Der folgende Beitrag enthält eine Einschätzung des Konflikts um den Landesmantelvertrag der BauarbeiterInnen von Ende März 2008. Mittlerweile wurde der Konflikt beigelegt und ein neuer Landesmantelvertrag, der bis Ende 2010 läuft von Seiten der BaumeisterInnen akzeptiert. Trotz diesem Sieg der BauarbeiterInnen erscheint der Arbeitsfrieden in dieser Branche wenig stabil und mit einem neuerlichen Aufflackern der Kämpfe kann durchaus gerechnet werden.
Seit einiger Zeit sind die Schweizer KapitalistInnen wieder vermehrt mit Klassenkämpfen konfrontiert – die schweizerische ArbeiterInnenklasse beginnt sich gegen die Angriffe auf ihre Arbeits- und Lebensbedingungen zu wehren. Seit 6. März streiken die ArbeiterInnen der SBB Cargo in Bellinzona, parallel dazu kam es zu einer erneuten Verschärfung im Kampf der BauarbeiterInnen um den Erhalt ihres Landesmantelvertrags.
Was ist passiert?
Im Sommer 2007 kündigten die im Schweizer Baumeisterverband (SBV) organisierten BaumeisterInnen den mit den Gewerkschaften Unia (sozialdemokratisch) und Syna (christlich) abgeschlossenen Landesmantelvertrag (LMV), der die Lohn- und Arbeitsbedingungen dieser Branche regelt. Der Bau-LMV gilt als einer der besten in der Schweiz existierende Verträge, da er für alle Firmen und Angestellten der Baubranche gültig ist, d.h. auch für solche Unternehmen, die nicht Mitglieder des SBV sind. Diese höchste Stufe der sozialpartnerschaftlichen Regulierung kann in der Schweiz tatsächlich als etwas Besonderes angesehen werden: Als eigentliches Instrument der Sozialpartnerschaft dominieren hier nämlich die so genannten Gesamtarbeitsverträge (GAV), die in der Regel mit den Arbeitgeberverbänden einzelner Branchen ausverhandelt werden und dementsprechend auch nur für diejenigen Unternehmen gelten, die diesen Verbänden angehören.
Die BaumeisterInnen forderten für eine Erneuerung des LMV die Festschreibung massiver Einschnitte bei der Flexibilisierung der Arbeitszeit, die von den Gewerkschaften und insbesondere der Basis nicht akzeptiert werden konnten. Im September 2007 lief der LMV aus, seitdem sind 100.000 dem LMV unterstellte ArbeiterInnen den KapitalistInnen ohne Schutz im Hinblick auf Arbeitsbedingungen und Löhne ausgeliefert.
Das Bauhauptgewerbe (Hoch-, Tief- und Holzbau) ist mit fast 40.000 Mitgliedern die Branche mit dem höchsten Organisierungsgrad in der Unia und hat auch historisch gesehen eine der kämpferischsten Traditionen in der schweizerischen ArbeiterInnenklasse.
Das Ergreifen von Kampfmassnahmen war unausweichlich. Nach einer Grossdemonstration und einzelnen Streiks im Herbst wurde Ende des vergangenen Jahres mithilfe eines Mediators ein neuer LMV ausgehandelt, in dem die Gewerkschaften ihre Forderungen grösstenteils durchsetzen konnten. Dieses Ergebnis zeigt jedoch nicht die tatsächlichen Kräfteverhältnisse, sondern wurde wahrscheinlich wie der LMV 2005 mit der Zustimmung zur erweiterten Personenfreizügigkeit durch die Gewerkschaften erkauft.
Nichtsdestotrotz lehnten die BaumeisterInnen Ende Januar das Mediationsergebnis mit einer klaren Mehrheit ab. Seitdem bereiten sich die BauarbeiterInnen und ihre Gewerkschaften Unia und Syna wieder auf Kampfmassnahmen vor. Anfang März kam es zu den ersten Protesten vor dem Bundeshaus in Bern. Auch wurde auf den Baustellen protestiert und am 12. März streikten in Basel 500 BauarbeiterInnen für die Annahme des LMV durch die BaumeisterInnen.
