International: Das Jahr 1968 war ein wesentlicher Wendepunkt in der Nachkriegsgeschichte. Anfang des Jahres begann General Vo Nguyen Giap die Tetoffensive (nach dem vietnamesischen Neujahrsfest Tet Mitte Februar benannt) gegen die US-Truppen in Vietnam. Vietcong-Verbände griffen über 100 städtische Ziele an und drangen bis nach Saigon vor. Auch wenn die Offensive vom Imperialismus abgewehrt werden konnte – in der amerikanischen Öffentlichkeit, vor allem unter der Jugend, hatte sie zur Einsicht geführt, daß der Krieg in Vietnam nicht zu gewinnen wäre. Unter dem Druck von Antikriegsprotesten mußte Präsident Johnson Ende März die großflächigen Bombardements gegen Nordvietnam einstellen.
Im Jänner 1968 wählte die tschechoslowakische Kommunistische Partei Alexander Dubcek zu ihrem Generalsekretär. Im Gegensatz zu den stalinistischen Hardlinern, denen er nachfolgte, gab er dem immer stärker werdenden Druck nach Reformen und einer demokratischen Öffnung nach. Vor allem die Intellektuellen, die sich um den Schriftstellerverband geschart hatten, begannen mit der Diskussion über einen “Sozialismus mit menschlichem Antlitz”, die immer breitere Schichten der Bevölkerung mitriß und zum Prager Frühling führte.
Im März kam es an der Universität in Warszawa zu Studentenprotesten, die bald auf andere polnische Städte, auf Poznan, Krakow und Ljublin, übergriffen. Diese Proteste sind allerdings nur in einem sehr begrenzten Umfang mit der späteren Bewegung in Frankreich vergleichbar. Was im Jänner mit Kundgebungen gegen das Verbot des Theaterstücks Die Ahnen begann, steigerte sich Ende des selben Monats zu einem brutalen Polizeiüberfall auf die Universität in Warszawa. Die Repression hing ursächlich mit einem Machtkampf im polnischen Staats- und Parteiapparat zusammen. Die Harten um General Moczar warfen dem seit 1956 amtierenden Parteichef Gomulka vor, zu liberal zu sein, und forderten gleichzeitig eine vehemente national-kommunistische Wende. Die Studentenproteste kamen gerade recht, um Härte zu zeigen. Mit einem Zynismus sondergleichen setzten die stalinistischen Bürokraten dabei auf die dumpfsten Bewußtseinsschichten von Teilen der Bevölkerung: Eine antisemitische Welle wurde entfacht, die im März ihren Höhepunkt fand, als in einer spontanen Aktion Bürgerwehren und Arbeiterselbstverteidigungskomitees, mit Eisenstangen bewaffnet, die Universitäten stürmten und die Kosmopoliten und Zionisten niederknüppelten. Unter dem Eindruck der Ereignisse in der CSSR forderten auch die polnischen Studenten und Arbeiter einen tiefgreifenden Wandel. Im gleichen Monat revoltierten die Studenten der französischen Universität Nanterre gegen die unhaltbaren Studienbedingungen.
Jugendrevolte gegen den Gaullismus
Nach einer Reihe kurzlebiger bürgerlicher Regierungen befand sich 1958, bei Ausbruch der Algerien-Krise, eine Regierung unter dem Sozialdemokraten Guy Mollet an der Spitze des französischen Staats. Mollet versuchte alles, um den französischen Kolonialismus zu retten. Sie scheiterte am Kampf der algerischen Befreiungsbewegungen und dem Terror der rechtsradikalen OAS, die eine härtere Gangart gegen die Algerier predigten. In dieser krisenhaften politischen Lage kam de Gaulle an die Macht – nicht als Mann der Parteien, sondern als Mann über den Parteien. Er löste das Algerien-Problem durch Verhandlungen mit Führern der Befreiungsbewegung und unterzeichnete schließlich die Verträge von Evian (1961), die Algerien die formale Unabhängigkeit brachten.
