Unsere Broschüre "Nationalismus und nationale Frage" (48 Seiten A5, 2 Euro) von Februar 2007 ist nun auch online verfügbar. Der Text besteht aus vier Teilen: Die Thesen 1-7 beschäftigen sich mit der historischen „Entwicklung der nationalen Frage“. Teil 2 (8-18) skizziert die „marxistische Positionierung in der nationalen Frage“. Die Thesen 19- 28 untersuchen die „Lösungsversuche in der UdSSR“ und Teil 4 (29-43) behandelt die „nationale Frage heute“…
Thesen zur nationalen Frage
I. Die Entwicklung der nationalen Frage
1. Nationalismus ist die wesentlichste ideologische Grundlage des Kapitalismus und der ganzen bürgerlichen Epoche. Zwar sind auch Religion, Philosophie und bürgerliche Wirtschaftstheorie für die kapitalistische Klasse von Nutzen, sie haben aber nicht annähernd die Macht und die Universalität der nationalistischen Ideologie. Eng verbunden mit der emotionalen Sprache der Familie und der Heimat und mit deren "Verteidigung" erzeugt sie in einer Gesellschaft, in der es wenig Solidarität gibt, ein entfremdetes Gemeinschaftsbewusstsein. Kapitalismus ist eine Gesellschaft, in der alle früheren Gemeinschaften, ob nun auf dörflicher, lokaler oder regionaler Ebene, ausgehöhlt oder zerstört worden sind, in der die alte patriarchale Familie verkleinert und geschwächt oder sogar ausgelöscht wurde. Das wird von Nationalist/inn/en zwar oft beklagt, ohne diese Entwicklung würde die Bevölkerung aber die imaginäre Gemeinschaft des Nationalismus gar nicht brauchen beziehungsweise sich nicht nach ihr sehnen. Für diejenigen, die keine kollektiven Klassenorganisationen gebildet haben, rufen die wirtschaftlichen und politischen Krisen und die sozialen Unsicherheiten nach einer vorgestellten Gemeinschaft, der sich das Individuum zugehörig fühlen kann. Und diese Gemeinschaft ist nicht in erster Linie willkürlich, instrumentell oder "künstlich", sondern die zentrale Basis, auf die sich der Staat stützt.
Aus diesem Grund liegt die Macht des Nationalismus auf einer sozialpsychologischen Ebene. Er ist eine Macht, die mit der Religion in der Fähigkeit konkurriert, Millionen Menschen, zumindest für eine gewisse Zeit, oft gegen ihre tatsächlichen persönlichen und Klasseninteressen zu mobilisieren. Er ist eine Macht, die eine zentrale Rolle dabei gespielt hat, dass im 20. Jahrhundert zwei proletarische Internationalen (die sozialdemokratische zweite Internationale, die 1914 vor dem 1. Weltkrieg kapitulierte und die kommunistische 3. Internationale, die ab Mitte der 1920er ihre stalinistische Degeneration vollzog und 1943 von Stalin als Geste an die Westalliierten aufgelöst wurde) hinweggeschwemmt und die bürokratisch degenerierten Arbeiter/innen/staaten (Länder mit bürgerlichen Staatsapparaten bei gleichzeitig nachkapitalistischen Produktionsverhältnissen) unterminiert wurden. Zur gleichen Zeit hat der Nationalismus aber auch Jahrzehnte lang historische Kämpfe gegen imperialistische Herrschaft und Ausbeutung angeregt. Er hat Akte unvorstellbarer Grausamkeit und Unmenschlichkeit aber auch Akte des Mutes und des Widerstandes gegen Unterdrückung hervorgerufen. Die große Bedeutung des Nationalismus ist in seiner Widersprüchlichkeit zu verstehen, ohne gleichzeitig Opfer seiner Mystik zu werden oder die Realität von Nationen überhaupt zu verneinen.
2. Nationalstaaten sind typisch für die kapitalistische Periode, sie stellen ihre Normalität dar. In allen Ländern, in denen der Kapitalismus die Wirtschaft dominierte und in denen die Bourgeoisie zwischen dem 16. und dem 19. Jahrhundert zur herrschenden Klasse wurde, brachte sie Nationalstaaten hervor. Diese Nationalstaaten waren neue Erscheinungen in der Geschichte, auch wenn sie die Bourgeoisie natürlich nicht als solche darstellen konnte. Sie präsentierte sie vielmehr als eine Wiedergeburt von etwas, das bis dahin von Feudalismus und Absolutismus geteilt, angeeignet und verzerrt worden wäre. Aber die ökonomische, soziale, politische und rechtliche Grundlage, auf der diese Staaten geschaffen wurden, war grundsätzlich neu, auch wenn es in manchen Fällen (etwa in Frankreich) möglich war, auf der Arbeit aufzubauen, die vom aufgeklärten Absolutismus begonnen worden war, einem Regime, das teilweise auf die Unterstützung der entstehenden Bourgeoisie angewiesen und zur Erfüllung einiger ihrer Aufgaben gezwungen war. Die Geburt des "modernen" Nationalstaates in Europa im 17. und 18. Jahrhundert bewirkte Schritte zur erstmaligen Herausbildung eines einheitlichen rechtlichen, kulturellen und administrativen Systems. Alle oder zumindest die meisten lokalen und regionalen Eigenheiten, lokalen Dialekte, Gesetze etc. wurden verdrängt oder unterdrückt. Kleinstaaten und autonome Provinzen mit verschiedenen Normen, Gesetzen, Regierungen und Zöllen wurden zu einem Hemmschuh der wirtschaftlichen Entwicklung und mussten in eine Nation zusammengedrängt werden. Das Ziel der Kapitalist/innen/klasse war die Schaffung eines einheitlichen nationalen Marktes. Das erforderte nicht nur eine einheitliche Währung, einheitliche Maßeinheiten, ein gemeinsames Rechtssystem, die Abschaffung von Teilen der Privilegien von "parasitären" Klassen oder Kasten wie dem Adel oder dem Klerus, sondern unter anderem auch eine standardisierte Nationalsprache.
3. In diesem Zusammenhang war es notwendig, entweder die Rolle des Monarchen in eine kümmerliche Repräsentationsfigur umzuwandeln oder die Monarchie überhaupt abzuschaffen und durch eine Republik zu ersetzen. Denn eine von der Bourgeoisie (und dem mit ihr verbündeten Kleinbürgertum) dominierte parlamentarische Versammlung musste die Regierung ernennen und den Staatsapparat kontrollieren. Anders als Monarchen und Adelige konnte diese aufsteigende Klasse von Handelsherren, von Rechtsgelehrten und Fabrikanten aber nicht beanspruchen, ihre Macht von uralter Tradition, von königlicher Abstammung oder gleich von Gott abzuleiten. Nachdem es offensichtlich war, dass sie ihre Macht durch Revolutionen oder Bewegungen erlangt hatten, die von den unteren und ausgebeuteten Klassen durchgeführt worden waren, mussten sie das in irgend einer Weise berücksichtigen und behaupten, dass alle politische Macht vom Volk ausgehe, das heißt von der Nation, von der sie nun der führende und repräsentative Teil waren. Der Staat musste folglich – so die nationale Inszenierung – die Souveränität der Nation ausdrücken. Im Umkehrschluss mussten alle Staatsbürger/innen Patriot/inn/en sein.
In der Folge wird Staatsbürger/innen/schaft mehr oder weniger mit der Zugehörigkeit zur nationalen Gemeinschaft gleichgesetzt, also mit dem Sprechen der Nationalsprache, dem Teilhaben an der bestimmenden nationalen Kultur, dem so genannten "Nationalcharakter" etc. Diese Gemeinschaft wurde von bürgerlichen Ideolog/inn/en auf zwei verschiedene Arten definiert, obwohl pragmatische Verknüpfungen von beiden häufig vorkamen. Der erste, der organische Pol, betonte die Geburt in eine nationale Gemeinschaft auf ihrem historischen Territorium, der andere, der rationale Pol, behandelte die Nation als einen Sozialvertrag, von dem die Staatsbürger im Austausch für patriotische Hingabe Freiheit erhalten. Die deutschen Nationalist/inn/en (etwa Johann Gottfried von Herder oder Johann Gottlieb Fichte) wählten im Allgemeinen die "Blut-und-Boden"-Herangehensweise, die französischen (etwa die Jakobiner/innen) waren der Ansicht, dass die Nation ein tägliches Plebiszit sei und dass die Völker ohne Freiheit kein Vaterland hätten.
Für die klassischen deutschen Nationalist/inn/en war das Territorium der Nation selbst ein Teil ihrer physischen Identität. Nationen könnten genauso wenig von einem Gebiet in ein anderes verschoben werden wie Personen von einem Köper in einen anderen. Die Nation wird nicht als soziale Einheit gesehen, sondern als Organismus wie eine Pflanze, ein Tier oder ein Mensch. Dieser irrationale Ansatz besteht auf der Heiligkeit des Heimatlandes, seiner Unveräußerlichkeit etc. In viele spätere nationalistische Ideologien hat diese romantische Metaphysik Eingang gefunden, sie ist die Grundlage für die Beanspruchung und Wiedereroberung von "verlorenen" nationalen Gebieten, die für Jahrhunderte – oder gar Jahrtausende – von anderen Völkern bewohnt werden (z.B. der serbische Anspruch auf den Kosovo/a, der kroatische Anspruch auf die Krajina/Knin, die zionistischen Ansprüche auf Palästina etc.).
4. Offensichtlich beanspruchen viele Nationen eine Langlebigkeit, die weit über die Zeit der bürgerlichen Revolutionen zurückgeht – im Falle Englands zurück bis zu den Angelsachsen oder zumindest bis zu Alfred dem Großen, im Falle Deutschlands sogar bis zu den Teutonen und Hermann, dem Cherusker. Frankreich leitet die nationalen Wurzeln von den Franken, von Chlodwig, von Karl dem Großen etc. ab. Und die erst im 20. Jahrhundert zusammen gebastelte österreichische Nation konstruiert ihren Ursprung bis zurück zu den Babenbergern. Mit diesen Ansprüchen geht die Wiederentdeckung von Heldendichtung dieser und früherer Perioden einher. Manchmal spielen religiöse Ideologie und Geschichte eine Rolle. Meist sind diese halb-mythischen, halb-historischen Ursprünge mit dem Auftreten der ersten Form der späteren Nationalsprache verbunden (z.B. dem Altenglischen). Diese Legenden waren aber nicht eigentlich nationale Mythen, sondern tribale (stammesbezogene), religiöse und dynastische Mythen, Geschichten der Herrscherhäuser des frühen Mittelalters etc. Erst in der Zeit etwa vom 16. bis zum 19. Jahrhunden wurden diese uralten Mythen verschiedener Herkunft in nationale Mythen umgeformt. In erst vor kurzer Zeit, im 20. Jahrhundert, gebildeten Nationen (in peripheren Gebieten oder eben in Österreich) gab es einen ähnlichen Prozess, allerdings über einen weit kürzeren Zeitraum, was die "Künstlichkeit" dieses Prozesses viel sichtbarer macht. Die Herausbildung der nationalen Mythen war da und dort die Aufgabe von Literat/inn/en und bürgerlichen Historiker/inne/n.