Neben diesen erneuten Kampfmassnahmen wurden allerdings auch schon separate Abschlüsse auf kantonaler Ebene zwischen BaumeisterInnen und Gewerkschaften abgeschlossen. So kam es im Tessin schon Ende Februar, in der Waadt im März zu kantonalen "Übergangslösungen". Die BaumeisterInnen akzeptieren in diesen Kantonen das Mediationsergebnis von Dezember.
Kämpferische Gewerkschaft Bau und Holz
Die Gewerkschaft Bau und Holz (früher Schweizerischer Bau- und Holzarbeiterverband, SBHV) war seit jeher ein sehr kämpferischer Teil der Schweizerischen ArbeiterInnen, auf deren Konto nach 1945 auch die meisten Streiks gingen. Das hatte mehrere Gründe. Die grösste Schweizerische Industriegewerkschaft, der Schweizerische Metall- und Uhrenarbeiter Verband (SMUV), war durch das Friedensabkommen von 1937 streiktechnisch eingeschränkt. Zudem kam es während der Hochkonjunktur in den 50er und 60er Jahren zu starker Arbeitsmigration aus den südeuropäischen Ländern, was in der Schweiz zu einem Unterschichtungsprozess führte und die inländischen Lohnabhängigen besonders in der florierenden Metallindustrie privilegierte. Dazu kommt, dass viele ArbeitnehmerInnen in der Baubranche migrantischen Hintergrund hatten und oft durch Erfahrungen aus ihren Heimatländern kampferprobter waren als ihre schweizerischen KollegInnen. In den 70er Jahren dominierten die im SMUV organisierten ArbeiterInnen das Streikgeschehen (zum Teil auch wild gegen ihre eigene Führung), was eine klare Folge der Misere der Metall- und Uhrenindustrie im Gefolge der Krise 1974 war. Nach einer allgemeinen Streikflaute in den 80er Jahren machten sich ab den 90er Jahren die BauarbeiterInnen – mittlerweile in der neu gegründeten und sich relativ links positionierenden Gewerkschaft Bau und Industrie (GBI) organisiert – wieder mit einigen Kämpfen bemerkbar. Die überdurchschnittliche Kampfbereitschaft und -erfahrung der BauarbeiterInnen war daher sicher ein Grund für die in dieser Branche herrschenden relativ guten Arbeitsbedingungen.
Kartellisierung im Interesse von SBV und Gewerkschaften
Der vergleichsmässig gute Bau-LMV, der im Gegensatz zu den wenigen anderen LMVs beispielsweise auch die Löhne regelt, entsprach jedoch auch lange Zeit den Interessen der BaumeisterInnen. Die weitgehenden Vereinbarungen des LMV, die ja für in- und ausländische Unternehmen galten, schützten die Branche vor der eigenen Konkurrenz. Als eine auf den Binnenmarkt ausgerichtete Branche konnten sich die BaumeisterInnen eine gewisse Kartellisierung leisten, die der Exportindustrie, die sich mit der Konkurrenz am Weltmarkt messen muss, beispielsweise schon lange nicht mehr möglich war. Dementsprechend existiert in diesen Branchen auch kaum ein LMV, in denen die Arbeitgeber auf nationaler Ebene über die Löhne und Arbeitsbedingungen verhandeln können, sondern wenn überhaupt nur mehr ausgehöhlte LMVs, die in erster Linie Arbeitsfriedensklauseln beinhalten.
Die parallel verlaufenden Interessen von Gewerkschaften und Bauunternehmern zeigten sich auch in den 90er Jahren, als im Angesicht der Rezession erfolgreich Investitionsprogramme zur Ankurbelung der Bauwirtschaft durchgesetzt wurden. Dennoch konnten die Rezessionsjahre nicht unbemerkt an der Baubranche vorbeigehen. Zu Beginn des neuen Jahrtausends äusserte sich das in zunehmenden innerkapitalistischen Widersprüchen und, damit verbunden, der langsam auseinanderbröckelnden Front der BaumeisterInnen. Grossunternehmen und KMUs entwickelten in der Krisensituation unterschiedliche Bedürfnisse. Während die grossen Unternehmen, die Bauindustrie mit Unternehmen wie Implenia oder Marti, weiterhin von genauen Reglementen profitierten, gerieten die KMUs immer mehr unter Druck und begannen den LMV anzugreifen.