Zu diesem Zeitpunkt war bereits die neue gaullistische Verfassung in Kraft, die sich bis zum heutigen Tag als ein wesentliches Element der politischen Stabilität im Sinne der Herrschenden in Frankreich erwiesen hat. Diese Verfassung führte das berüchtigte Wahlsystem in zwei Gängen ein und gewährte darüber hinaus dem Präsidenten ein gewaltiges politisches Gewicht: Vetorecht in Gesetzesfragen, Auflösung der Nationalversammlung, Ausrufung des Ausnahmezustandes, Einsatz des Militärs etc. Auf ökonomischer Ebene hatte der Gaullismus bereits 1958 eine Grundsatzerklärung im V. Wirtschaftsplan abgegeben; die Aufgabe der Regierung sei es “vor allem jene wirtschaftlichen Gruppierungen und Unternehmungen zu unterstützen, die auf dem internationalem Markt Bedeutung erlangt haben und der ausländischen Konkurrenz entgegentreten können” – also eine klare Bevorzugung hochkonzentrierter und monopolistischer Unternehmen. Um diese Politik durchführen zu können, wurde staatlicherseits alles unternommen, um die Arbeiterklasse ruhig zu halten: konzertierte Verhandlungen, massive Vollmachten für Polizeieinsätze gegen streikende Arbeiter usw.
Ab 1966 treffen die Auswirkungen einer Rezession Frankreich. Einerseits war dafür das Stocken des Nachkriegsbooms verantwortlich, der – wie in anderen Ländern so auch in Frankreich – zu einem Rückgang des Wirtschaftswachstums geführt hatte, andererseits aber wurde diese allgemeine Situation noch durch eine sehr ehrgeizige Rüstungspolitik, die zu Angriffen auf den Lebensstandard führte, verstärkt – so hatte Frankreich 1960 seine erste Atombombe gezündet.
Um den Plan V nicht zu gefährden, nimmt die französische Bourgeoisie Zuflucht zur Steigerung der Arbeitslosigkeit. Ab Herbst 1967 steigt die Zahl der Arbeits-losen sprunghaft an: von 210.000 im November auf 400.000 im Mai. 40 Prozent davon sind Jugendliche.
Die ehrgeizigen Pläne der Regierung zeitigten auch an den Universitäten ihre Auswirkungen: In einem rasanten Tempo sollten jene Fachleute ausgebildet werden, die die Entwicklung der kapitalistischen Wirtschaft erforderte. 1960/61 hatte es in Frankreich an die 270.000 Studenten gegeben, im Studienjahr 1967/68 hatte sich die Zahl auf 510.000 fast verdoppelt. Im Rahmen des Planes V forderte die Wirtschaftskommission, die de Gaulle eingesetzt hatte und der neben unabhängigen Experten fast ausschließlich Mitglieder der Unternehmerverbände angehörten, eine weitere Anhebung der Studentenzahl auf 710.000.
Ein strukturelles Problem war die Verteilung der Studenten nach Fachrichtungen. Kurz vor dem Mai hatte Jacques Monod, Nobelpreisträger und Professor am Pasteur-Institut in Paris, die Misere klar umrissen: “Es gibt in Frankreich keine Universitäten! Es gibt lediglich Fakultäten und Fachhochschulen, die gleichartige Diplome auf der Basis stereotyper Wissensvermittlung nach einem für alle verbindlichen Nationalschema aufstellen. Unsere unglaublich starren Strukturen, der schwerfällige, trügerische und ineffiziente Zentralismus, der alles paralysiert, der Immobilismus der Ideen und Menschen sowie die gigantische Universitätsbürokratie sind gravierende Hemmnisse für eine expandierende Forschung und Ausbildung”.
Die Grandes Écoles, die Fachhochschulen also, bildeten das Rückgrat des akademischen Ausbildungswesens. Als Eliteschulen mußten sich Anwärter rigidesten Eignungstests, oft in Form von Wettbewerben (concours) unterwerfen, bei denen von Haus aus feststand, daß nur eine fixe, kleine Quote von Aufnahmewilligen eine Chance haben würde. Schülern, die es schafften, war die Karriere im Staatsdienst oder in der Privatwirtschaft so gut wie vorgezeichnet. Studenten der École Polytechnique etwa wurden mit dem Eintritt in das Institut automatisch Offiziersanwärter.
Diesen Kaderschmieden der Bourgeoisie standen die Facultés, die Fakultäten, gegenüber. Sie konnten alle Schulabgänger, die ihr Bac (das Baccalaureat, die Matura also), abgelegt hatten, besuchen. An sie wurde die breite akademische Bildung – wie am Fließband – verabreicht – traditionell ein hohes Gut der französischen Civilisation, praktisch immer häufiger der direkte Weg in die Sackgasse der Arbeitslosigkeit. Ein unerhörter Leistungsdruck lastete auf den Studenten. Die Auslese erfolgte durch schärfste Prüfungen, aber auch durch den Konkurrenzkampf um Studien-plätze und Stipendien. Mensen und Wohnheime waren extrem teuer. So stieg die Unzufriedenheit gerade bei denen, die eigentlich die ideologischen Stützen der kapitalistischen Gesellschaft bilden sollten.
