhen in Setif und Guelma ca. 45.000 Algerier/innen von der französischen Armee umgebracht. Im Zuge des Aufschwungs der Unabhängigkeitsbewegung begann November 1954 der Unabhängigkeitskrieg gegen Frankreich unter Führung des FLN (Front de Libération Nationale). Vor der Unabhängigkeit 1962 wurde das Land als integraler Bestandteil Frankreichs verwaltet. Nach dem Völkerrecht richtete sich der Unabhängigkeitskrieg also gegen einen integralen Bestandteil des Mutterlandes und formal nicht gegen einen Kolonialstatus. Nach achtjährigem blutigem Krieg erreichte Algerien 1962 mit dem Vertrag von Evian die Unabhängigkeit. Die Zahl der Verluste an französischen Soldaten betrug laut Angaben des französischen Militärs ca. 18.000. Über eine Million Tote waren auf algerischer Seite zu beklagen.
Das algerische Beispiel zeigt klar, dass der Respekt vor der staatlichen Souveränität in bestimmten Situationen mit dem Recht auf Selbstbestimmung kollidieren muss. Welches Recht steht nun höher? Kann es hierüber überhaupt eine klare Aussage geben? Die Antwort der Verteidiger/innen des Völkerrechts müsste eigentlich klar sein: Mit ihrer Berufung auf ein für alle verbindliches Völkerrecht, und das kann in dem gegebenen Fall nur die Respektierung der Landesgrenzen bedeuten, wird dieses gegenüber allen anderen Rechtsverhältnissen herausgehoben, das Völkerrecht über das Recht auf Selbstbestimmung gestellt, ja wenn es für alle verbindlich sein muss, wird dem Völkerrecht ein Sonderstatus, der über jedem anderen Rechtsverständnis thront, zugebilligt.
Uns fehlt die Sicherheit jener vollständig, die für die Anerkennung eines für alle verbindlichen Völkerrechtes werben. Ja wir finden eine solche Methode – nicht nur im konkreten Fall, wenn sie auf Algerien angewandt wird – für einen schlechten politischen Ratgeber. Dafür sind mehrere Gründe ausschlaggebend.
1. So wie die UNO kein neutrales, demokratisch legitimiertes Instrument ist, das von allen je nach Belieben zur Durchsetzung ihrer Interessen benützt werden könnte, ist auch das gegebene Völkerrecht kein Recht an sich, sondern spiegelt die Interessen der Hauptplayer wider, ist bürgerliches Recht, ist Klassenrecht. Es beschützt systematisch die Interessen der "Großmächte" und benachteiligt ebenso systematisch die Interessen derer, die gegen diese ungerechte Weltordnung aufbegehren.
2. Das Völkerrecht legitimiert nicht das nationale Selbstbestimmungsrecht. In vielen Fällen, v.a. dort, wo Nationen für einen eigenen Staat erst kämpfen müssen, steht es sogar in direktem Widerspruch dazu. Marxist/inn/en können hier nicht neutral sein, sondern sie müssen aktiv Stellung beziehen für die Interessen der Unterdrückten.
3. In jeder Revolution wird neues revolutionäres Recht geschaffen, das mit dem überlieferten Rechtsverständnis in Widerspruch geraten muss. Das gilt für bürgerliche Revolutionen und bäuerliche Rebellionen ebenso wie für proletarische.
4. Internationales Recht ist vom Charakter her gleichzusetzen mit internationalen Verträgen. Sie sind damit Ausdruck und Ergebnis der Kräfteverhältnisse zwischen den Klassen. Das Proletariat wird bei einer grundlegenden Veränderung der Kräfteverhältnisse das gleiche tun wie die Bourgeoisie – sie wird das internationale Recht diesem veränderten Kräfteverhältnis anpassen und damit eine neue Balance herstellen, bis das Kapital auf internationaler Ebene geschlagen sein wird und eine weltweite nachkapitalistische Gesellschaft aufgebaut werden kann. Revolutionäre beantworten daher die Frage der Einhaltung von Recht und Gesetz nicht im Sinne einer für alle verbindlichen Rechtsordnung, sondern sie sind sich der Abhängigkeit des Rechts von der Basis der Gesellschaft bewusst. Deshalb können Grenzen auch nicht als Marksteine gesehen werden, deren Unveränderlichkeit ein für allemal gegeben ist. Grenzen sind ebenso wie Verträge Ausdruck des Kräfteverhältnisses und Veränderungen unterworfen.