Die Existenz von "antiken Nationen" in der entfernten Vergangenheit (antike Ägypter/innen, Assyrer/innen, Griech/inn/en, Römer/innen, Chines/inn/en, Aztek/inn/en, Inkas etc.) sind kein Beweis für die Ewigkeit von Nationen. Im Altertum waren die staatlichen Einheiten entweder Stadtstaaten, Konföderationen oder Königreiche. Syrien, Ägypten, Afrika oder Italien waren in Wirklichkeit geographische Ausdrücke. Die Bewohner/innen dieser Regionen verband keine gemeinsame kulturelle, sprachliche oder politische Identität. Bürgerliche Historiker/innen grübeln oft über die schwache nationale Identität z.B. der antiken Griech/inn/en. Andere behandeln das Römische Reich als Tyrannei einer Nation über andere und sind verwundert über die "Kollaboration" der herrschenden Klassen von letzteren oder über die Assimilierung der Massen. Diese anachronistischen Erwartungen gehen von einer Gleichförmigkeit mit dem bürgerlichen Modell des Nationalstaates aus.
Dennoch waren das Wort und das Konzept "Nation" in der vorkapitalistischen Epoche nicht völlig unbekannt. Im feudalen Zeitalter entstanden in West- und Mitteleuropa Monarchien aus der Fusion von Stammesverbänden mit den Resten der spätrömischen Verwaltung, die besonders durch die Kirche verkörpert wurden. Diese ermöglichten eine grobe geographische Ortung, die mit Sprachgruppen identifiziert wurde. Im Hochmittelalter wurden diese zu Schriftsprachen, die von der Aristokratie und dem städtischen Bürgertum benutzt wurden. Die frühe feudale Staatsbildung schuf teilweise Vorläufer für moderne Nationen der bürgerlichen Epoche (die Königreiche England und Frankreich), teilweise Staaten, die zerstört oder durch dynastische Vereinigungen und Teilungen ausgelöscht wurden (Burgund, Provence, Aragon, Navarra etc.). Andere waren feudal zu sehr zersplittert, um auch nur eine sehr lose konföderale Existenz zu behalten (das so genannte "Heilige Römische Reich Deutscher Nation"). Keiner dieser Staaten entsprach einer modernen Nation. Darüber hinaus hatten die riesigen bäuerlichen Mehrheiten dieser Staaten kein ernstzunehmende "Nationalbewusstsein". Und sicherlich hätten weder sie noch ihre Herrscher/innen angenommen, dass der Staat, in dem sie lebten, ein politischer Ausdruck der Nation sei. Sie waren höchstens Völker oder ethnische Gruppen. Diese frühe Periode war aber oft das Rohmaterial, aus dem die nationalistischen Mythenbildner/innen ihre "tausendjährigen" nationalen Identitäten herausarbeiteten.
5. Aber Nationen sind nicht ewig – sie sind mit dem Entstehen der bürgerlichen Klasse entstanden und werden auch keine endlose Geschichte in der Zukunft haben. Dem widerspricht auch nicht die Vervielfachung der Anzahl der Nationalstaaten im 20. Jahrhundert oder von Staaten, die beanspruchen, Nationalstaaten zu sein. Sie sind kein Beweis für eine angebliche Ewigkeit von Nationen. Aber es handelt sich im 20. Jahrhundert nicht so sehr um die einfache Fortsetzung der Nationsbildung nach europäischem Modell (Frankreich, Italien oder Deutschland). Vielmehr wird eine der mächtigsten bürgerlich-demokratischen Forderungen, die nach nationaler Unabhängigkeit und Freiheit, benutzt, um gegen Ungleichheit und Unterdrückung zu kämpfen, die in der imperialistischen Epoche weit verbreitet sind. Manchmal werden freilich auch nationale Mythen verwendet, um Privilegien zu beanspruchen, andere auszubeuten und zu unterdrücken. Die relative Instabilität von vielen dieser Nationen, ihre Anfälligkeit für subnationale Ansprüche durch die sie konstituierenden Regionen und ihre Gebietsstreitigkeiten mit anderen Nationen geben in Wirklichkeit ausreichend Grund für die Annahme, dass eine lange und stabile Epoche des Bestehens von Nationalstaaten genauso unwahrscheinlich ist wie die Ewigkeit des Kapitalismus.
Es wäre also falsch, die Existenz der Nationalstaaten und des Nationalismus als überhistorisch in der Geschichte unendlich weit zurückzuverlagern beziehungsweise in die künftige Gesellschaft weiter zu verlängern. Aber auch die entgegen gesetzte Position ist fehlerhaft: Denn auch die "Globalisierung", die im Grunde nichts anderes darstellt als eine stärkere Akzentuierung jener Tendenzen, die seit der Periode des klassischen Imperialismus bereits zu beobachten waren, hat weder der Überlebensfähigkeit des Nationalstaats noch der nationalen Ideologie im Kapitalismus ein Ende bereitet. Nach wie vor bleibt die Basis des Nationalismus einerseits das Weiterbestehen des Kapitalismus und das Klasseninteresse der Bourgeoisie, einen eigenen Nationalstaat aufzubauen und diesen zu führen, und andererseits die Ungelöstheit der nationalen Frage in gar nicht so wenigen Teilen der Welt
6. Die viel beschworene "Globalisierung" hat den objektiven Funktionen der Nationalstaaten kein Ende bereiten können. Nationalstaaten sind nach wie vor der Boden, auf dem sich das Kapital betätigt, nach wie vor benötigt das Kapital den Nationalstaat, um seine Interessen auf ökonomischer, militärischer und rechtlicher, aber auch auf kultureller und ideologischer Ebene umzusetzen. Gleichzeitig aber ist die Zeit seit dem 18. und 19. Jahrhundert nicht stehen geblieben. Die Bourgeoisie dieser Zeiten war auf die Überwindung der inneren Grenzen und der Herstellung eines nationalen Marktes angewiesen. Nur so konnte sich eine kapitalistische Produktion auf großer Stufenleiter, die einen dementsprechenden Absatzmarkt zur Voraussetzung hatte, herausbilden. Aber diese Tendenz zur Harmonisierung von Maßen und Gewichten, zur Aufhebung innerer Grenzen, zur Überwindung innerer Hemmnisse für die Kommunikation ist nicht bei den Grenzen des Nationalstaates zum Stillstand gekommen. Große Konzerne sind heute weltweit tätig und benötigen eine möglichst weit gehende internationale Vernetzung und Verflechtung, einen möglichst ungehinderten Zugang zu internationalen Märkten und eine möglichst weit gehende Harmonisierung von gesetzlichen Grundlagen und Normen der Produktion und des Austausches.
Ein Ausdruck davon ist die Herausbildung der Europäischen Union. Sie hat zwar das Potenzial in sich, die europäischen Nationalstaaten in einen supranationalen europäischen Bundesstaat überzuführen und aufzulösen, aber trotzdem steht diese Entwicklung erst am Anfang, und es ist mehr als unsicher, ob diese Möglichkeit sich auch realisieren lassen wird. Nur dann, wenn es gelänge, ein die Grenzen sprengendes gesamt-europäisches Großkapital herauszubilden, das sich nicht mehr auf einzelne Nationalstaaten stützt und der Gesellschaft seine Interessen aufzwingen kann, wäre eine stabile Basis für einen bürgerlichen europäischen Bundesstaat gegeben. Genau dies ist aber noch gar nicht abzusehen, denn die "transnationalen" europäischen Konzerne haben in aller Regel immer noch einen europäischen Nationalstaat (oder ein Bündnis einiger Nationalstaaten wie im Falle von Airbus) als Basis, bilden also nicht die Basis einer Überwindung der einzelnen Nationalstaaten und ihrer Auflösung in einen supranationalen bürgerlichen Staat. Die ideologischen Schwierigkeiten, eine "europäische Identifikation" bei den Bürger/inne/n der Mitgliedsstaaten hervorzurufen, sind nur die Widerspiegelung dieser ökonomischen Tatsachen. Aber auch auf der zweiten Ebene ist das Weiterbestehen nationaler Ideologien nur folgerichtig: Denn auch heute noch ist die nationale Frage in vielen Teilen der Welt ungelöst, ist die Herausbildung von Nationalstaaten nicht abgeschlossen, ob es sich nun um die Palästinenser/innen, Kurd/inn/en oder andere Nationen handelt, denen nach wie vor ein eigener (National-) Staat oder denen der Zusammenschluss in einem geeinten Nationalstaat verweigert wird. Auch heute gilt also noch immer, dass die Tendenz zur Gründung eigener Nationalstaaten mit der gegenläufigen Tendenz, diese in supranationale Gebilde aufzulösen, einher gehen wird, dass also auch in Hinkunft viel eher mit der Herausbildung neuer Nationalstaaten als mit deren Auflösung in einen supranationalen Staat gerechnet werden muss.
7. Die nationalistische Ideologie hat also ihre Resistenz gegen moderne Entwicklungen bewiesen. Gleichzeitig aber ist Nationalismus nach wie vor, ja heute in einer vernetzten Welt noch viel mehr, eine reaktionäre Ideologie, mit der eine vorgebliche Einheit von Aubeuter/inne/n und Ausgebeuteten, von Bourgeoisie und Proletariat als den beiden Hauptklassen der kapitalistischen Gesellschaft, vorgegaukelt wird. Nationalismus möchte an Stelle des Klassengegensatzes eine andere Front stabilisieren – die der Angehörigen der einen gegen die einer anderen Nation. Aber auch wenn der Nationalismus eine reaktionäre Ideologie ist, baut er doch im Unterschied zum Glauben an ein höheres Wesen auf der Existenz nicht nur phantasierter, sondern realer Gebilde auf, den wirklich existierenden Nationen.
Es ist das Verdienst einer Reihe von marxistischen Theoretiker/inne/n, nicht nur die Basis einer wissenschaftlichen Analyse dieses Phänomens Nation gelegt, sondern auch Strategien und Taktiken zum Umgang mit dem Nationalismus entwickelt zu haben.
II. Die marxistische Positionierung in der nationalen Frage
8. Von Marx und Engels liegt keine besondere, speziell der nationalen Frage gewidmete Arbeit vor. Es fehlt auch eine abschließende Definition von Nationen. Aber Marx und Engels haben mehr als lediglich einige nicht zusammenhängende "Ansichten" zur nationalen Frage formuliert: Sie analysierten Nationen als Produkte der historischen Entwicklung und sahen, dass Begriffe wie Nation nicht auf alle historischen Epochen seit Alexander dem Großen oder dem Römischen Imperium angewandt werden konnten. Konkret waren Nationen für sie Produkte des aufsteigenden Kapitalismus, die Trägerin des nationalen Gedankens die Bourgeoisie, die mit Hilfe nationalistischer Ideologien ihr Ziel, die Herstellung eines einheitlichen nationalen Marktes – einer Voraussetzung für die Entwicklung der Produktivkräfte -, erreichen wollte.