Ein weiteres Element war die internationale Anti-Vietnam-Kriegsbewegung, die unter den französischen Schülern und Studenten eine bedeutende Resonanz fand. Am 21. März 1968 kam es zur ersten großen Vietnam-Demonstration in Paris, an der 30.000 Studenten teilnahmen. Die Polizei und vor allem die CRS (Republikanisches Sicherheitskorps/Spezialpolizei gegen Unruhen) provozierten Zusammenstöße, in deren Verlauf Dutzende Demonstranten verhaftet wurden. Einen Tag später besetzten aus Protest gegen die polizeiliche Repression 142 Studenten unter Leitung des deutsch-französischen Studentenführers Daniel Cohn-Bendit die Universitätsverwaltung in Nanterre.
Um die Situation an den Hochschulen wieder unter Kontrolle zu bringen, verabschiedete die Regierung am 3. April eine neue Studienordnung, die es unter anderem gestattete, Bewerber für einen Studienplatz ohne Angabe von Gründen zurückzuweisen. Weiters wurden die Prüfungsbestimmungen noch verschärft und festgelegt, daß nur ein bestimmter Prozentsatz von Studierenden aufsteigen dürfe. Daraufhin organisierte die Studentengewerkschaft UNEF eine Reihe von Protestaktionen, die wiederholt von der Polizei und rechtsradikalen Banden gesprengt wurden. Die 1907 gegründete und 1929 offiziell vom Staat als autorisierte freiwillige Interessensvertretung der Studenten anerkannte Union Nationale des Associations Générales d´Étudiants de France hatte sich seit 1946 als stark ökonomistisch orientierte Serviceorganisation entwickelt. In der Charta von Grenoble hatte die UNEF nach dem Krieg die Rolle der Studenten als die jugendlicher intellektueller Arbeiter definiert.
Während des Algerienkriegs begann sich die unpolitische UNEF zu radikalisieren. Als die Linken – Studenten, die der KP, der SP und kleineren linken Organisationen angehörten – bei den Wahlen eine knappe Mehrheit erlangten, spalteten sich die Rechten ab und gründeten eine unbedeutende Konkurrenzorganisation, die FNEF. Von 1963 bis 1967 dominieren die KP-Studenten in der Führung der studentischen Gewerkschaft. Im Gegensatz zu den Arbeitergewerkschaften, die seit 1946/47 in Richtungsgewerkschaften aufgesplittert sind, ist die UNEF eine Einheitsgewerkschaft und kennt unterschiedliche Tendenzen. 1967 gelingt es den der PSU (Partie Socialiste Unifié) nahestehenden Studenten, die KP-Kader an der Spitze abzulösen. Gleichzeitig nimmt das politische Gewicht der beiden großen trotzkistischen Studentengruppen – der FER (Féderation des Étudiants Révolutionnaires) und der JCR (Jeunesse Communiste Révolutionnaire) – zu.
Am 2. Mai ist das Maß voll: Eine Handvoll Faschisten der Gruppe Occident überfällt das Büro der Studentengewerkschaft in der Sorbonne und legt Feuer. Am nächsten Tag sammeln sich hunderte Studenten im Hof der Universität zu einer Protestkundgebung. Immer mehr werden es. Auch Schüler stoßen zu ihnen. Zu Mittag sind über 3000 Menschen versammelt. Der Rektor hat in der Zwischenzeit erfahren, daß es zu vereinzelten Zusammenstößen zwischen faschistischen und linken Studenten gekommen ist.
Nach Rückfrage im Erziehungsministerium holt der Rektor CRS und Polizei in die Universität. Kurze Zeit später stehen sich Studenten und die schwarz uniformierten CRS-Männer gegenüber. Mit unerhörter Brutalität will die Polizei Herrin der Lage werden. Während in der Sorbonne noch gekämpft wird, hat sich die Nachricht vom Polizeiüberfall auf die Kundgebung wie ein Lauffeuer im Studentenviertel Quartier Latin verbreitet. Die ersten Barrikaden werden gebaut – bei der Metro St. Michel werden Polizeilastwagen umgeworfen und als Schutz gegen die aufmarschierende Polizei benützt. Der Angriff der Polizei wird unter einem Hagel von Steinen zusammenbrechen. Mort aux vaches (Tod den Bullen) prangt an vielen Häuserwänden. In den Abendstunden ziehen sich Schüler, Studenten aber auch junge Arbeiter hinter die ersten Barrikaden zurück.