Die kosovarische "Unabhängigkeit"
Zurück zum Ausgangspunkt – Kosova/Kosovo: Wir haben hier das rechtspolitische Umfeld umrissen, in dem sich die Unabhängigkeitserklärung von Kosova/Kosovo von Serbien abspielt. Nach dem oben Gesagten sollte klar sein, dass es fatal wäre, die Unabhängigkeit mit der Argumentation, sie widerspreche dem Völkerrecht, Serbiens Grenzen müssten geschützt werden…, zurückzuweisen. Aber das bedeutet noch nicht automatisch, dass die Erklärung der Unabhängigkeit als Schritt angesehen werden kann, der kritisch zu unterstützen ist.
Die entscheidende Frage muss der Willen der Bevölkerung im betroffenen Gebiet sein. Erstaunlicher Weise kommen weder Elsässer noch die anderen Gegner/innen einer kosovarischen Unabhängigkeit auf die Idee, dass die Betroffenen selbst befragt werden sollten. Das kann nur einen Grund haben: Sie gehen von vorneherein davon aus, dass Kosova/Kosovo, unabhängig vom Willen der dort Lebenden, bei Serbien zu bleiben hat – punktum.
Es gibt keine einzige seriöse Quelle, die vom Wunsch der Majorität nach einem Verbleib bei Serbien ausgehen würde. Allen Beobachter/innen ist klar, dass die Eigenstaatlichkeit der Wunsch der überwältigenden Mehrheit der Albaner/inn/en ist und damit mindestens 85% der Bevölkerung entspricht. In diesem Sinne ist die Unabhängigkeitserklärung auch der unbestreitbare Wille der großen Mehrheit der kosovarischen Bevölkerung und von daher als legitim zu bezeichnen. Von allen, die das Selbstbestimmungsrecht der Nationen höher ansetzen als das imperialistische Völkerrecht mit seiner Unverletzlichkeit der Grenzen, kann also nicht die Ausrufung der Unabhängigkeit kritisiert werden, sondern höchstens die Umstände, unter denen sie zustande gekommen ist. Nicht die Unabhängigkeitserklärung ist der Skandal, sie entspricht dem Willen der dominierenden Mehrheit. Der Skandal sind die vom Imperialismus aufoktroyierten entwürdigenden Bedingungen, unter denen diese erfolgt.
Das ist auch der Grund, warum etwa Vergleiche mit der völkerrechtswidrigen Annexion Bosniens 1908 durch Österreich-Ungarn (die von Elsässer immer wieder als Parallele herangezogen wird) falsch sind: Nicht weil die Annexion 1908 völkerrechtswidrig war, hat dieser "Formelkompromiß" (Elsässer) dem Thronfolger Franz Ferdinand 1914 in Sarajewo das Leben gekostet und den Ersten Weltkrieg provoziert, sondern weil die Annexion eben genau nicht den Wünschen der Mehrheit der bosnischen Bevölkerung entsprach! Dass heute die Unabhängigkeit das Ziel überwiegender Teile der kosovarischen Bevölkerung entspricht, während die Annexion von Bosnien-Herzegowina 1908 von vielen als nationale Vergewaltigung erlebt wurde, ist die entscheidende Differenz zwischen Sarajewo 1908 und Prishtina/Priština 2008. Das auszublenden, ist in hohem Maße unseriös und muss als politische Zweckargumentation bezeichnet werden.
Sicherlich mindestens 85% stehen heute hinter dem Projekt einer Unabhängigkeit – und jede/r, der in den letzten Jahren Kosova/Kosovo besucht hat, wird bestätigen, dass unter der albanischen Mehrheitsbevölkerung einzig die Frage umstritten ist, wie weit zur Erlangung dieses Zieles auf die internationale Gemeinschaft und deren Ziel einer begrenzten, überwachten, also letztlich einer stark beschnittenen Unabhängigkeit Rücksicht genommen werden sollte. Wie sieht die von der westlichen Staatengemeinschaft offerierte Unabhängigkeit in der Realität aus? Es besteht kein Zweifel, dass sich die kosovarische "Unabhängigkeit" am Ahtisaari-Plan, der am 21. Februar 2007 präsentiert wurde, orientiert. Es ist deshalb angebracht, diesen Plan, der ein schönes Beispiel imperialistischer Befriedungspolitik darstellt, näher unter die Lupe zu nehmen.