Genau diese historisch materialistische Herangehensweise auch an die nationale Frage ist der große methodische Vorteil von Marx und Engels gegenüber ihren Zeitgenoss/inn/en. Denn ihre Methode befähigte sie, hinter dem Mythischen, Irrationalen und scheinbar Zeitlosen nationaler Ideologien den historischen Kern und die dahinter stehenden Klasseninteressen zu analysieren, aber z.B. auch die Tendenzen zu erkennen, die über den Nationalstaat hinauswiesen und zu ihrer Zeit erst in Ansätzen vorhanden waren. So finden wir im Kommunistischen Manifest bereits die Vorwegnahme der Internationalisierung des Kapitals: Die Bourgeoisie habe durch ihre Ausbeutung des Weltmarkts die Produktion und Konsumtion aller Länder kosmopolitisch gestaltet. Sie habe zum großen Bedauern der Reaktionäre der Industrie den nationalen Boden unter den Füßen weggezogen. Die uralten nationalen Industrien würden täglich mehr vernichtet. Sie würden verdrängt durch neue Industrien, deren Einführung eine Lebensfrage für alle zivilisierten Nationen werde und deren Fabrikate nicht nur im Lande selbst, sondern in allen Weltteilen zugleich verbraucht würden.
Für Marx und Engels war diese Internationalisierung der Produktion – diese Sprengung der Ketten des Nationalstaates, der sich zu einer Fessel der Produktionsweise entwickelt, – letztendlich die materielle Basis für die Überwindung der nationalen Abgeschlossenheit und für ein Aufbrechen der nationalen Absonderungen. Die Bourgeoisie riss durch die rasche Verbesserung aller Produktionsinstrumente, durch die unendlich erleichterten Kommunikationen alle, auch die rückständigsten Nationen, in den Dunstkreis der modernen Zivilisation. Die wohlfeilen Preise ihrer Waren seien, wie es Marx und Engels ausdrückten, "die schwere Artillerie", mit der sie alle chinesischen Mauern in den Grund schieße, mit der die Bourgeoisie selbst den "hartnäckigsten Fremdenhass der Barbaren" zur Kapitulation zwinge. Alle Nationen werden gezwungen, sich die Produktionsweise der Bourgeoisie anzueignen, wenn sie nicht zugrunde gehen wollen. Mit einem Wort, die Bourgeoisie habe sich eine Welt nach ihrem eigenen Bilde geschaffen.
Mit der Festigung des Weltmarktes werde aber, so Marx und Engels, eine Tendenz zur Verkleinerung und zum schließlichen Verschwinden der nationalen Eigenheiten stärker. Damit bereite aber die Bourgeoisie unweigerlich auch dem Proletariat den Boden, das als wirklich internationale Klasse die Mission der Überwindung der nationalstaatlichen Besonderheiten zu Ende führen und den Aufbau einer Weltkultur in Angriff nehmen wird können.
9. In einem methodisch allgemeineren Sinne legten Marx und Engels durch ihre historisch-materialistische Methode ein Verständnis dafür an den Tag, dass Nationen (nicht nur als Nationalstaaten, sondern auch als ethnische Gemeinschaften) eine Geschichte haben und im Laufe der historischen Entwicklung auch wieder absterben müssen. Marx und Engels gaben nirgends eine Prognose über den von ihnen erwarteten Zeitraum, aber es liegt nahe, dass mit dem Verschwinden der nationalstaatlichen Absonderungen und Gegensätze, mit der Herstellung eines Weltmarktes, mit der immer leichteren Kommunikation und der immer stärkeren Gleichförmigkeit der Lebensverhältnisse letztendlich auch die Bedingungen für eine Überwindung der nationalen, ethnischen Gegensätze heranreifen. Aus den vielen nationalen und lokalen Kulturen wird sich über Generationen hinweg eine Weltkultur bilden.
Aber in der konkreten Analyse der nationalen Frage blieben Marx und noch stärker Engels in ihren Schriften zur nationalen Frage den ungelösten Widersprüchen der Revolution von 1848 verhaftet – jenen Widersprüchen, die sie niemals vollständig theoretisch in den Griff bekommen konnten. In den Arbeiten zu Irland hatten Marx und Engels die Position des Selbstbestimmungsrechts der Nationen entwickelt. Allerdings gelang ihnen eine Verallgemeinerung dieser in der irischen Frage entwickelten Methode nicht: erst damit wäre eine Überwindung jener Positionen möglich gewesen, die Marx und Engels zur Ablehnung des Selbstbestimmungsrechts kleinerer, nicht "historischer Nationen" und Kolonialvölker geführt hatte.
10. Gerade in den Schriften zur nationalen Frage konkretisierte sich das nicht vollständig überwundene Hegelsche Erbe u.a. in der Theorie der geschichtslosen Völker. Marx und Engels kamen in der Analyse der Revolution von 1848 zum Schluss, dass im russischen Zarismus der Hauptfeind aller demokratischen und revolutionären Bestrebungen gesehen werden müsse. Außerdem führe die kapitalistische Entwicklung unweigerlich zur Bildung großer national homogener Staaten, in denen die nationalen Minderheiten in der Mehrheit aufgehen würden. Völkergruppen wie die schottischen Gäl/inn/en, die Bask/inn/en, Katalan/inn/en, Breton/inn/en, und in Osteuropa die Rumän/inn/en oder die slawischen Völker (mit Ausnahme der Russ/inn/en und der traditionell zarismusfeindlichen Pol/inn/en), also die Tschech/inn/en, Slowak/inn/en und die meisten Südslaw/inn/en etc., seien "von der Geschichte dazu verdammt", zu verschwinden.
Diese "Völkerabfälle" und "Völkerruinen" hätten dabei versagt, in den vergangenen Jahrhunderten unabhängige Staaten zu formen, wären also "geschichtslose Völker" und würden von den größeren Nationen aufgesogen und in ihrem Kampfe gegen die unvermeidlichen Einflüsse der modernen Nationen an die Seite der Reaktion gedrängt werden, also eine unvermeidlich reaktionäre Rolle in der Geschichte spielen.
Diese Konzeption, die von Marx und Engels Zeit ihres Lebens niemals wirklich überwunden wurde, ist einem Nichtverstehen der verspäteten Nationsbildung vor allem in Osteuropa geschuldet. Um 1848 war bei der Mehrheit der als geschichtslos bezeichneten Völker der Prozess der Nationswerdung gerade erst angelaufen oder zumindest noch in einem sehr frühen Stadium. Aber in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts konnten sich die nationalen Bewegungen in vielen dieser "geschichtslosen" Völker immer breiter verankern und stießen dabei auf den erbitterten Widerstand der bereits früher konstituierten Nationen. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatten sich immer mehr slawische Nationen endgültig konstituiert, schlugen also den umgekehrten Weg ein als den von Engels prognostizierten – der ihnen den endgültigen Untergang prognostiziert hatte. Abgesehen von der falschen historischen Prognose konnten sich hinter Theorien der angeblichen Geschichtslosigkeit mancher Völker chauvinistische Gedanken von der natürlichen Überlegenheit der einen und der Unterlegenheit anderer Völker breit machen. Diese Theorie blieb dem Gedanken eines vorgegebenen und nicht veränderlichen Nationalcharakters verbunden, der ersteren einen revolutionären, der zweiten Gruppe einen reaktionären Charakter zuschrieb.
So blieb bei Marx und Engels die Überzeugung von der Notwendigkeit des internationalen proletarischen Zusammenschlusses mit einem Konzept verbunden, das die Rechtlosigkeit ganzer Gruppen von Völkern postulierte und nicht bereit war, einen eigenständigen Beitrag der Mehrheit der slawischen Völker zur europäischen Revolution anzuerkennen. Es erschien daher auch nur konsequent, dass von Marx und Engels das Selbstbestimmungsrecht dieser verspäteten und "reaktionären" Völkerschaften niemals anerkannt wurde. Der Schritt vorwärts zu einem vollständig ausgereiften revolutionären Nationalitätenprogramm sollte erst die Folge einer langen Diskussion in der Zweiten Internationale, ja letztlich erst das Ergebnis eines jahrelangen Kampfes innerhalb der Linken der Vorkriegssozialdemokratie sein und zur Nationalitätenpolitik der Bolschewiki unmittelbar nach der russischen Revolution hinführen.
11. Der sozialdemokratischen Arbeiter/innen/bewegung vor dem Ersten Weltkrieg gelang die Ausarbeitung einer einheitlichen, theoretisch abgesicherten Position in der nationalen Frage nicht. Die wesentlichen Protagonist/inn/en dieser Diskussion waren neben Karl Kautsky die Austromarxist/inn/en, Rosa Luxemburg und bei den Bolschewiki Lenin und Stalin.
Kautsky verstand als Nation ein wirtschaftlich-sprachlich-territoriales Gebilde. In seinem etwas schematisch-normativen Verständnis betonte er besonders die Rolle der Sprache. Er betrachtete eine gemeinsame Landessprache als das unabdingbare Instrument für ein Volk, um gemeinsame soziale, ökonomische und kulturelle Beziehungen zu stabilisieren, und als das grundlegende Werkzeug für die Vereinigung aller Klassen zur Nation. Sprachen erschienen daher auch als eine Art Barometer für die Entwicklungsstufe der Produktivkräfte. Sie seien Kommunikationsmittel für Märkte, für ihre Verwaltung, ihren Schutz und ihre Regulierung durch den Staat und spielten eine wesentliche vermittelnde Rolle bei der Festlegung der Grenzen der Nationalstaaten. Kautsky analysierte die Vergangenheit als eine Reihe von sprachlichen Konsolidierungsprozessen, in denen Dialekte und sogar zuvor bestehende Sprachen vermischt und verschmolzen worden wären. Das wäre ein Prozess, der mit der Formierung der gegenwärtig existierenden Nationen nicht beendet sei. In dem Ausmaß, in dem sich die internationale Kommunikation ausweite, würde ein Medium dafür notwendig, eine Weltsprache. Allerdings war diese Betrachtung, die zweifellos eine tatsächliche Tendenz ausdrückte, mit einer deterministischen Hoffnung auf einen (automatisch ablaufenden) fortschrittlichen historischen Prozess verbunden. Gegentendenzen, die schließlich zum Ersten Weltkrieg führten und zur nationalistischen Verhetzung auch von Millionen Arbeiter/inne/n, wurden ausgeblendet.
Kautsky begann sich aber vorsichtig von der Theorie der geschichtslosen Völker abzusetzen. Er entwickelte die Basis eines marxistischen Verständnisses, wonach die Rolle von bestimmten Völkern in bestimmten Perioden von ihrer ökonomischen und Klassenstruktur abhängt, und nicht von einem vorgegebenen Nationalcharakter. Von besonderer Bedeutung wurde die nationale Frage vor dem Ersten Weltkrieg in zwei multi-ethnischen Reichen – der österreichisch-ungarischen Monarchie und dem Russischen Reich, sie waren auch die Brennpunkte der Versuche von Marxist/inn/en, sie zu analysieren und programmatische Antworten zu finden.