Am 4. Mai läßt Rektor Roche die Sorbonne schließen. Die Kunstakademie wird besetzt, und in aller Hektik werden die ersten Plakate gedruckt – gegen De Gaulle, gegen die neuen Hochschulgesetze, gegen den Polizeiterror. Die Gruppen der Linken drucken ihre Flugblätter und Zeitungen, die rasenden Absatz finden. Komitees bilden sich: Propagandatrupps entwerfen Aufrufe und Plakate; technische Trupps übernehmen das Plakatieren und die Verteilung; Selbstverteidigungsausschüsse organisieren die Ordnerdienste und Patrouillen, die sich mit faschistischen Banden und vereinzelten Polizeitrupps messen müssen; aber auch Kindergärten werden eröffnet, Suppe wird gekocht, es wird musiziert, und Lesungen werden abgehalten. Ein neuer Geist der Freiheit zeigt sich.
Generalstreik
Am nächsten Tag hetzt Waldeck Rochet, Zentralsekretär der KPF, in einem Leitartikel der L´Humanité gegen die “linksradikalen Abenteurer, Maoisten, Anarchisten und Trotzkisten, die das Spiel de Gaulles spielen und den Schlag gegen die kommunistische und demokratische Bewegung provozieren sollen”.
Wie aber stehen die Arbeiter zum Kampf der Studenten? Diese entscheidende Frage wird immer wieder diskutiert. Die Agitationstrupps haben unterschiedliche Erfahrungen gemacht: bei manchen Betrieben sind sie von Funktionären tätlich angegriffen worden; man hat ihre roten Fahnen zerfetzt. In anderen Betrieben hat man mit ihnen diskutiert. Ihnen von der Situation der Arbeiter erzählt. Von den 2,9 Prozent Lohnerhöhung in den letzten Jahren, die von der Inflation zehnmal aufgefressen wurden, von den ergebnislosen Verhandlungen mit den Unternehmern. Von den neuen Maschinen, die die Gesundheit gefährden. Von der Erhöhung der Bandgeschwindigkeiten, um noch mehr produzieren zu können.
Am 5. Mai ist alles ruhig in Paris. Gerüchte schwirren durch die Stadt. Das Quartier Latin ist besetzt, die Studenten lassen nur Leute passieren, die vertrauenserweckend aussehen. In den Komitees wird pausenlos diskutiert, wie es weitergehen soll. Die Gruppe 11. März unter der Führung von Cohn-Bendit, die JCR und die FER treten für eine verstärkte Propaganda in den Betrieben ein. Dagegen sprechen sich verschiedene spontaneistische Organisationen aus. Die maoistische UJC-ML beteiligt sich nicht an den Beratungen. Für den nächsten Tag wird eine Demonstration vorbereitet.
Als sich am 6. Mai die Demonstranten auf dem Boulevard St. Michel gerade sammeln – rund 20.000 Menschen -, greift die CRS mit Tränengasgranaten und Hunden an. Eine mehrstündige Straßenschlacht entwickelt sich, in deren Verlauf (laut amtlichen Abgaben) 345 Polizisten verletzt, 422 Studenten verhaftet und mehrere hundert verletzt werden. Die ersten Nachrichten über Streiks und Unruhen in den Fabriken heben die Moral der Kämpfenden. Am Abend werden die langerwarteten Reaktionen aus Moskau und Peking bekannt: Während Radio Peking die heroischen Schlachten preist, spricht Moskau von unverständlichen und irrationalen Gewalttaten. Daraufhin sinkt der Einfluß der KPF unter den Studenten quasi auf den Nullpunkt. Der Großteil ihrer studentischen Mitglieder tritt aus der Partei aus.
Am nächsten Tag zieht eine 30.000 Personen umfassende Demonstration zur Nationalversammlung. Betont politische Losungen prägen den Zug – “Zehn Jahre Gaullismus sind genug!” – “Weg mit Pompidou!” – “Arbeiter – Schüler – Studenten – Solidarität!”. Das Echo auf die Demonstration ist sehr positiv. Betriebsversammlungen finden bei Renault und Sud-Aviation statt. Delegierte der Studenten sprechen. Die Arbeiter wollen die Situation ausnützen, um ihre Forderungen einzubringen: Höhere Löhne, gegen die Arbeitshetze. Weg mit der arbeiterfeindlichen Regierung.
