Der NATO-Gipfel in Bukarest stand ganz im Zeichen der Diskussion um eine Erweiterung des westlichen Militärbündnisses. Die 26 NATO-Mitgliedstaaten sprachen sich in dem am 3. April eröffneten Gipfel von Bukarest für eine Aufnahme von Albanien und Kroatien ins Bündnis aus. Da der Beitritt noch von jedem Mitglied ratifiziert werden muss, wird er voraussichtlich erst in etwa einem Jahr vollzogen und wirksam werden.
Für Albanien ist die Aufnahme in die NATO ein wichtiger Schritt in der seit Jahren verfolgten Integrationspolitik und ein großer Erfolg für die seit 2005 amtierende konservative Regierung Berisha. Diesen Erfolg hat die Regierung auch bitter nötig, denn der "Reformbedarf" ist nach wie vor enorm, der "Kampf gegen die Korruption", der für den Wahlsieg Berishas wichtig war, ist nach Ansicht vieler Albaner/innen ins Stocken geraten. Die Tragödie von Gerdec in der Nähe von Tirana, bei der am 15. März 2008 eine Fabrik explodierte, in der Sprengstoff von den umgebenen Metallen getrennt wurde, hat sinnfällig gezeigt, wie fahrlässig Privatfirmen in Regierungsauftrag mit dem Leben der Menschen spielen: Bei minimalen Sicherheitsstandards arbeiteten nicht nur Kinder auf dem Gelände, selbst primitivste Sicherheitsvorkehrungen dürften missachtet worden sein und zur Explosion geführt haben, die ein ganzes Dorf vernichtete und nicht nur bislang 25 Menschen das Leben kostete, sondern auch 300 Häuser vollständig vernichtete und weitere 2.800 (zum Teil) schwer beschädigte.
Die Tragödie von Gerdec ist aber noch in anderer Hinsicht bezeichnend: Alle politischen relevanten Kräfte des Landes stehen hinter dem NATO-Beitritt, und die oppositionellen Sozialisten halten am 4. April in Tirana eine Großdemonstration unter dem Slogan "Ja zur NATO, Nein zu Berisha" ab. Unterstützung bekommen die NATO-Ambitionen des Landes aber nicht nur von den im Parlament vertretenen Parteien, ob sie sich nun als rechts oder links deklarieren, sondern auch von einer Seite, die viele vielleicht überrascht: Die Witwe Envers Hoxhas, des Parteigründers der albanischen KP und langjährigen stalinistischen Parteiführers, hat sich gerade in den letzten Wochen und Monaten verstärkt zu aktuellen politischen Fragen zu Wort gemeldet. Nicht nur hat sie mehrfach ausdrücklich die einseitige Unabhängigkeitserklärung von Kosova begrüßt ("Mit der Selbständigkeit ist ein Traum für jeden Albaner wahr geworden"), sondern auch zur Frage der NATO-Mitgliedschaft Stellung genommen: "Albanien muss in eine westliche Richtung marschieren, auf die NATO und auf die Europäische Union zu." Und bezüglich des NATO-Treffens in Bukarest: "Ich denke, wir verdienen eine Einladung zur Mitgliedschaft, und ich habe keinen Zweifel, wir werden ein zuverlässiger Verbündeter sein."
Wer nun denkt, Nexhmije Hoxha habe vielleicht einen 180°-Schwenk vollzogen und sich von ihrer Vergangenheit an der Spitze des albanischen Stalinismus distanziert, irrt. Die ehemalige Vorsitzende der allumfassenden KP-Vorfeldorganisation Demokratische Front und Direktorin des Instituts für marxistisch-leninistische Studien hat ihren Frieden mit NATO und EU gemacht, ohne subjektiv einen Bruch mit ihrer persönlichen politischen Vergangenheit zu vollziehen. Als sie 1999 die NATO-Bombenangriffe auf Jugoslawien begrüßte, erklärte sie dies so: "Wir hatten die NATO als Teil des imperialistischen Systems gesehen und alles, was sie tat, verurteilt. Nun schloss ich für mich selbst einen Kompromiss mit der NATO und den USA. Es gab keinen anderen Weg, die Leiden der Albaner im Kosovo und die Serbenherrschaft dort zu beenden."