12. Die Frühphase der österreichischen Arbeiter/innen/bewegung in den späten 1860er und frühen 1870er Jahren war geprägt von einem instinktiven Kosmopolitismus, der aber mit der Tendenz verbunden war, die nationale Unterdrückung nicht als reales Problem zur Kenntnis zu nehmen. In den letzten Jahren vor 1900 zwangen die zunehmenden nationalen Spannungen aber zu einer Präzisierung des Nationalitätenprogramms, das sich im Hainfelder Programm (1888/1889) auf eine unverbindliche Deklaration gegen nationale Vorrechte und Vorurteile und gegen erzwungene Assimilation beschränkt hatte. Mit dem Statut von 1897 wurde die Sozialdemokratische Arbeiterpartei (SDAP) in eine Föderation nationaler Parteien umgewandelt.
Am Parteitag in Brno/Brünn (1899) standen sich zwei Resolutionen zur nationalen Frage gegenüber, eine von der Gesamtexekutive vorgelegte, die sich schließlich durchsetzte und ins Brünner Programm Eingang fand, vom Territorialprinzip ausging und die Umwandlung Österreichs in "autonome nationale Selbstverwaltungsgebiete, die sich möglichst den Sprachgrenzen anpassen" sollten, vorsah. Eine zweite wurde von der Exekutive der südslawischen (slowenischen) Partei vorgelegt und verstand Nation als rein sprachlich-kulturelle Angelegenheit. Gefordert wurde das Personalitätsprinzip, wonach alle Mitglieder eines Volkes, egal in welchem Gebiet sie lebten, eine autonome Gruppe bilden sollten, die ihre nationalen Angelegenheit selbst regeln sollte.
Das Brünner Nationalitätenprogramm entwarf eine föderale, territoriale Lösung für einen kapitalistischen Staat und orientierte sich auf eine "Aussöhnung der Arbeiterschaft mit der Reichsidee". Das Programm der Aufrechterhaltung des territorialen Rahmens von Österreich-Ungarn lief auf eine Unterstützung der Privilegien der deutschösterreichischen (und ungarischen) herrschenden Kreise hinaus. Der Austromarxismus geriet in seinem doppelten Opportunismus sowohl gegenüber dem habsburgischen Staat als auch gegenüber nationalistischen Tendenzen immer mehr in eine Interessensparallelität mit den dynastischen Kreisen, womit die SDAP neben dem Herrscherhaus der einzige übernationale Machtfaktor im Vielvölkerstaat wurde.
Von Karl Renner wurde als Lösung der schwelenden nationalen Probleme eine Ausweitung des Personalitätsprinzip in der Monarchie vorgeschlagen. Er verstand Nation als ahistorische Kategorie, als einen Personenverband, einen Zusammenhang von Personen gleichen Denkens und gleicher Sprache, als "geschichtlich gewordene Sprach- und Kulturgemeinschaft", als "eine Gemeinschaft Kraft der Natur und Geschichte", die nicht an Territorien gebunden sei. Mit diesem Vorschlag der national-kulturellen Autonomie nach dem Personalitätsprinzip trennte Renner die Nation von ihrer ökonomischen und politischen Grundlage und stellte sich damit in direkten Gegensatz zum Marxschen Verständnis über den Zusammenhang von kapitalistischer Entwicklung und Nationsbildung. Renner arbeitete in seinen Schriften zur nationalen Frage überhaupt keinen spezifischen Klassenstandpunkt des Proletariats heraus und stellte keinerlei Verbindung mit der Machteroberung der Arbeiter/innen/klasse und einer sozialistischen Perspektive her. Er stellte sich damit außerhalb des politischen und theoretischen marxistischen Verständnisses.
13. In seinem Hauptwerk Die Nationalitätenfrage und die Sozialdemokratie formulierte Otto Bauer seine bekannte Definition: "Die Nation ist die Gesamtheit der durch Schicksalsgemeinschaft zu einer Charaktergemeinschaft verknüpften Menschen." Diese Definition stellte die Fragen von antagonistischen Klassen, der Ökonomie, der Sprache und des Territoriums zurück. Gleichzeitig erhob sie psychologische und kulturelle Gemeinsamkeiten in den ersten Rang. In Bauers Konzeption ist der Begriff des "Nationalcharakters" von besonderer Bedeutung. Das seien die charakteristischen Merkmale, die durch eine gemeinsame Geschichte über eine lange Periode geschaffen worden wären und die jedes Individuum einer Nation spontan die gemeinsame Identität erkennen ließe, die es mit seinen Landsleuten teile und die es ebenso von den Angehörigen anderer Nationen oder Völker trenne.
Auch wenn sich Otto Bauer in Opposition zu reaktionären nationalen Mythen von der "ewigen" Nation stellte, bekam die Nation bei ihm einen erheblichen überhistorischen Aspekt. Und Bauers Verständnis einer tendenziell klassenunspezifischen nationalen Kultur führte dazu, die nationale Frage zu entpolitisieren und das politische Problem des Selbstbestimmungsrechtes der Nationen zu ignorieren.
Bauer argumentierte, dass das Ideal des modernen Kapitalismus immer weniger der Nationalstaat sei, sondern eine Form des Nationalitätenstaates. Aus innen- wie außenpolitischen Gründen müssten alle wesentlichen Klassen ein Interesse an der nationalen Autonomie in Österreich haben, die daher notwendig das Programm aller Nationen, Klassen, Parteien sein müsste, die an Österreichs Bestand ein Interesse hätten. Aus der Verknüpfung mit dem Klassenkampf gelöst, würde die nationale Problematik also durch ein Bündnis aller Klassen gelöst werden. Das letztlich durch und durch reformistische Konzept, mit dem Bauer darauf orientierte, die herrschenden Klassen in die Einsicht ihrer eigenen Interessen zu bringen, wurde bekanntlich nicht durchgesetzt, die Donaumonarchie scheiterte an ihren inneren Widersprüchen, nicht zuletzt in der nationalen Frage.
14. Im Unterschied zu Renner und Bauer versuchte die radikale Linke sehr wohl, die nationale Frage in den Gesamtkontext einer revolutionären Perspektive einzuordnen. Innerhalb der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei vor dem Ersten Weltkrieg war Josef Strasser der schärfste und bekannteste Kritiker des austromarxistischen Reformismus in der nationalen Frage. Strasser sah im Nationalismus eine Ideologie, die wie die Religion von der herrschenden Klasse dazu benutzt wird, die Arbeiter/innen gegeneinander auszuspielen. Strasser forderte in und von der bürgerlichen Gesellschaft das Recht auf nationale Autonomie, was für ihn "das Recht der nationalen Selbstbestimmung" bedeutete.
Anton Pannekoek, ein enger Mitstreiter Strassers gegen den austromarxistischen Opportunismus in der nationalen Frage, stellte dem Bauerschen Konzept der Schicksalsgemeinschaft entgegen, dass es mit der Entwicklung des Kapitalismus zwischen Bourgeoisie und Proletariat der selben Nation immer mehr zu einer "Schicksalsverschiedenheit" komme. Sobald das Proletariat seinem Kampf eine antikapitalistische Perspektive gebe, sei die nationale Charaktergemeinschaft völlig erloschen.
Allerdings entwickelte Pannekoek kein Instrumentarium, um den Nationalismus im Proletariat selbst adäquat bekämpfen zu können. Er ging von der Einschätzung aus, dass das Proletariat – anders als das Kleinbürgertum – für nationalistische Propaganda nicht empfänglich sei. Deshalb hatte er auch kein Verständnis für die Forderungen nach dem Selbstbestimmungsrecht des Proletariats und wies das Recht auf staatliche Lostrennung explizit zurück. Wie Strasser sah er zurecht den Nationalismus als reaktionäre Ideologie an, aber er machte keine echte Unterscheidung zwischen unterdrückenden und unterdrückten Nationen und deren Nationalismen.
15. In eine ähnliche Richtung wie Strasser und Pannekoek, aber mit größerem Gewicht in der internationalen Sozialdemokratie vor dem Ersten Weltkrieg argumentierte Rosa Luxemburg in der nationalen Frage. Luxemburgs Ausgangspunkt war das Verhältnis Polens zum russischen Zarismus. Sie argumentierte, dass Polen wirtschaftlich weitgehend in das zaristische Reich integriert sei. Durch die Interessenssolidarität zwischen dem russischen und polnischen Kapitalismus sei die Unabhängigkeit Polens, der alte Traum des polnischen Adels, zu einem Anachronismus geworden und daher abzulehnen. Der polnische Nationalismus war für sie nur noch der ideologische Ausdruck der Unzufriedenheit derjenigen Schicht in Polen, welche vom kapitalistischen Prozess vernichtet wird – des untergehenden Teils des Kleinbürgertums. Die großstaatliche Entwicklung und erst recht der Imperialismus verurteilten all die kleinen Nationen zu Schwäche und Abhängigkeit.
Konsequenterweise wies Rosa Luxemburg daher auch die Forderung des Selbstbestimmungsrechts der Nationen zurück. Luxemburg war durchaus im Recht etwa gegenüber den Austromarxist/inn/en, dass eine wirkliche nationale Selbstbestimmung erst in einer selbstbestimmten, also in einer sozialistischen Gesellschaft möglich sei. Sie weigerte sich aber, das Selbstbestimmungsrecht der Nationen als wesentliches demokratisches Recht anzuerkennen und daraus die entsprechenden taktischen Schlussfolgerungen abzuleiten. Bei aller Frontstellung gegen Imperialismus und Kolonialismus, der sich wohltuend von den massiven pro-imperialistischen Strömungen in der Zweiten Internationale abhob, griff aber ihre Position eindeutig zu kurz, dass es in der Epoche des Imperialismus überhaupt keine unterstützenswerten nationalen Verteidigungskämpfe mehr geben könne und die kleinen Nationen nichts anderes als Schachfiguren in innerimperialistischen Konflikten seien – dies schloss letztlich auch aus, dass sich national unterdrückte Völker eigenständig gegen imperialistische Mächte erheben können und dass ein solcher Kampf von Revolutionären – bei aller Kritik an jedem Nationalismus – unterstützt werden könnte. Letztere Position sollte von den Bolschewiki systematisiert und popularisiert werden.
16. 1913 formulierte Stalin seine Schrift Marxismus und nationale Frage. Sie zeigt, dass innerhalb der Bolschewiki in der nationalen Frage zwar einige charakteristische Gemeinsamkeiten, aber gleichzeitig auch beträchtliche Nuancen bestanden. So etwa unterschied Stalin im Vergleich zu Lenin nicht im selben Ausmaß zwischen dem Nationalismus unterdrückter und unterdrückender Völker. Für Stalin war eine Nation "eine historisch entstandene stabile Gemeinschaft von Menschen, entstanden auf der Grundlage der Gemeinschaft der Sprache, des Territoriums, des Wirtschaftslebens und der sich in der Gemeinschaft der Kultur offenbarenden psychischen Wesensart". Keines der angeführten Merkmale reiche nach Stalin, einzeln genommen, zur Begriffsbestimmung der Nation aus. Nur das Vorhandensein aller Merkmale zusammen ergebe eine Nation. Diese Klarstellung förderte eine schematische, checklistenartige Herangehensweise an die Charakteristika einer Nation, auf Grund derer vielen ethnischen Gruppen die Anerkennung als Nation verweigert werden müsste. Für Stalin war aber jedenfalls die Nation eine historische Kategorie einer bestimmten Epoche, der Epoche des aufsteigenden Kapitalismus.