Kosova/Kosovo sollte nach dem bereits genannten Plan alle Merkmale eines unabhängigen Staates erhalten, d.h. Fahne und Hymne – die allerdings die multinationale Zusammensetzung des Landes zum Ausdruck bringen müssen. Zugestanden wird dem Land auch eine kleine Streitmacht, die KSFC (die Sicherheitsmacht Kosovas). Untersagt wird, dass sich das Land, z.B. durch einen Volksentscheid, mit einem anderen Land, gedacht ist da an Albanien, vereinigt. Der neue Staat soll – so Ahtisaari – unter der Aufsicht der EU, des UN-Sicherheitsrats und der NATO stehen. Die wirkliche Macht soll der ICR (der Internationale Zivilvertreter) in Personaleinheit mit dem EUSR, d.h. dem Vertreter der EU-Regierungen ausüben. Die beaufsichtigte Unabhängigkeit ist ein in sich widersprüchlicher Begriff, der in Wirklichkeit bedeutet, dass keine Unabhängigkeit gewährt und das imperialistische Protektorat weiter fortbestehen wird.
Das heißt natürlich auch, dass die imperialistische Truppenpräsenz, statt im UNO-Auftrag als KFOR nun als EULEX in dem der EU, erhalten bleiben wird. Und es gibt keinen Anlass für die Annahme, dass in Zukunft die imperialistische Dominanz von Kosova/Kosovo einen anderen Charakter annehmen könnte. Imperialistische Truppenpräsenz – warum sollte es gerade in Kosova/Kosovo anders sein – wird also auch in Zukunft eine Brutstätte für Prostitution, Frauenhandel und alle anderen Segnungen sein, die unweigerlich mit einem Protektoratsregime (auch wenn es als Unabhängigkeit verkauft wird) einhergehen.
Das kann nur heißen, den Abzug aller Truppen aus Kosova/Kosovo zu fordern – die deutschen Truppen haben in Prizren ebenso wenig zu suchen wie die Österreicher in ihrem "Camp Casablanca" in Therandë/Suva Reka und die anderen 35 Nationen, die sich mit derzeit insgesamt etwa 16.000 Soldat/inn/en (!) an der Besatzung beteiligen.
Ein weiteres Prinzip des Ahtisaari-Plans ist eine verordnete Dezentralisierung. Die bereits real bestehende Teilung des Landes wird institutionalisiert und noch ausgedehnt, ohne der serbischen Minderheit die nationale Selbstbestimmung zu gewähren. Es werden 44 serbische Zonen geschaffen, darunter auch der Nordteil von Mitrovica und die weiter nördlich gelegene Region mit den Trepça-Minen. Orthodoxe Kirchen und Klöster werden als serbisch definiert und den serbischen Zonen zugeschlagen – ungeachtet der Tatsache, dass sich auch heute trotz muslimischer Mehrheit ein Teil der Albaner/innen als christlich-orthodox definiert.
Natürlich verpflichtet der Ahtisaari-Plan das "unabhängige" Kosova/Kosovo zur Respektierung der freien Marktwirtschaft. Dadurch soll dem Land die Perspektive eines Beitritts zur Europäischen Union in ferner Zukunft offen gehalten werden. Mit dem Respekt vor der freien Marktwirtschaft ist jedoch auch das Ziel verbunden, die noch bestehenden (halb-) staatlichen Unternehmen zu "marktkonformem Verhalten" zu zwingen, sie sollen damit als Kaufobjekt für die großen Konzernen dienen. Was der Verkauf des staatlichen Stromversorgers an ein österreichisches Konsortium für die mazedonische Bevölkerung bedeutet hat, davon können sich die Kosovar/inn/en bereits heute ein klares Bild machen: Die Strompreise wurden umgehend mehr als verdoppelt, ohne dass die Versorgungssicherheit erhöht worden wäre.
Der Ahtisaari-Plan nahm starke Anleihen an der Situation eines anderen imperialistischen Protektorats – Bosnien-Herzegowina. Hier leben die drei Nationalitäten in einem offiziell einheitlichen Staat, dem nur eine eingeschränkte Souveränität zugesprochen wurde. Auch hier versuchte die "internationale Staatengemeinschaft" durch eine komplizierte und in der Konsequenz wenig brauchbare Struktur das Auseinanderfallen des Staates zu verhindern und die drei Nationalitäten – gegen den Willen großer Teile der Bevölkerung – in einem gemeinsamen Staat zusammenzuhalten.