Die Gewerkschaft CGT stemmt sich mit all ihrer Autorität gegen dieses Abenteurertum. Aber die Solidarisierung ist nicht mehr zu stoppen. Die freien Universitäten entstehen: nach Betriebsschluß kommen die Arbeiter in die Unis. Diskussionsveranstaltungen helfen zu einem besseren Verständnis zwischen Arbeitern und Studenten. Ein gemeinsamer Feind wird erkennbar: die Bourgeoisie. Abendkurse werden gehalten – über die Geschichte der Arbeiterbewegung, Einführungen in den Marxismus, Arbeiter lernen von Volkswirtschaftsstudenten das Bilanzenlesen, um bei Lohnverhandlungen den Unternehmern besser Paroli bieten zu können. Aber es ist auch eine Kulturrevolution! Straßentheater tragen das kritische Bewußtsein in die Stadtviertel, Wandmalereien entstehen. Auch das Verhältnis zwischen den Geschlechtern beginnt sich im Kampf zu ändern. Frauen diskutieren gemeinsam ihre Probleme und kritisieren traditionelle Verhaltensmuster, auch die ihrer linken Genossen.
De Gaulle, der auf dem Weg nach Rumänien zu einem Staatsbesuch ist, instruiert Pompidou. Die Regierung bereitet sich für den 10. Mai auf eine Kraftprobe vor. Die Universitäten sollen geräumt, das Quartier Latin und die (noch vereinzelt) besetzten Fabriken gestürmt werden. Die Nacht vom 10. auf den 11. Mai wird zur Nacht der Barrikaden. In Paris werden (laut amtlichen Angaben) 32 Barrikaden gebaut,188 Autos umgeworfen und zum Abriegeln von 53 wichtigen Straßen verwendet; 460 Personen werden verhaftet, 367 verletzt. Die Polizei verliert 171 Einsatzfahrzeuge, 13 Lastwagen der CRS werden zum Barrikadenbau benutzt. Die Empörung der Bevölkerung gegen die Regierung erreicht ihren Höhepunkt. Unter dem Druck der Arbeiter rufen die Gewerkschaften zum 24stündigen Generalstreik auf.
Tatsächlich sehen viele Belegschaften in der offenkundigen Erschütterung des Regimes des selbstherrlichen Generals jene Bresche, mit der sie endlich, nach Jahren der Niederlagen und ausgehandelten Lösungen, ein Stück vom gesellschaftlich erwirtschafteten Reichtum erlangen können. Vor allem in der Region Paris und in den Industriegebieten im Norden wuchs die Arbeitslosigkeit. Während die Produktivität kontinuierlich stieg, konnten die Arbeiterfamilien keinerlei merkliche Verbesserung ihrer Lebenssituation feststellen. Besonders erbittert die Arbeiter die ständige Anhebung der indirekten Steuern und – im Jahr 1967 – die überfallsartige Anhebung des Selbstbehalts im Gesundheitsbereich auf 30 Prozent. Eine aufwendiger zu behandelnde Krankheit kann für eine komplette Familie plötzlich existenzgefährdend werden.
13 Millionen Arbeiter folgen dem Aufruf zum Streik, der nach Zahlen machtvollste Generalstreik, den Frankreich jemals gesehen hatte. Aber der bürokratisch angeordnete Streik hinkt hinter der explosiven Entwicklung nach. In allen Teilen Frankreichs werden die Fabriken von den Arbeitern besetzt – die ersten sind die Beschäftigten von Sud-Aviation. Die 1.200 Arbeiter in Nantes bringen nicht nur die Fabrik unter ihre Kontrolle, sie schließen den Direktor für zwei Wochen in seinem Büro ein und fordern Lohnzugeständnisse und eine deutliche Arbeitszeitverkürzung. Sud-Aviation macht Schule – einen Tag später folgen die Arbeiter bei Renault Cléon dem Beispiel von Nantes…
Die größte Demonstration seit den Tagen der Volksfront 1935/1936 – 500.000 Menschen – marschiert durch Paris. Zu Beginn des Aufmarsches kommt es zu Schlägereien – die KP-Ordner greifen Jugendliche an, die Bilder Lenins, Trotzkis oder Maos tragen. Aber die Situation ist ungünstig für den stalinistischen Apparat – Leute der eigenen Basis scheren aus, schützen Genossen, die revolutionären Gruppen angehören, werfen sich dazwischen, wenn die KP-Ordner Transparente und Organisationsfahnen zerfetzen wollen. Die revolutionären Losungen werden aufgegriffen: “Zehn Jahre sind genug!”, “Weg mit Pompidou!”, “Arbeitereinheit – Arbeiterregierung – Räte”, “Schafft überall Komitees!”. Dazwischen nur vereinzelt die KP-Sprechchöre: “Wir lassen uns nicht provozieren!”, “Verhandlungen mit den Gewerkschaften!”