Die zentrale Differenz zu den Positionen Rosa Luxemburgs oder der Austromarxist/inn/en war jedoch die Positionierung in der Frage des Selbstbestimmungsrechts der Nationen. Das Proletariat kämpfe gegen sämtliche nationalistische Repressalien, weil es davon besonders betroffen sei und weil die Politik der nationalen Unterdrückung und Verhetzung die Aufmerksamkeit von den sozialen Fragen ablenke und drohe, "die Sache des Zusammenschlusses der Arbeiter in Blut und Tränen zu ertränken." Deshalb proklamierten die Bolschewiki das Selbstbestimmungsrecht der Nationen, wobei das Recht auf Lostrennung nicht bedeutete, dass eine Nation dieses Recht in Anspruch nehmen müsse, und schon gar nicht, dass die Sozialdemokratie in jedem Fall dafür eintrete: "Recht auf Selbstbestimmung, das heißt: Die Nation kann sich nach eigenem Gutdünken einrichten. Sie hat das Recht, ihr Leben nach den Grundsätzen der Autonomie einzurichten. Sie hat das Recht, zu anderen Nationen in föderative Beziehungen zu treten. Sie hat das Recht, sich gänzlich loszutrennen. Die Nation ist souverän, und alle Nationen sind gleichberechtigt."
In ihrem Kampf für das Selbstbestimmungsrecht der Nationen steckten sich die Bolschewiki das Ziel, der Politik der nationalen Unterdrückung ein Ende zu machen und damit den Kampf unter den Nationen zu untergraben, ihn abzustumpfen und auf ein Mindestmaß zu reduzieren.
17. Stalin konnte weitgehend auf den grundlegenden Positionen aufbauen, die Lenin bereits seit den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts erarbeitet und systematisiert hatte. Lenin stellte sich gegen das Konzept der national-kulturellen Autonomie, das er zurecht als Gegensatz zum Selbstbestimmungsrecht der Nationen betrachtete, und trat vehement gegen ein föderales Parteikonzept, wie es etwa vom jiddischen Arbeiterbund vertreten wurde, ein. Lenin sah auch klar, dass ein zentralistischer Großstaat ein gewaltiger historischer Schritt vorwärts auf dem Weg von der mittelalterlichen Zersplitterung hin zur künftigen sozialistischen Einheit der ganzen Welt sei. Ein solcher Großstaat müsse aber eine autonome Entwicklung für jene Gebiete ermöglichen, die sich durch besondere Wirtschafts- und Lebensbedingungen, durch eine besondere nationale Zusammensetzung der Bevölkerung auszeichnen. Klarer als von anderen Theoretiker/inne/n wurde von Lenin der Unterschied zwischen dem Nationalismus unterdrückender und unterdrückter Nationen herausgearbeitet, denn für den Imperialismus sei die Einteilung der Nationen in unterdrückte und unterdrückende konstitutiv. Lenin knüpfe damit an Marx und dem "grundlegende[n] Prinzip des Internationalismus und des Sozialismus" an: "Nie kann ein Volk, das andre Völker unterdrückt, frei sein." Das Proletariat der unterdrückenden Nationen müsse "die Freiheit der politischen Abtrennung der von ‚seiner' Nation unterdrückten Kolonien und Nationen fordern", denn sonst seien "weder Vertrauen noch Klassensolidarität unter den Arbeitern der unterdrückten und der unterdrückenden Nation" möglich. Umgekehrt müssten die Sozialist/inn/en der unterdrückten Nation "auf die vollständige und bedingungslose, auch organisatorische Einheit" mit den Arbeiter/inne/n der unterdrückenden Nation bestehen, denn die Bourgeoisie der unterdrückten Nationen missbrauche ständig die Losung der nationalen Befreiung, um die Arbeiter/innen zu betrügen.
Die Grundpositionen in der nationalen Frage, wie sie von den Bolschewiki auf der Aprilkonferenz 1917 formuliert wurden und auf denen wir auch heute aufbauen können, lassen sich in vier Punkten zusammenfassen:
a) Anerkennung des Rechtes der Völker auf Lostrennung;
b) Gebietsautonomie für Völker, die im Rahmen des jeweiligen Staates bleiben;
c) für die nationalen Minderheiten besondere Gesetze, die ihnen freie Entwicklung gewährleisten;
d) für die Proletarier/innen aller Nationalitäten des jeweiligen Staates – ein einheitliches unteilbares proletarisches Kollektiv, eine einheitliche Partei.
18. Die Positionen von Leo Trotzki zur nationalen Frage waren bis zum Ersten Weltkrieg in sich nicht geschlossen. Trotzdem formulierte Trotzki schärfer als andere einen bedeutenden Gedanken, der als Ergänzung zum bolschewistischen Programm des Selbstbestimmungsrechts der Nationen betrachtet werden kann.
Durch den Imperialismus seien Nation und Wirtschaft sowohl zueinander als auch zum Staat in Widerspruch geraten. Aber nicht die Nationen seien für die wirtschaftliche Entwicklung lähmend, sondern die sie konstituierenden Nationalstaaten. An deren Stelle werde deshalb eine "demokratische Föderation fortgeschrittener Staaten" treten müssen. Die Anerkennung der Tatsache, dass jede Nation das Recht auf Selbstbestimmung habe, fand die notwendige Ergänzung durch die Losung der demokratischen Föderation, wie sie Trotzki in der demokratischen Balkanföderation oder einer Föderation aller fortgeschrittenen Nationen, etwa den Vereinigten Staaten von Europa, konkretisierte.
Die Position hat in dieser Form einer Balkanföderation bzw. einer europäischen Föderation noch einen wesentlichen Mangel. Trotzki sprach damals noch klassenunspezifisch von einer "demokratischen Föderation", impliziert damit eindeutig nicht mehr als eine bürgerlich-demokratische, also kapitalistische Perspektive – und fiel so hinter seine eigene, für Russland entwickelte und damals noch nicht verallgemeinerte Konzeption der permanenten Revolution zurück. Erst 1916/17 sollte er beginnen, diesen Mangel zu beheben. Trotzdem war dieser Ansatz ein sehr wichtiger, nämlich das nationale Selbstbestimmungsrecht mit einer konkreten übernationalen Perspektive zu verbinden.
III. Lösungsversuche in der UdSSR
19. Im russischen Reich war die nationale Frage wie in der Habsburger Monarchie von besonderer Sprengkraft. Zu den siebzig Millionen Russ/inn/en, die den Grundstock des Landes bildeten, waren mit der Ausdehnung des Zarenreiches noch neunzig Millionen Angehörige anderer Völkerschaften hinzugekommen, die sich scharf in zwei Gruppen teilten: die westlichen Nationalitäten, in der ökonomischen Struktur und in Kultur und Klassengliederung weiter fortgeschritten als Russland, und die östlichen, auf einem tieferen Niveau stehenden.
Der Schlüssel für die Analyse der nationalen Frage liegt in der historischen Verspätung des zaristischen Russland. In national geschlosseneren Gebieten entwickelte die bürgerliche Revolution mächtige vereinheitlichende Tendenzen und führte die Gesellschaft zur Überwindung der partikularistischen Zersplitterung, wie in Frankreich, oder zur nationalstaatlichen Vereinheitlichung, wie in Italien und Deutschland. Im Unterschied dazu entfesselte in national heterogenen Staaten wie im Osmanischen Reich, in Russland oder Österreich-Ungarn umgekehrt die verspätete bürgerliche Revolution die zentrifugalen Kräfte.
Mit dem Sturz der Monarchie musste für seine unterdrückten Nationen notwendigerweise auch deren nationale Revolution verbunden sein. Aber die Bourgeoisie konnte nicht als Befreierin der Nationen auftreten. Einer der Gründe für die mangelnde soziale Stabilität der russischen Bourgeoisie bestand darin, dass sich Bourgeoisie und Nationalitäten in weiten Teilen des Landes national nicht deckten. Sie konnte also nicht an die Spitze der Nationalbewegungen treten.
Je mehr sich die Widersprüche in der russischen Gesellschaft zuspitzten und die Oktoberrevolution näher rückte, desto stärker gerieten auch die unterdrückten Nationen in unversöhnlichen Gegensatz zur russischen Bourgeoisie. Diese Feindschaft übertrug sich auch auf die Bourgeoisie inmitten der eigenen Nation. Dieser sinkende Einfluss der bürgerlichen Klasse aber war kein linearer Prozess – im Laufe des Jahres 1917 wurde auch eine Gegentendenz spürbar: Dort, wo sich eine eigene nationale Bourgeoisie bereits herausgebildet hatte, etwa in Teilen Kaukasiens, in Finnland oder den baltischen Ländern, gelang es dieser, sich an die Spitze der Nationalbewegung zu stellen. In diesen Fällen konnte es der schwachen nationalen Bourgeoisie gelingen, einen Keil zwischen die soziale Revolution und die nationale Frage zu treiben. Denn mit Fortschreiten des Jahres 1917 repräsentierten Petrograd und Moskau, von denen sich die Bourgeoisie der Randgebiete lossagte, nicht mehr die Zentralbanken, Trusts und Handelsfirmen Russlands, sondern die näher rückende soziale Revolution. Den Weg der Sezession beschritt die Bourgeoisie nicht im Kampf gegen die nationale Unterdrückung, sondern aus Angst vor der Revolution.
Am Vorabend der Oktoberrevolution zeigten sich also zwei entgegen gesetzte Tendenzen: Zum einen eine zentrifugale, die Perspektive des faktischen Zerfalls des Vielvölkerstaates durch die Stärkung der separatistischen Strömungen, zum anderen eine zentripetale Tendenz, die auf das Bündnis der fortgeschrittensten Teile der Gesellschaft orientiert war und sich in erster Linie um das Proletariat gruppierte.
20. Die Bolschewiki hatten vor der Oktoberrevolution das Recht der nationalen Selbstbestimmung hochgehalten. Im Laufe des Jahres 1917 waren die Bolschewiki auf eine Position des "Bundes freier Republiken" eingeschwenkt. Dies war keine Abkehr der Position eines möglichst einheitlichen und zentralisierten Staates. Denn viele Nationalitäten strebten bereits eine eigene nationale Staatlichkeit an, in einer solchen Situation wäre das Festhalten an einem einheitlichen unitaristischen Staat, der lediglich die national-territoriale Autonomie garantiert hätte, zurecht als Einschränkung der nationalen Rechte der einzelnen Nationen interpretiert worden. Hier bot sich eine Föderation – nicht wie vor der Februarrevolution als Übergang vom Zentralismus zum Zerfall, sondern umgekehrt als konkret gegebene Form der jetzt größtmöglichen Einheit der Nationen – als Ausweg und als Mittel an, um das weitere Auseinanderdriften der Nationen zu verhindern.