Kosova/Kosovo wird ein ähnliches Beispiel sein – auch hier wird einem Staat eine Beschränkung der Souveränität aufgezwungen. Für die serbische Volksgruppe wird ein ausgefeiltes System von Minderheitenrechten definiert, das die freie Bewegung im Lande stark einschränken wird, ohne die Minorität zufrieden stellen zu können. Denn sie wird gegen ihren Willen in einem Staatswesen festgehalten, das nicht als das ihre begriffen wird – auch wenn in der Verfassung noch so ausgeklügelte Minderheitenrechte in einem kantonalisierten Land festgeschrieben werden. Wir verteidigen das Rückkehrrecht aller, die in den letzten Jahren und Jahrzehnten aus Kosova/Kosovo vertrieben worden sind. Der Garant für ein freies, von allen Seiten gewolltes Zusammenleben bleibt neben der ökonomischen Prosperität, die der Imperialismus dem Land niemals garantieren wird, und der Möglichkeit, frei weggehen oder zurückkehren zu können, immer noch das Bewusstsein, über die Möglichkeit zu verfügen, sich frei für eine Abtrennung und die Vereinigung mit einem anderen Land entscheiden zu können. Genau das aber will die "internationale Staatengemeinschaft" in der berechtigten Angst vor den unabsehbaren Signalwirkungen einer Veränderung der Grenzen nicht zulassen.
Die Mehrheit der albanischen Kosovar/inn/en scheint aber selbst diese "Unabhängigkeit" dem ungeklärten Zustand eines offenkundigen Kolonialregimes oder dem Status einer von Beograd offerierten weitgehenden Autonomie vorzuziehen. Ebenso muss das nationale Selbstbestimmungsrecht für die albanische Bevölkerungsmehrheit in Ostkosovo/Kosova lindore, der zu Serbien gehörenden Region um Preševo/Preshevë, Medvedja/Medvegjë und Bujanovac/Bujanovc und die albanischen Mehrheitsgebiete in Mazedonien gelten. Auch muss der albanischen Bevölkerung prinzipiell das Recht auf nationalen Zusammenschluss zugestanden werden (wenn auch diese Option u.a. wegen der katastrophalen ökonomischen Lage in Albanien über keine hohe Popularität verfügt).
Eine andere Haltung als die albanische Mehrheitsbevölkerung nimmt allerdings die Mehrheit der nationalen Minoritäten von Kosova/Kosovo ein: Während, wie wir uns auch selbst überzeugen konnten, die türkische Minderheit (z.B. um Prizren) ebenso wie die albanische Mehrheitsbevölkerung der Ausrufung der Unabhängigkeit eindeutig positiv gegenübersteht, kommen von den Roma kaum klare Stellungnahmen (was mit der Jahrzehnte langen Unterdrückung zusammen hängt). Als verstreut lebende Minderheit hatten die Roma meist eine stark "jugoslawische" Identität, waren im Kosovo in der Folge weitgehend gegen eine Separation und standen 1999 klar auf serbischer Seite, was ihnen die Feindschaft der albanischen Nationalist/inn/en einbrachte. Heute dürften die Roma im Nordkosovo die Bestrebungen der serbischen Mehrheit Richtung Lostrennung vom Kosovo unterstützen. In den anderen Teilen von Kosova/Kosovo dürften die Roma die Unabhängigkeit von Kosova/Kosovo als unabwendbar ansehen, sich in die Entwicklung fügen und versuchen, sich zu arrangieren.
Klar abgelehnt wird die Unabhängigkeit vom allergrößten Teil der Serb/inn/en. Auch hier müsste die Lösung in der Anwendung des Selbstbestimmungsrechts der Nationen liegen: Ebenso wie wir der albanischen Mehrheitsbevölkerung das nationale Selbstbestimmungsrecht bis hin zur staatlichen Loslösung zugestehen, fordern wir das auch für die kompakten dominant serbischen Siedlungsgebiete, auch wenn dies den Verlust des großen wirtschaftlichen Trumpfs von Kosova/Kosovo, der Trepça-Minen, bedeuten würde. Der neue Regierungschef von Kosova/Kosovo, Hashim Thaçi, hat aber schon klargestellt, dass es nur ein Kosova geben könne.