Von den Ansätzen der Doppelmacht zur Demobilisierung
Das Verbindungskornitee der Arbeiter, Bauern und Studenten entsteht. Ihm gehören Vertreter der Organisationen der extremen Linken sowie verschiedener Stadtteil- und Fabrikskomitees an. Mitte des Monats organisiert dieses Komitee Lebensmittelkonvois, die einen Teil von Paris zum Selbstkostenpreis mit landwirtschaftlichen Produkten versorgen.
Am 16. Mai wird die größte Autofabrik Frankreichs, Renault-Billancourt, besetzt. Die rote Fahne weht über dem Werk. Die Diskussion bei Renault dreht sich um die Frage der Verteidigung der Fabrik gegen die Polizei. Bei Rhone-Poulenc in Vitry tauschen die Arbeiter ihre Waren direkt mit den Bauern aus und diskutieren über die Fortführung der Produktion unter Arbeiterkontrolle. Ein Streikkomitee in St. Ouen in den Wonder-Werken protestiert gegen den reformistischen Kurs der CGT und läßt die Bürokraten nicht ins Werk. In Rouen nehmen die Arbeiter revolutionäre Jugendliche auf, die von der Polizei verfolgt werden, und verteidigen die Fabrik gegen die anstürmenden Bullen. Das Streikkomitee von Nantes übernimmt die Kontrolle über die Stadt und gibt Passierscheine aus. Kreditbons werden verteilt, die von einigen Geschäftsleuten auch wirklich akzeptiert werden.
Die Situation treibt einer Entscheidung entgegen. De Gaulle bricht seinen Staatsbesuch ab und läßt als erste Maßnahme alle Schulen von der Polizei besetzen. Gleichzeitig veröffentlicht die CGT Aufrufe, in denen sie die Fabriksbesetzungen durch Arbeiter als “Werk der internationalen Verschwörung von politischen Abenteurern” denunziert. Am 18.5. erklärt Waldeck-Rochet, daß die ernste Lage auf eine Regierungsbeteiligung der KP dränge. Am nächsten Tag beginnen CGT und KPF einen Großangriff auf die Losung der Arbeiterselbstverwaltung: Diese sei “eine stupide utopische Formel, die von Phantasten verbreitet wird, die vom Leben der Arbeiter nichts wissen und zynisch der Reaktion in die Hände arbeiten”. Aber die Streikbewegung ist nicht mehr einzudämmen. Als sogar die Totengräber in den Ausstand treten, findet dieses sicherlich denkwürdige Ereignis in einem Grafitto in Paris seinen prägnanten Niederschlag: “Die Leichenbestatter streiken – jetzt ist ein guter Zeitpunkt zum Sterben”. Die wenigen Touristen, die sich noch in der Stadt aufhalten und die klassischen Fremdenverkehrsattraktionen besuchen, erleben am Abend des 20. Mai in den Nachtklubs der Stadt ein rares Schauspiel: Die Stripperinnen ziehen sich auf der Bühne nicht aus, sondern an – sie treten “in den unbefristeten Solidaritätsstreik mit den kämpfenden Genossinnen und Genossen in der Produktion”.
Unter dem Druck der folgenden Demonstrationen kündigt de Gaulle am 24. Mai ein Referendum über die “Erneuerung Frankreichs” an. Die Unternehmer wollen die Verwirrung der CGT ausnutzen und rufen zu Verhandlungen auf. Als die CGT auf dieses Angebot eingehen will, wird ihr Büro von Delegationen aus allen Teilen Frankreichs, vor allem von den Arbeitern von Renault, Citroen, Rhodiaceta und Berliet aufgesucht, die das klare Nein der Arbeiter zu den Verhandlungen zum Ausdruck bringen. Die Sozialdemokraten, die kaum in Erscheinung getreten sind, präsentieren plötzlich den Plan einer Übergangsregierung unter Vorsitz des alten Reformisten Mendes-France. Die CGT stößt am selben Tag ins gleiche Horn, indem sie zum Rücktritt Pompidous und zur Bildung einer Volksregierung aufruft. De Gaulle konferiert pausenlos mit seinen Ministern, mit Generälen und Polizeipräfekten. Aber die Lage ist ihm zu unsicher. Am 29. fliegt er heimlich nach Deutschland und verhandelt mit den dort stationierten Kommandanten der französischen Armee. Sie erklären sich bereit, auf sein Wort hin einzugreifen.