Unmittelbar nach der Oktoberrevolution 1917 verabschiedete der Sowjetkongress das von Lenin verfasste Dekret über den Frieden. Ein kommender gerechter Friede müsse ein sofortiger Friede ohne Kontributionen und Annexionen, also ohne die Aneignung fremden Territoriums und ohne die gewaltsame Angliederung fremder Völkerschaften, sein. Erstmals wurde mit diesem Dokument die Anerkennung des Selbstbestimmungsrechts der Nationen als allgemeines Prinzip des Völkerrechts auf internationaler Ebene eingeführt.
Unter Annexion oder Aneignung fremder Territorien wurde jede Angliederung einer kleinen oder schwachen Völkerschaft an einen großen oder mächtigen Staat verstanden, ohne dass diese Völkerschaft ihr Einverständnis und ihren Wunsch unmissverständlich, klar und freiwillig zum Ausdruck gebracht hätte. Dies galt erstens unabhängig davon, wann diese gewaltsame Angliederung erfolgt war, zweitens wie entwickelt oder rückständig eine solche mit Gewalt angegliederte bzw. innerhalb der Grenzen eines gegebenen Staates festgehaltene Nation war, und drittens auch unabhängig davon, ob diese Nation in Europa oder in anderen Erdteilen beheimatet war.
Denn wenn irgendeine Nation mit Gewalt in den Grenzen eines gegebenen Staates festgehalten werde, wenn dieser Nation entgegen ihrem zum Ausdruck gebrachten Wunsch das Recht von einer stärkeren Nation vorenthalten werde, über die Formen ihrer staatlichen Existenz ohne den mindesten Zwang selbst zu entscheiden, so würde eine solche Angliederung als Annexion, d.h. als Eroberung oder Vergewaltigung, betrachtet.
Der Rat der Volkskommissare, also die der Oktoberrevolution folgende revolutionäre Regierung, versuchte nach diesen Grundsätzen das Erbe des Zarenreiches anzutreten. Mit dem Nationalitäten-Volkskommissariat, an dessen Spitze Josef Stalin trat, wurde eine eigene Institution zur Regelung der nationalen Fragen geschaffen, das auf den folgenden Prinzipien die nationale Frage im nachrevolutionären Russland regeln und zu einem ehrlichen und festen Bündnis der Völker Russlands beitragen sollte: Gleichheit und Souveränität der Völker Russlands; Recht der Völker Russlands auf freie Selbstbestimmung bis hin zur Lostrennung und Bildung eines selbständigen Staates; Aufhebung aller und jeglicher nationaler und nationalreligiöser Privilegien und Einschränkungen; freie Entwicklung der nationalen Minderheiten und ethnografischen Gruppen, die das Territorium Russlands besiedeln.
21. Das Ziel war jetzt der Aufbau einer Föderation der Sowjetrepubliken Russlands und eine Föderalisierung nach innen. Gleichzeitig machte die revolutionäre Regierung nun auch Ernst mit dem "Recht auf freie Lostrennung", dem nationalen Selbstbestimmungsrecht. Polen, Finnland, die Ukraine, Estland, Lettland, Litauen, Georgien, Armenien und andere Länder machten von diesem Recht Gebrauch und wurden selbständige Staaten. Während die Prinzipien, auf denen diese Politik aufbaute, innerhalb der Bolschewiki weitgehend unbestritten waren, herrschte eine große Bandbreite in ihrer Interpretation – die von Vertreter/inne/n einer Position, die in einer Föderation eine relativ kurze Übergangsphase bis zur Etablierung eines neuen Zentralstaates sahen, bis zu denen reichte, die eine möglichst lose Vereinigung weitestgehend unabhängiger Sowjetrepubliken anstrebten.
Der Bürgerkrieg von 1918 bis 1922 überlagerte die Politik in der nationalen Frage und die theoretische Diskussion dazu ganz entscheidend. Von bolschewistischer Seite wurden in den eroberten Gebieten Räterepubliken gegründet, so wie von reaktionärer Seite bürgerliche Regierungen eingesetzt wurden, in vielen Fällen waren auch auf bolschewistischer Seite Gründungen von Sowjetrepubliken von oben erfolgt und nicht das Ergebnis der Selbsttätigkeit der Klasse.
Natürlich versuchten Reaktionäre den durch das Recht auf freie Lostrennung vergrößerten Spielraum für ihre Zwecke auszunutzen und versteckten sich hinter den Forderungen nach verstärkter Autonomie oder nach nationaler Eigenständigkeit konterrevolutionäre Kräfte. Dasselbe galt für die internationale imperialistische Intervention gegen die Sowjetmacht.
Für die Bolschewiki war einerseits klar, dass die in der nationalen Frage angewandten Prinzipien nicht über den Erfordernissen der Verteidigung der proletarischen Revolution stehen konnten, andererseits aber tendierten die taktischen und strategischen Erfordernisse des Bürgerkriegs und die immer größeren Versorgungsschwierigkeiten der Zentren der Revolution zu einer Unterordnung der Interessen der Völkerschaften unter die der militärischen Verteidigung und der Versorgung. So musste zum einen das nationale Interesse von Völkerschaften hinter dem Verteidigungsbedürfnis der Revolution zurücktreten, andernorts, etwa im Falle Belorusslands, wurden aus Gründen (außen-) politischer Zweckmäßigkeit die nationalen Interessen stark in den Vordergrund geschoben und sogar – als Puffer gegen den Imperialismus und als Versuch zur Destabilisierung Polens – eine formal eigenständige weißrussische Sowjetrepublik aus der Taufe gehoben, ohne dass dem ein in weiten Teilen der Bevölkerung verankertes Nationalbewusstsein zugrunde gelegen wäre. In vielen Fällen waren die Grenzen zwischen legitimen (Verteidigungs-) Bedürfnissen und einer Weiterführung großrussisch-chauvinistischer Positionen nicht leicht zu ziehen.
22. Gerade das Beispiel Polen zeigte auch, dass die Erfordernisse der Revolution durchaus unterschiedlich interpretiert werden konnten. Nach der Niederlage der Räterepubliken in Ungarn und Bayern 1919 schien sich im Sommer 1920 eine Gelegenheit zu ergeben, die Gefahr der internationalen Isolierung der russischen Revolution zu durchbrechen und die Revolution an Mitteleuropa heranzuführen. 1919/1920 hatte die reaktionäre polnische Regierung einen Überfall auf die Sowjetukraine organisiert; nach schweren Kämpfen wurden die polnischen Truppen zurückgeschlagen. Im Sommer 1920 ergab sich die Möglichkeit, in Verfolgung der polnischen Truppen auf Warschau vorzustoßen. Während Trotzki als Organisator der Roten Armee davor warnte, die polnischen Nationalgefühle zu unterschätzen, erhoffte sich Lenin, dass die polnische Bevölkerung, ernüchtert vom selbständigen, von der Reaktion geführten Polen, die Rote Armee als Befreierin begrüßen werde. Doch Trotzki sollte Recht behalten: In ihrer übergroßen Mehrheit fürchtete die polnische Bevölkerung, auch die Arbeitenden und die Bauern, den Vorstoß der Roten Armee, in der sie nur ein in Rot gefärbtes Instrument der russischen Unterdrückung sahen; der Vormarsch auf Warschau scheiterte.
Auch Georgien, das von einer menschewistisch dominierten Regierung geführt wurde, war nach der Oktoberrevolution in die Unabhängigkeit entlassen worden. Nach dem kurzlebigen Experiment der von bürgerlich-nationalistischen Bewegungen und Parteien getragenen Transkaukasischen Föderation wurden die georgischen Menschewiki zu glühenden Befürwortern der georgischen Unabhängigkeit. Gegen Ende des Bürgerkriegs 1920 verhandelte die menschewistische Regierung mit dem Imperialismus um die Überlassung von "Schutztruppen". Im Frühjahr 1921 marschierte die Rote Armee in Georgien ein und errichtete ein bolschewistisches Regime, das sich nur auf eine schmale Basis im Lande selbst stützen konnte und ohne systematische Repression nicht überlebt hätte. Verantwortlich dafür war Ordschonikidse, Stalins Vertrauter im Kaukasus, der mit dieser von Stalin gedeckten Aktion den Oberbefehlshaber der Roten Armee, Leo Trotzki, vor vollendete Tatsachen stellte und ihn ebenso wie Lenin zwang, der sich noch kurz zuvor gegen jede Gewaltanwendung in der georgischen Frage ausgesprochen hatte, die Aktion nach außen hin zu verteidigen.
23. Als sich die militärische Situation in den letzten Phasen des Interventions- und Bürgerkriegs entspannte, begann in der RSFSR eine neue Phase von Gründungen autonomer Republiken und Gebiete für die nationalen Minderheiten. Das Ziel war, die Völker selbst so weit wie möglich in die Gründung von autonomen Republiken, Gebieten und Kreisen einzubinden, ohne allerdings die grundlegende Ausrichtung – etwa das Ausmaß der zugestandenen Eigenständigkeit – in Frage zu stellen. Auf Partei- und Sowjetkongressen wurde die Autonomisierung diskutiert, die Ergebnisse auf den Konferenzen der betreffenden Völker zur Abstimmung gestellt. Für eine ganze Reihe von Völkern trat nun eine unterschiedlich weit gehende Autonomie in Kraft.
Gleichzeitig aber wurde Anfang der 1920er Jahre eine beunruhigende Tendenz sichtbar: Die an sich richtige Argumentation, die führende Rolle der Arbeiter/innen/klasse gegenüber der rückständigen Bauernschaft durchzusetzen, nahm in nationalen Randgebieten mitunter den Charakter einer Verteidigung der Dominanz des Russischen an, dem sich ein großer Teil des Proletariats, im Unterschied zu den bäuerlichen Nationalkulturen der Minderheiten, zugehörig fühlte.
Der russische Großmachtchauvinismus war natürlich kein neues Phänomen. Er war in der Ukraine ebenso präsent wie in den östlichen Randgebieten oder im Kaukasus. Er führte bei bedeutenden Teilen der ukrainischen KP dazu, eine ukrainische nationale Frage zu leugnen. Ideologisch besonders gefährlich wurde der Chauvinismus dort, wo dieser einen "internationalistischen" oder "proletarischen" Anstrich annahm.
Dies war etwa in den zentralasiatischen Gebieten der Fall, in denen sich Sowjetrepubliken etablierten. Diese konnten sich zum Teil nur auf verschwindend kleine russische Minderheiten stützen, die als Siedler/innen ins Land gekommen waren und nach wie vor ihre kolonialistische Mentalität nicht abgelegt hatten. So waren die turkestanische KP wie die turkestanische Sowjetregierung mit dem Gefühl der kulturellen Überlegenheit, das sich aus einem großrussischen Chauvinismus nährte, der numerisch weit überlegenen einheimischen Bevölkerung gegenübergetreten. Dabei wäre die hier verfolgte Politik von großer strategischer Bedeutung gewesen: Sie konnte im positiven Fall als proletarisch-revolutionäres Vorzeigebeispiel für eine ernsthafte geschwisterliche Politik gegenüber muslimischen Völkern dienen, aber sie konnte ebenso im schlechtesten Fall unter den kolonial abhängigen Völkern Asiens dazu führen, in der Sowjetherrschaft eine nur ein wenig anders gekleidete Fortsetzung russischer Kolonialherrschaft zu sehen. Genau darum ging es unter anderem auch am Kongress in Baku 1920, dem von bolschewistischer Seite ernsthaftesten Versuch, eine speziell auf die Bedürfnisse Zentralasiens im Besonderen und der rückständigen kolonialen und halbkolonialen Völker im Allgemeinen zugeschnittene Politik zu entwickeln.