Im November 2002 kam es zur grössten Arbeitsniederlegung in der Schweiz in der Nachkriegszeit, 15.000 BauarbeiterInnen streikten damals für das Recht mit einer existenzsichernden Rente mit 60 Jahren in Ruhestand gehen zu können. Während dieses Konfliktes löste der KMU-Besitzer und FDP-Mann Werner Messmer den eher sozialpartnerschaftlich orientieren Heinz Pletscher als Zentralpräsident des SBV ab. Die GBI und die BauarbeiterInnen haben sich in diesem Konflikt letztendlich durchgesetzt. Das Rentenalter 60 wurde (natürlich mit Zugeständnissen wie Reallohneinfrierung) angenommen, aber für die BauarbeiterInnen war es eine nicht zu unterschätzende Erfahrung für das Kampfbewusstsein.
2005 wurde unter Messmers Führung mit dem "LMV light" ein erneuter Versuch der Deregulierung des LMVs unternommen. Um die Zustimmung der Gewerkschaften zu den bilateralen Verträgen mit der EU nicht zu gefährden, scheiterte dieser Vorstoss und die Gewerkschaft – mittlerweile die Unia – konnte noch mal einen relativ guten Vertrag abschliessen. Zwei Jahre danach kam es zur Eskalation des latenten Konflikts durch die Vertragskündigung.
Die Unia
Für die Unia steht zunächst neben dem Prestige die eigene Machtstellung als grösste schweizerische Gewerkschaft auf dem Spiel. Dass die Aushöhlung des LMV nicht die einzige Absicht der BaumeisterInnen ist, zeigte der Auftritt von KMU-BaumeisterInnen und SVP-Mann This Jenny, der in einer Arena-Sendung im Mai 2007 die Abschaffung von GAVs allgemein und Gewerkschaften an sich forderte. Es ist offensichtlich, dass es einem Grossteil der Bourgeoisie gut in den Kram passen würde, wenn hier ein Exempel an der grössten Schweizer Gewerkschaft statuiert werden würde. Dementsprechend betont die Unia auch ihr unbedingtes Interesse an der Wahrung des LMV – die Frage, was die regionalen Abschlüsse hier zu bedeuten haben, bleibt aber dennoch bestehen. Ein möglicher Grund für die rasche Annahme des Separatvertrags im Tessin war sicher die Tatsache, dass in diesem Kanton SYNA und UNIA gleich stark sind und die Kompromissbereitschaft der christlichen Gewerkschaft die UNIA zum Handeln gezwungen hat. Die BaumeisterInnen setzen in diesem Kampf trotz ihrer inneren Zerissenheit ganz klar auf eine Spaltung der Gewerkschaften und der ArbeiterInnen. Nachdem eine Bastion gefallen ist, folgten auch schnell ein paar andere Kantone dem Beispiel. Klar ist, dass von solchen Regionalabschlüssen langfristig die gesamte Bourgeoisie profitieren wird, auch wenn die scheinbaren Gewinner jetzt die traditionell kämpferischen Kantone sind.
Die Aufgabe des LMV bedeutet eine Schwächung der gesamten schweizerischen ArbeiterInnenklasse, ein weiterer Schritt in Richtung Regionalisierung und damit Zersplitterung der Bewegung. Die schweizerischen BaumeisterInnen werden sich angesichts eines geschwächten Gegners schnell wieder zusammenraufen, eine zersplitterte ArbeiterInnenklasse wird sich das Instrument des LMV aber nicht so schnell wieder zurückholen können – von weitergehenden Schritten ganz zu schweigen.
Neben der schweizerischen ArbeiterInnenklasse wird in erster Konsequenz auch die Unia in der Deutschschweiz als schwächste Sektion eine der Hauptverliererin dieser Zersplitterung sein. Die schwächste Fraktion der BauarbeiterInnen ist hier den aggressivsten Exponenten der BaumeisterInnen ausgesetzt, allein im Kanton Zürich konzentrieren sich 25% aller Bauaktivitäten in der Schweiz. Die Kampfmassnahmen in diesem Kanton und ihr Erfolg werden für den Gesamtkampf der BauarbeiterInnen von zentraler Bedeutung sein.