De Gaulle löst das Parlament auf und ruft Neuwahlen aus. Gleichzeitig mobilisiert er die alten Kriegsveteranen, die rechtsradikalen Banden, die chauvinistischen Traditionsvereine zu einer antikommunistischen Demonstration. Aber die 100 000 Rechten bieten nach der linken Demonstration vom 13. Mai, die eine halbe Million Menschen umfaßte, ein ziemlich ärmliches Bild. Nicht zuletzt auch wegen der vielen alten Leute, die gar nicht wissen, worum es geht, nachdem sie de Gaulle geschlossen aus Altersheimen herbeischaffen hat lassen, um seine Demonstration ein wenig aufzumöbeln.
Am 1. Juni formiert sich ein Demonstrationszug von anfangs 40.000 Arbeitern und Studenten. Die Losung ist “Elections – Trahison” (“Wahlen sind Betrug”). Aber die großen Arbeiterorganisationen sind bereit, den Wahlrummel mitzumachen. Sie spekulieren mit der Erschöpfung der Streikenden. Zum letzten Mal flackert das alte Feuer auf, als die CRS am 6. Juni Renault-Flins stürmt. Beim heldenhaften vierstündigen Widerstand – die Polizei muß Werkhalle um Werkhalle einzeln erobern – wird ein maoistischer Student getötet. Noch einmal werden Barrikaden gebaut – 72 in ganz Paris, 100 Polizeiautos werden angezündet – es ist das letzte Gefecht der revolutionär gesinnten Arbeiter und Studenten.
Als de Gaulle am 12. Juni die JCR, die UJC-ML, den 21.März, FER und andere Organisationen der extremen Linken verbietet und ihre Anführer verhaften läßt, schweigt die Masse der Arbeiter. In den Betrieben hämmern die Reformisten den Arbeitern ein: Keine Abenteuer! Die Linksradikalen wollen Euch in den Bürgerkrieg hetzen. Jetzt gibt es Wahlen! Zeigen wir es ihnen mit unseren Stimmzetteln. Die KP und die CGT führen ein gigantisches Wahlspektakel auf. Für den Fall eines Wahlsieges versprechen sie Reformen, die sich die Arbeiter in der Zwischenzeit ohnehin bereits erkämpft hatten. Die Rechte spielt die Karte von Ruhe und Ordnung. Wir oder die Anarchie, lautet ihr Tenor.
Der erste Wahlgang am 23. Juni ergibt ein Verhältnis von 41 % für die Listen der Linken und 44% für die Gaullisten. Viele Arbeiter haben nicht gewählt. Sie bleiben den bürgerlichen Manövern fern. Der zweite Wahlgang am 30. ergibt folgenden Stand (die Zahlen in Klammern sind die Sitze der vorhergehenden Wahlen von 1965): Die Gaullisten erreichen 295 Sitze (197), der Verband der Linken 57 (118), die KPF 34 (73), die PSU keinen Sitz (1965 noch 3).
Der bürgerliche Verwaltungsapparat hatte sich eine Reihe grober Wahlmanipulationen erlaubt: beispielsweise wurden in gewissen Bezirken keine Wählerlisten ausgehängt, so daß es möglich wurde, Jugendliche, die gerade das Wahlalter von 21 Jahren erreicht hatten, an der Stimmabgabe zu hindern. Rund 50.000 junge Menschen, von denen man annahm, daß sie an den Unruhen beteiligt waren, wurden auf diese Weise um das Wahlrecht gebracht.
Die Lehren der Niederlage
Diese Niederlage, die bei vielen Arbeitern zu einer großen Entmutigung führte, scheint kaum glaubhaft, wenn man sie mit den vorhergehenden radikalen Maßnahmen in den Betrieben vergleicht. Sie dokumentiert die Bedeutung des subjektiven Faktors in Gestalt einer in den Massen verankerten revolutionären Partei: Die Niederlage war zum Gutteil das Werk der Führung der KPF, die mit allen Mitteln die Radikalisierung der Arbeiter bekämpfte. Es war ein Musterbeispiel für das Verhalten bürokratischer Führungen in vorrevolutionären Situationen. Durch jahrzehntelange Zusammenarbeit mit der herrschenden Klasse und ihrem Staat verbunden, begriffen die Führungen von KPF und CGT die Mai-Ereignisse als eine Bedrohung des kapitalistischen Systems insgesamt und damit auch ihrer eigenen Positionen.