24. Die Politik gegenüber den zentralasiatischen Völkern war nicht geeignet als Muster für eine die rückständigeren Völker an die Sowjetmacht heranführenden Lösung der nationalen Frage. Im Gegenteil: der nationalistische Widerstand konnte erst nach Jahren unterdrückt werden, und auch die Diskussion um die Eigenständigkeit der KPen der formal unabhängigen Staaten Chiwa und Buchara zeigte, dass der russische Großmachtchauvinismus noch starken Einfluss besaß.
Im Grundsätzlichen akzeptieren wir die Argumentation, die für eine einheitliche organisatorische Struktur der KPen und der Unterordnung der KPen der nationalen Autonomen Republiken und Gebiete sprach. Allerdings lag der Fall in Turkestan, in Chiwa und Buchara doch etwas anders: Hier war die Parteiführung in einem russisch-chauvinistischen Milieu groß geworden; wie in einigen anderen Teilen Russlands waren auch hier die wenigen einheimischen Kommunist/inn/en nicht in der Lage, dem mitunter kolonialistischen Auftreten anders als durch defensiven Nationalismus und den Wunsch nach Abgrenzung zu begegnen. Die reale Parteieinheit wurde damit nicht durch den lokalen Nationalismus, sondern durch den Großmachtchauvinismus erschwert. In so einer Situation hätte die bewusste zeitlich begrenzte Durchbrechung der Parteieinheit durch turksprachige Kommunist/inn/en das kleinere Übel sein können, allerdings wäre es nach der Wiederherstellung der Verbindungen mit Zentralrussland in der Folge der Niederlagen der Weißgardisten die Pflicht gewesen, die Parteieinheit – nach vermutlich substanziellen Säuberungen – so rasch wie möglich wieder herzustellen.
Auch die Forderung nach einer Republik Turan, einer einheitlichen muslimischen Sowjetrepublik Zentralasiens, war nicht von vorneherein Ausdruck einer nationalistischen Abweichung: Sie war Ausdruck einer noch nicht vollendeten Nationenbildung in Mittelasien und wäre im Sinne der Erhaltung eines möglichst großen einheitlichen Wirtschaftsraumes und politischen Gebildes durchaus auch innerhalb der bolschewistischen Tradition argumentierbar gewesen.
Die "Markscheidung" in Zentralasien ab Mitte der 1920er Jahre, also die Politik der Zerstückelung Zentralasiens in kleine nationale Einheiten (die allerdings nirgends in diesem ethnisch stark gemischten Gebiet den sprachlichen Grenzen entsprachen), hatte demgegenüber reaktionäre Konsequenzen: Diese Politik war das Ergebnis einer bewussten Politik der Schwächung des Zusammengehörigkeitsgefühls der Völker und Stämme in Mittelasien, ohne dass zu dieser Zeit schon ein verallgemeinertes Nationalbewusstsein bestanden hätte. Statt dessen überwog das Bewusstsein der Zugehörigkeit zur islamischen Kultur und Religion und bei den unteren Volksschichten (im Unterschied zur dünnen, meist russifizierten Intelligenzschicht) ein klares Gefühl der Unterdrückung von den Zentren Russlands. Von der aufkommenden Sowjetbürokratie wurden die Chancen einer gemeinsamen integrierten Entwicklung der Turkvölker Zentralasiens geringer eingeschätzt als die Gefahren für die Einheit der russischen Föderation und daher eine Politik der nationalen Zersplitterung umgesetzt.
25. Im Vorfeld der Gründung der UdSSR, der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken, kam es zu einer scharfen Auseinandersetzung zwischen Befürworter/inne/n und Gegner/inne/n einer verstärkten Zentralisierung der Sowjetrepubliken. Nach dem Ende des Bürgerkriegs war eine Regelung der Beziehungen notwendig geworden, die nicht mehr von den Tageserfordernissen einer im Verteidigungskrieg stehenden Sowjetmacht diktiert werden konnten. Grundsätzlich war gegen eine stärkere Zentralisierung und eine Bündelung der ökonomischen Kräfte nichts einzuwenden, im Gegenteil: Das Einverständnis der betroffenen Völkerschaften und Nationen vorausgesetzt, konnte eine möglichst effiziente Planwirtschaft, die auf einer möglichst weitgehenden Vernetzung der ökonomischen Kapazitäten fußte, nur von Vorteil sein.
Stalin ging ursprünglich davon aus, dass alle nicht-russischen Republiken der russischen Föderation als autonome Einheiten angehören sollten. Das hätte nicht nur den Verlust des größten Teiles ihrer Unabhängigkeit bedeutet, sondern der russischen Nation eine natürliche Vorrangstellung eingeräumt, die mit einem geschwisterlichen Verhältnis nicht zu vereinbaren gewesen wäre.
Dieser Autonomisierungsplan traf auf den erbitterten Widerstand der ukrainischen und georgischen Führungen und wurde von einem Teil der Bolschewiki Russlands, an der Spitze der bereits todkranke Lenin, unterstützt. Als Alternative wurde die Gründung eines neuen Bundes gleichberechtigter Republiken favorisiert, der eine von der russischen Föderation getrennte Sowjetregierung vorstehen sollte.
Die Zugeständnisse Stalins waren formaler Natur, an der Natur seiner Position änderte er nichts. Der letzte große politische Kampf Lenins, der von Trotzki nach dessen Tod einem kurzlebigen Kompromiss mit Stalin geopfert wurde, war diesem Plan des Nationalitätenkommissars Stalin gewidmet. Die Angehörigen einer großen Nation, so Lenin, hätten sich in der geschichtlichen Praxis fast immer einer Unzahl von Gewalttaten schuldig gemacht und den anderen eine große Menge an Gewalttaten und Beleidigungen zugefügt. Daher müsse der Internationalismus seitens der unterdrückenden großen Nation darin bestehen, nicht nur die formale Gleichheit der Nationen zu beachten, sondern auch jene Ungleichheiten anzuerkennen, die seitens der unterdrückenden Nation jene Ungleichheit aufwiege, die sich faktisch im Leben ergebe. Zugeständnisse seien nötig, um das Misstrauen aufzuwiegen, das durch das Unrecht hervorgerufen wurde, welches den kleinen Völkern von der Großmachtnation zugefügt worden sei. Die Auseinandersetzung endete mit einem formalen Sieg der Position Lenins – die Freiheit, die Union zu verlassen, wurde ebenso festgeschrieben wie die weitgehende formale Gleichheit der Unionsrepubliken. Aber das niemals fallen gelassene Anliegen der Zentralist/inn/en, einen einheitlichen Bundesstaat mit einer starken Zentralmacht zu schaffen, wurde über die Intentionen des Unionsvertrags hinaus, auf dem Weg einer Aushöhlung der Republiksrechte, in der nachfolgenden Verfassungsdiskussion vorangetrieben. Gegenüber dem Unionsvertrag wurden die Rechte der zentralen obersten Organe erheblich ausgeweitet. Die Verfassung von 1924 war damit schon ein signifikantes Ergebnis der Bürokratisierungstendenzen der Sowjetunion.
26. Ab 1923 war von der sich festigenden Bürokratie die Politik der Korenisazija, der Einwurzelung, begonnen worden. Auf der Basis der Verweigerung der politischen Selbstbestimmung (vom Austritt aus der Union konnte schon gar nicht mehr die Rede sein) wurde den Nationen auf kultureller Ebene ein vergrößerter Spielraum gelassen, der sich in einem Aufblühen der Nationalkulturen manifestierte. Viele Völker Zentralasiens und Sibiriens bekamen nun erstmals eine vereinheitlichte Schriftsprache.
Schon Anfang der 1930er Jahre wurde diese Politik, die auf eine Förderung nationaler Eliten abzielte, zurückgenommen. Eine Woge großrussischen Chauvinismus überflutete die Unionsrepubliken. Unter dem Schlagwort des Kampfes gegen den bürgerlichen Nationalismus geriet die ukrainische Parteibürokratie ins Visier Stalins, der ukrainische Nationalismus wurde nun zur "Hauptgefahr" erklärt. Mit brutaler Gewalt wurde der Widerstand auf nationaler Ebene zerschlagen – in der Ukraine und in Kasachstan, aber auch in anderen Unionsrepubliken büßten Hunderttausende, ja Millionen mit Verbannung, Verfolgung und dem Leben ihren Widerstand, der sich gegen die bürokratische Kollektivierung oder gegen die Zwangsansiedlung nomadisierender Völkerschaften richtete. Die Politik in der nationalen Frage war nach dem Ende der Korenisazija von einer immer stärkeren Förderung des russischen Nationalismus und einem immer größeren Druck, der auf den verschiedenen Nationen lastete, gekennzeichnet. Der Zweite Weltkrieg wurde nicht mehr unter der Fahne des proletarischen Internationalismus gewonnen, sondern als Großer Vaterländischer Krieg geführt. In diesem musste zwar u.a. einzelnen Nationen ein größerer Spielraum gewährt werden, aber die Gleichberechtigung der Sprachen und Nationalitäten war bereits durch die Vorherrschaft des Russischen abgelöst worden; der Vorrang des Russischen unter allen Nationen und Sprachen galt bereits als unumstritten.
Nationen, die Misstrauen auf sich gezogen hatten, wurden deportiert. Noch jahrelang nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurde etwa den Inguschet/inn/en oder den Tschetschen/inn/en eine Rückkehr in ihre ehemaligen Siedlungsgebiete verwehrt. Für die Krimtatar/inn/en oder die Wolgadeutschen galt dies sogar bis zum Ende der Sowjetunion. Kollektivstrafen wie die Deportation ganzer Völkerschaften hatten auch in diesen Fällen reaktionäre Konsequenzen – so wurde nicht nur jegliches Vertrauen ganzer Generationen zur Sowjetmacht, ja zum Sozialismus überhaupt in sein Gegenteil verkehrt, die Differenzierung in diesen Völkern zwischen Reaktionär/inn/en und fortschrittlichen Kräften wurde massiv erschwert. Letztlich provozierten auch in diesen Fällen Kollektivstrafen diejenigen Konsequenzen, die sie vorgaben, bekämpfen zu wollen: In ganzen Völkerschaften wurden vehemente Gegner/innen der Sowjetmacht nicht anders behandelt wie diejenigen, die einer Sowjetherrschaft prinzipiell positiv gegenüber gestanden wären, Völker wurden als nationales Kollektiv zu jener vorgeblichen Einheit zusammengeschweißt, die mit der Methode des Klassenkampfes aufgebrochen hätte werden müssen. Die bürokratische Politik in der nationalen Frage war nichts anderes als die Kehrseite und die scheinbare Bestätigung der Vorurteile der antisowjetischen nationalistischen Demagog/inn/en.