Das lässt nichts Gutes für die Zukunft hoffen. Denn so wie die Kosova-Albaner/inne/n in ihrer überwiegenden Mehrheit seit 1912/1913 einem Staat angehören mussten, den sie nicht wollten und der dies – von einer kurzen Periode unter Tito einmal abgesehen – mit fortgesetzter Repression und einer Verweigerung des Selbstbestimmungsrechts beantwortete, wird der große Teil der serbische Bevölkerung trotz aller Deklarationen in seiner neuen Rolle als Minderheit nicht zufrieden gestellt werden können und diese Situation als Vergewaltigung seiner nationalen Rechte empfinden. Daran wird sich trotz aller von der "internationalen Gemeinschaft" mit großer Verve ausgetüftelten Minderheiten- und Partizipationsrechte aller Voraussicht nach auf absehbare Zeit nichts Grundlegendes ändern.
Mit dieser Verweigerung der Selbstbestimmung der Nationen liegt die kosovarische Regierung zweifellos auf einer Linie mit den Interessen des Imperialismus, der sich auch mit der einseitigen Ausrufung der Unabhängigkeit unter Bruch bisheriger UNO-Konventionen sehr schwer getan hat und dies nur nach jahrelangem Feilschen zugestehen wollte. Der Imperialismus hat die Unabhängigkeit von Kosova/Kosovo nicht deswegen "erlaubt", weil ihm die Wünsche der Kosova-Albaner/innen so sehr am Herzen gelegen wären, sondern aus der Einsicht heraus, dass anders eine Befriedung der Provinz nicht möglich gewesen wäre. Damit wäre Kosova/Kosovo auf Dauer ein Unruheherd geblieben. Aber eine weitere Veränderung der Grenzen soll mit allen Mitteln verhindert werden. Der Bruch des Völkerrechts durch die großen imperialistischen Mächte und die Unabhängigkeitserklärung sollen eine einmalige Notmaßnahme in einer Situation bleiben, die anders nicht mehr zu lösen war.
Das sind die Interessen des Imperialismus. Aber dass die albanische Mehrheitsbevölkerung und ihre gewählten Vertreter/innen ebenso von der Unteilbarkeit des Kosova/Kosovo reden, vergibt ihnen die einzige Chance, die gesamte Region auf Dauer zu stabilisieren. Denn die Zuerkennung noch so spitzfindig ausformulierter Minderheitenrechte bietet keine Aussicht auf eine Entkrampfung der nationalen Spannungen, wenn nicht gleichzeitig die Möglichkeit geboten wird, weitestgehend die wirklichen Wünschen der serbischen Minderheit zu erfüllen. Das ungeteilte Kosova/Kosovo wurde erkauft mit der Verlängerung der nationalen Spannungen und damit, dass auf absehbare Zeit jegliche Hoffnung auf ein friedliches Zusammenleben aufgegeben werden muss. Denn wenn die Geschichte des Balkans eines gezeigt hat, dann das, dass nur die Anerkennung des Selbstbestimmungsrechtes der Völker bis zur Lostrennung längerfristig die Basis für ein Bündnis gegen imperialistische Durchdringung und Ausbeutung der Region bietet. Alles andere ist das beste Mittel, um eine neue Runde von nationalistischer Gewalt und chauvinistischer Verhetzung zu eröffnen.
Wahrscheinlich ist Kosova/Kosovo eine neuerliche Bestätigung dafür, dass die Trennung, zumindest die Möglichkeit einer Trennung, die Voraussetzung für eine spätere Annäherung der Nationen ist und dass der Nationalismus hinter der Klassenfrage zurücktreten kann. Karl Marx sagte mit Bezug auf das englisch-irische Verhältnis: "Das englische Proletariat wird nie etwas erreichen, bis es Irland losgeworden ist." In diesem Sinne kann die Trennung von Kosova/Kosovo auch für das serbische Proletariat wieder die Klassenfrage in den Vordergrund und den Nationalismus in den Hintergrund treten lassen. Und sowohl in Bezug auf die serbischen Ansprüche auf den Kosovo als auch auf die albanischen Ansprüche auf die serbischen Mehrheitsgebiete können wir mit Marx sagen: "Ein Volk, das ein anderes Volk unterjocht, schmiedet seine eigenen Ketten."