Umgekehrt gab es aber auch keine ausreichend starke, in den Massen, den schweren Bataillonen der Arbeiterklasse verankerte alternative politische Führung, die im Stande gewesen wäre, die vereinzelten regionalen Aktionen im nationalen Maßstab zu koordinieren und den revolutionären Prozeß gezielt bis hin zur Ablösung des gaullistischen Regimes und darüber hinaus in Richtung einer proletarischen Revolution voranzutreiben. So verfügten die Millionen Streikenden über keine weitreichende politische Perspektive und über kein revolutionäres, sozialistisches Programm. Aber genau diese Perspektive wäre notwendig gewesen, um die schwankenden und verunsicherten Schichten des Kleinbürgertums auf ihre Seite zu ziehen. Überall dort, wo Arbeiter und Studenten ihre Ansätze für eine proletarische Selbstorganisation (kommunale Verwaltung, Versorgung mit Lebensmitteln, Selbstverteidigung…) entwickelten, war es möglich gewesen, auch kleinbürgerliche Elemente in die Kämpfe einzubeziehen. Der Einfluß von JCR, FER und anderen Gruppen blieb in der Arbeiterklasse gering und im wesentlichen auf die Jugend, und hier vor allem die studierende Jugend, beschränkt. Im gesamtnationalen Rahmen aber überwog das Fehlen einer glaubwürdigen sozialistischen Alternative und eines entschlossenen Vorgehens der linken Parteien. Das Zaudern und Lavieren der KP als der mächtigsten Arbeiterpartei mußte förmlich die Kleinbürger dem Ordnungsmacher und starken Mann de Gaulle in die Arme treiben.
Gleichzeitig aber war der französische Imperialismus, und auch das darf hier nicht vergessen werden, stark genug, um durch Zugeständnisse die Kampffront zu spalten und zu schwächen: So wurde der große Generalstreik mit einer allgemeinen Lohnerhöhung um durchschnittlich 12 Prozent beantwortet. Gerade dieser Spielraum ermöglichte CGT und KPF ihre Politik der Demobilisierung und der Abwiegelung, ohne sich vor den breiten Schichten des Proletariats zu diskreditieren.
Der Funke, der in Frankreich entzündet wurde, sprang aber dennoch europaweit über. Die italienischen Studenten folgten dem Beispiel in ihrem Nachbarland, und eine Schicht radikalisierter Industriearbeiter begann – nach dem Vorbild der französischen Betriebskomitees – eigenständige Strukturen in den Betrieben aufzubauen. Sie sollten die Träger des heißen Herbstes 1969 werden, der eine lawinenartige Streikwelle auslöste. Auch im francistischen spanischen Staat hatte der Pariser Mai seine Schatten geworfen. Im Herbst versammelten sich in Madrid und Barcelona Studenten, um gegen das unerträgliche klerikale und bonapartistische Regime des Caudillo zu protestieren. “Hablamos Francés”, “Sprechen wir französisch”, war eine ihrer Losungen. Der alte Maulwurf der Revolution, den Marx beschworen hatte, grub sich seinen Weg bis weit nach Osten. Die kulturrevolutionären Aspekte des Pariser Mai befruchteten z.B. auch die Kampfmethoden der oppositionellen Kräfte in der CSSR, und so manche Losung, die im Frühling in Paris den Prügelpolizisten der CRS entgegengeschleudert worden war, tauchte dann, fast wortgleich, im August in Prag auf.
Das Jahr 1968 war nicht nur in Frankreich ein Jahr der Hoffnungen, des Heroismus, der Kräfteanspannung, der Rebellion der Jugend gegen das Establishment. Es war ein Jahr, auch wenn es für viele der direkt Beteiligten eines der Frustration, der gescheiterten Illusionen und der Opfer war, dessen Nachwirkungen heute noch allgemein spürbar sind.
Von Paul Mazurka, Aus: Revolutionen nach 1945, Marxismus Nr. 13, Wien 1998
Zum Weiterlesen:
Frankreich Mai 1968 – Geschichte und Lehren einer sozialen Explosion