Insgesamt bedeutet eine Niederlage der BauarbeiterInnen und damit verbunden die Schwächung der Unia durch Regionalisierung langfristig in jedem Fall eine Verschlechterung des gesamtgesellschaftlichen Kräfteverhältnisses mit ungeahnten Auswirkungen auf die Lohn- und Arbeitsbedingungen aller in- und ausländischen Lohnabhängigen in der Schweiz.
Die SPS
Im Juli 2002 fragte sich die WOZ in einem Artikel über den Kampf im Baugewerbe noch, wo die SP bliebe. Damals wie heute steht die Partei auf dem Standpunkt, dass es eine Arbeitsteilung zwischen Partei und Gewerkschaften gibt und "die SP nicht auf jeden Zug aufspringen muss" wie es Simonetta Sommaruga, die schon damals lieber KonsumentInnen als ArbeiterInnen vertrat, formulierte.
Insgesamt zeigt die Haltung der SP, dass diese bis heute keine Notwendigkeit verspürt, in Klassenkämpfe einzuschreiten und diese zu unterstützen. Das ist auch nicht verwunderlich, ist die SPS doch eine eindeutig pro – kapitalistische Kraft, die in der Schweiz auf den Rückhalt der ArbeiterInnenklasse keinen gesteigerten Wert legt solange sie an der Regierung beteiligt ist. Diese Situation könnte sich möglicherweise ändern, wenn sich die SP dazu gezwungen sieht, in die Opposition zu gehen. Dass es die Partei vorzieht, in der Regierung die Angriffe auf die ArbeiterInnenklasse mit zu tragen anstatt in die Opposition zu gehen, ist ebenfalls ein deutlicher Hinweis darauf, dass sich diese Partei nicht im Geringsten um die Interessen der ArbeiterInnen kümmern möchte.
Perspektiven
Klar ist, dass alles Mögliche getan werden muss, um den LMV zu verteidigen. Hier wären ein nationaler Streiktag und möglicherweise auch ein unbefristeter Streik das beste Mittel. Eine offensichtliche Schwierigkeit dieses Unterfangens ist die mittlerweile eingetretene Spaltung der BauarbeiterInnen. Die ArbeiterInnen in den Kantonen mit Separatverträgen müssen mittlerweile auf einer politischen Ebene für den Kampf gewonnen werden, während beispielsweise in der Deutschschweiz noch die unmittelbaren Arbeitsbedingungen auf dem Spiel stehen.
Weitere Fragen wirft der gerade laufende Streik der SBB Cargo ArbeiterInnen in Bellinzona auf. Bis jetzt führen die ArbeiterInnen den Kampf gegen die Abbauplänen der SBB sehr konsequent und lassen sich auf keine Verhandlungen ohne Jobsicherungszusagen ein. Die Solidarität des Kantons aber auch von ArbeiterInnen aus anderen Kantonen ist gross wie die Demonstration vom 19. März in Bern mit über 5000 TeilnehmerInnen gezeigt hat. Möglicherweise gibt dieser Streik dem Kampf der BauarbeiterInnen einen Auftrieb, indem er das Vertrauen der ArbeiterInnen in die eigene Stärke festigt, die Bourgeoisie einschüchtert und die Gewerkschaften unter Druck setzt, die Interessen ihre Mitglieder vehement zu unterstützen.
Unsere Solidarität gilt dem Kampf der BauarbeiterInnen und dem Kampf der SBB-ArbeiterInnen. Beide sind auch relevante Kämpfe für das gesamtgesellschaftliche Kräfteverhältnis und darum Kämpfe im Interesse aller aktiven, zukünftigen und ehemaligen Lohnabhängigen. Nur eine starke und geeinte ArbeiterInnenklasse kann weitere Schritte in Richtung Überwindung der kapitalistischen Ausbeutung setzen!