Unsere Perspektive ist die, die von Leo Trotzki, Dimitrije Tucoviç und anderen Revolutionär/inn/en skizziert wurde: die einer freiwilligen Föderation der (Balkan-)Völker. Aber das wird eine sozialistische Föderation sein müssen, die der konzentrierten Gewalt des Imperialismus, der mit allen Mitteln seine Macht erhalten möchte und dazu auch immer wieder die Feindschaft zwischen den Nationen schürt, die gemeinsame Kraft der revolutionären Veränderung gegenüberstellt und dabei Nationalismus und Chauvinismus das revolutionäre Bündnis der Unterdrückten aller Staaten und Nationen gegenüberstellt.
Die Kosova-Albaner/innen, die den neuen Staat tragen werden, haben eine schwere Hypothek übernommen. Wir meinen damit nicht nur die katastrophale ökonomische Situation des Landes, die Arbeitslosigkeit, die das Land lähmt, und den Verfall der Infrastruktur mit täglichen Stromabschaltungen etc. Wir meinen damit in erster Linie, dass die Unabhängigkeit des Landes ein Ergebnis des Willens der imperialistischen Mächte darstellt. Aber der Imperialismus gibt keine Geschenke – er erwartet sich dafür auch etwas. Die imperialistischen Mächte werden bei allen Gelegenheiten die kosovarische Regierung – wer auch immer sie in den nächsten Jahren stellen wird – daran erinnern, dass es eine Unabhängigkeit von ihren Gnaden ist, der sich das Land erfreut.
Das Recht auf nationale Selbstbestimmung wird daher im "unabhängigen" Kosova/Kosovo einen neuen Charakter annehmen: Für die serbische Minderheit muss das Recht auf nationale Selbstbestimmung bis zur Lostrennung und inklusive eines Anschlusses an Serbien gelten. Auch für die albanische Mehrheitsbevölkerung wird die Selbstbestimmung erst erreicht werden können, wenn sie den Abzug aller ausländischen Truppen durchsetzt – denn das ist die erste Vorbedingung für ein Ende von nationaler Unterdrückung und Entrechtung.
Die einzige Möglichkeit dazu wäre, dass sich die kosovarische Bevölkerung vom Imperialismus frei spielt. Den Albaner/inne/n in Kosova/Kosovo, aber auch in Albanien wurde immer wieder ihre kritiklose Zustimmung zur Politik des Imperialismus vorgehalten. Nur zu gut ist in Erinnerung, dass George W. Bush, den sonst auf seinen Stationen des Europa-Besuchs Demonstrationen begleiteten, in Tirana mit Jubel empfangen wurde und in Fushë-Krujë sogar ein ungewohntes Bad in der Mange nehmen konnte. Diese Nähe zur imperialistischen US-Politik, von der Schutz und Hilfe erwartet wird, ist natürlich ein fataler Trugschluss. Hier bleibt nur die Hoffnung auf eine Änderung des Bewusstseins breiter Teile der Bevölkerung und die Gewissheit, dass dies nicht das erste Mal in der Geschichte sein würde. Ansätze dazu gibt es auch auf Kosova-albanischer Seite. So stand die Vetëvendosje!-Bewegung von Anfang an skeptisch der imperialistischen Dominanz, die sich im Ahtisaari-Plan ausdrückte, gegenüber.
Es wird kein Weg daran vorbei führen, dass von allen, die den Imperialismus und sein falsches Spiel, das dieser auch mit den Albaner/innen treibt, durchschauen, das Bündnis mit den Serb/inn/en und allen jenen, die nicht als Büttel des Imperialismus dessen Politik exekutieren wollen, gesucht wird. Dieses Bündnis wird notwendig sein, soll am Balkan endlich die Spirale von nationalem Hass beendet und ein friedliches Zusammenleben der verschiedenen Völker ermöglicht werden. Letztlich wird das nur im Rahmen einer geplanten, sozialistischen Gesellschaft auf Dauer möglich sein, Erst dann, wenn die kapitalistische Gesellschaft überwunden wird, wird auch am Balkan endgültig über den gemeinsamen Klassenkampf der Weg zur Lösung der nationalen gemeinsam mit der sozialen Frage frei werden.