Die heute 88-jährige Nexhmije Hoxha ist den Weg des albanischen Stalinismus in vollem Bewusstsein bis zum Ende gegangen. Dessen Kraftquelle war wohl immer schon der mit einem martialischen Marxismus-Leninismus nur notdürftig verhüllte albanische Nationalismus. So gelingt es Nexhmije Hoxha auch, ihre NATO- und EU-Ambitionen mit dem Festhalten am albanischen Stalinismus zu vereinen, an dem sie heute lediglich "einige Übertreibungen" kritisieren würde; die Substanz des 1990/1991 an der bürokratisch verordneten Selbstisolation gescheiterten Systems verteidigt sie aber nach wie vor vehement.
So ist es auch nicht verwunderlich, dass heute praktisch die gesamte politische Öffentlichkeit hinter der NATO-Mitgliedschaft steht. Für den Leiter der rechten Republikanischen Partei, den über die Gerdec-Tragödie gestürzten früheren Verteidigungsminister Fatmir Mediu, ist damit die Transitionsperiode des kleinen Balkanlandes beendet, der Führer der "Sozialistischen Integrationsbewegung", Ilir Meta, fordert lediglich ein, dass so ein großes Ereignis nicht für enge parteipolitische Interessen ausgenutzt werden dürfte. Und auch die Sozialistische Partei betont bei jeder Gelegenheit, dass sie eine "Euro-Atlantische politische Kraft" sei, die "immer für die Integration Albaniens in diese Strukturen eingetreten" sei und zu dieser beigetragen habe.
Wir sind heute mit einem Albanien konfrontiert, in dem Nexhmije Hoxha zumindest in einem Punkt das ausspricht, was viele im Lande denken: "Meine Erfahrung hat gezeigt, dass es für ein kleines Land schwer ist zu überleben. Ob du es willst oder nicht, du hast die Unterstützung von großen Mächten zu akzeptieren."
Albanien wird lernen müssen, dass diese Unterstützung der Großmächte aber nicht ohne Gegenleistung gegeben wird. Für Hunderttausende Albaner/innen ist die NATO-Mitgliedschaft mit der Hoffnung auf eine Liberalisierung der strengen Visa-Vorschriften verbunden, mit dem Wunsch, in Hinkunft einfacher dem Land den Rücken kehren zu können, und ganz allgemein mit der Hoffnung auf ein besseres Leben verbunden. Die NATO-Mitgliedschaft und das kürzlich abgeschlossene Stabilitätsabkommen mit der Europäischen Union haben aber nicht wirklich das Ziel, Albanien im Lebensstandard an das Niveau westeuropäischer Länder heranzuführen. Es geht darum, die verwundbare Flanke Europas am Westbalkan zu stabilisieren und auf einen verlässlichen Verbündeten an den Grenzen von Kosova/Kosovo zurückgreifen zu können. Die albanische Bevölkerung wird begreifen müssen, dass die NATO-Mitgliedschaft ihnen nicht die gleichberechtigte Teilnahme an einem "Bündnis des Wohlstands und des Friedens" gewährleisten wird. Albanien wird nun – ganz offiziell durch die Mitgliedschaft anerkannt – die Aufgabe eines kleinen Rädchens zu spielen haben, das an der Aufrechterhaltung einer brüchigen imperialistischen Weltordnung mitzuwirken hat und einen fragilen Frieden in der Region absichern soll, der den Balkan nicht wirklich stabilisieren wird. Den Balkan zu einer Zone des Wohlstands und des Friedens zu machen, das wird nicht durch den Anschluss an ein imperialistisches Bündnis gelingen. Das vermag nur ein Bündnis der Nationen gegen Ausbeutung und Imperialismus.