27. Knapp vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs zog Leo Trotzki, der aufgrund der bürokratischen Degeneration bereits die Notwendigkeit einer politischen Revolution in der UdSSR erkannt hatte, aus der Zuspitzung der ukrainischen Frage eine neue Schlussfolgerung. Trotzki ging davon aus, dass die ukrainische Frage in allernächster Zukunft eine gewaltige Rolle im Leben Europas spielen müsse; eine Regelung der ukrainischen Frage blieb eingebettet in die angestrebte Neuordnung Osteuropas unter deutscher Vorherrschaft.
Vom früheren Vertrauen und der Sympathie der Massen der polnischen Westukraine für den Kreml sei nichts mehr übrig geblieben. Nach den letzten Säuberungen in der Ukraine wünsche sich niemand mehr den Anschluss an die Sowjetukraine. Die Arbeiter/innen/- und Bauernmassen der Westukraine, der Bukowina und der Karpato-Ukraine seien desorientiert, was die reaktionärsten Cliquen ausnützten, die das ukrainische Volk mit dem Versprechen einer fiktiven Unabhängigkeit an den einen oder anderen Imperialismus verkaufen würden.
In der besonderen Situation entwickelte Trotzki für die Vierte Internationale als klare und prägnante Losung, die der neuen Situation entspreche, die einer "vereinigten, freien und unabhängigen Sowjetukraine der Arbeiter und Bauern". Die Unabhängigkeit einer vereinigten Ukraine würde zwar die Loslösung der Sowjetukraine von der UdSSR bedeuten, aber die inbrünstige Verehrung von Staatsgrenzen müsse Revolutionären fremd sein. Sogar die Verfassung der UdSSR erkenne den in der Föderation zusammengeschlossenen Völkern das Recht auf Selbstbestimmung, also das Recht auf Loslösung zu.
Natürlich hätte eine unabhängige Arbeiter- und Bauern-Ukraine später einer Sowjetföderation wieder beitreten können, aber freiwillig und unter Bedingungen, die sie selbst für akzeptabel halte. Und natürlich sei eine Revolution in der Ukraine undenkbar ohne eine Reihe von Revolutionen im Westen, was letztendlich zur Gründung der Vereinigten Sowjetstaaten von Europa führen müsse. Einer solchen Föderation würde die Ukraine zweifellos als gleichberechtigtes Mitglied beitreten.
Diese Position, die in der internationalen linken Opposition zu heftigen Polemiken führte, sollte die proletarischen Internationalist/inn/en ermuntern, den Kampf um die Herzen und Hirne mit dem (klein-) bürgerlichen ukrainischen Nationalismus aufzunehmen. Methodisch gesehen war Trotzkis Position eine korrekte Anwendung der proletarisch-internationalistischen Politik in der nationalen Frage, die u.a. in den 1980er und 1990er Jahren auch am Balkan und im Zuge des Zerfalls von Jugoslawien Anwendung finden hätte müssen. Allerdings hätte diese Position nicht isoliert nur für die Ukraine entwickelt werden dürfen, sondern grundsätzlich auch für andere Teil der Sowjetunion gelten müssen.
28. Auch nach dem Zweiten Weltkrieg blieb die nationale Frage in der UdSSR letztlich ungelöst. Weder die partielle Rückkehr zur Korenisazija-Periode noch die zeitweise Verschärfung der Frontstellung gegenüber den nationalen Bürokratien gegen Ende der Stalin-Herrschaft, weder die Tauwetterperiode nach dem Tod Stalins noch die Entspannungspolitik der 1970er Jahre konnten an der ungelösten nationalen Frage in der UdSSR etwas ändern: Der Grundwiderspruch zwischen dem Anspruch der Verfassung, alle Nationen gleich entwickeln zu wollen und sogar das Recht der Unionsrepubliken auf Austritt aus der UdSSR zu garantieren, und der bitteren Realität eines von einer parasitären Staats- und Parteibürokratie geknebelten Vielvölkerstaates konnte nicht gelöst werden. So wurde im Zuge der Perestroika der 1980er Jahre, in deren Gefolge der Zugriff der zentralen Kreml-Bürokratie substanziell geschwächt wurde, der bürgerliche Nationalismus zu einer immer größeren Gefahr für das Weiterbestehen des degenerierten bürokratischen Arbeiter/innen/staates UdSSR.
Nur eine frühzeitige und ohne Bedingungen ausgesprochene Anerkennung des Selbstbestimmungsrechtes der Nationen – einschließlich des ehrlich ausgesprochenen Rechtes auf freie Lostrennung – hätte dem bürgerlichen Nationalismus noch etwas entgegenstellen können. Doch dazu war die Bürokratie organisch unfähig. Diese Politik hätte eine proletarisch-revolutionäre Partei umsetzen müssen, die nach den Jahrzehnten der bürokratischen Herrschaft und der systematischen Zerschlagung jeglicher linker Opposition jedoch nicht bestand.
In der Phase der Auflösung der UdSSR 1989/1990 wäre also die einzige Möglichkeit der Rettung eines einheitlichen Arbeiter/innen/staates gewesen, im Zuge eines Prozesses der politischen Revolution die Losung unabhängiger Sowjetrepubliken zu erheben und einen freiwilligen föderativen Zusammenschluss dieser Räterepubliken vorzuschlagen. Der Zerfall der Sowjetunion, der in einzelnen Gebieten, vor allem im Kaukasus, bis heute noch nicht abgeschlossen ist, war die unerbittliche historische Konsequenz mehrerer Jahrzehnte, in denen die Nationen und Völkerschaften der UdSSR zum Experimentierfeld einer bürokratisch-reaktionären Politik geworden waren. Zu dem aus mehreren Völkern zusammengesetzten bürokratischen Arbeiter/innen/staat Jugoslawien und seinem Zerfall war grundsätzlich eine ähnlich Position einzunehmen wie in Bezug auf die Sowjetunion, auch wenn keine Nation eine derart dominante Rolle spielte wie die russische in der Sowjetunion. Zwar waren Serb/inn/en überproportional in Verwaltung und Militär tätig und Slowen/inn/en und Kroat/inn/en dominierten in der Ökonomie, aber die jugoslawischen Nationen, die über eigene Teilrepubliken verfügten, waren höchstens partiell benachteiligt, aber nicht national unterdrückt. Anders war die Situation für die nicht-südslawischen Völker, also vor allem für die als nicht staatsbildend angesehenen Albaner/innen und auch Ungar/inn/en, denen die gleichen Rechte verwehrt wurden.
Unabhängig von (nicht) bestehender nationaler Unterdrückung und grundsätzlicher Ablehnung von Kleinstaaterei musste Marxist/inn/en auch in Jugoslawien den Willen der Bevölkerung als Richtschnur ihrer Positionierung betrachten. Nur die Anerkennung des Rechtes auf Lostrennung konnte auch in Jugoslawien die Basis für die Überwindung von entstandenen nationalen Gräben und eine spätere neuerlich Föderation schaffen. Marxist/inn/en mussten für dieses Recht eintreten, bei Inanspruchnahme die Losung einer unabhängigen Arbeiter/innen/republik ausgeben und klar machen, dass für Grenzziehungen nicht historische oder Republikgrenzen entscheidend sein dürften, sondern der Wunsch der dort lebenden Bevölkerung. Marxist/inn/en mussten aber auch darauf hinweisen, dass in den ethnisch stark durchmischten Teilen Jugoslawiens viele Abtrennungen wieder neue Minderheiten schaffen würden, die ebenfalls das Recht auf Abtrennung haben, und für einen gemeinsamen Klassenkampf gegen nationalistischen Hass und kapitalistische Restauration argumentieren. Die Separation Sloweniens konnte kritisch unterstützt werden, die Konflikte in Kroatien und Bosnien-Herzegowina waren hingegen nationalistische Eroberungskriege auf allen Seiten; serbische, kroatische und auch bosnisch-moslemische Nationalist/inn/en versuchten jeweils, Gebiete gegen den Willen der dortigen Mehrheitsbevölkerung unter ihrer Kontrolle zu halten oder zu bringen. In Kosova/o war das Recht der Albaner/innen auf Lostrennung ihrer Mehrheitsgebiete anzuerkennen, allerdings während der NATO-Angriffe gegen Rest-Jugoslawien hinter der Verteidigung gegen die imperialistische Intervention zurückzustellen.
IV. Nationale Frage heute
29. Wir gehen davon aus, dass die grundlegende marxistische Methodik in der nationalen Frage auch heute noch gültig ist. Insbesondere gilt dies für
* das Bewusstsein, dass auch heute noch, selbst in hoch entwickelten imperialistischen Ländern, die nationale Frage vielerorts nicht gelöst ist;
* das Verständnis, dass Nationalismus insgesamt ein falsches Bewusstsein repräsentiert, dass aber erst die Unterscheidung in den Nationalismus unterdrückter und unterdrückender Nationalitäten die unterschiedliche soziale und politische Dynamik beider Formen des Nationalismus freilegt;
* die bedingungslose Anerkennung des Rechtes der Völker auf freie Lostrennung, wenn nicht höhere Interessen wie die legitimen Verteidigungsbedürfnisse einer revolutionären Gesellschaft dem entgegenstehen;
* die Notwendigkeit der Zuerkennung besonderer Schutzmaßnahmen für nationale Minderheiten, die über die formale Gleichberechtigung noch hinausgehen, um ihnen eine freie Entwicklung zu gewährleisten;
* das Verständnis, dass in bestimmten Situationen nur eine sozialistische Föderation gleichberechtigter Nationen eine möglichst enge Verbindung zwischen den Völkern aufrechtzuerhalten in der Lage ist;
* die Aufgabe, einheitliche, alle Nationalitäten eines betreffenden Staates umfassende Organisationen der Arbeiter/innen/klasse aufzubauen.
Diese Prinzipien repräsentieren für uns das revolutionär-marxistische Erbe in der nationalen Frage. Von ihnen ausgehend, ist die nationale Frage auch heute zu analysieren und sind die entsprechenden praktischen Schlussfolgerungen zu ziehen.
30. Kapitalistische Ökonomie und bürgerlicher Staat haben seit jeher eine assimilatorische Tendenz entwickelt. Diese hat sich durch die Entstehung von Nationalstaaten im 19. und 20. Jahrhundert, die modernen Kommunikationsmittel, die Aufbrechung der ländlichen Abgeschiedenheit, die immer weiter gehende Durchsetzung des allgemeinen Schulsystems etc. massiv beschleunigt. Es gibt auch keine Anzeichen für eine Umkehr dieser Entwicklungsrichtung.
Für Marxist/inn/en ist die Tendenz zur nationalen Vereinheitlichung kein ausschließlich natürlicher, selbständiger und ohne Einfluss von anderen Nationen ablaufender Prozess. Stets ist dieser kombiniert mit ökonomischen bzw. politischen Zwängen, staatlichem Druck und einem unterschiedlichen sozialen Prestige der einzelnen Sprach- bzw. nationalen Gruppen, die eine eigenständige, von außen unbeeinflusste Entscheidung für oder gegen eine Nation zur Illusion werden lassen. Während Marxist/inn/en also einerseits vom Prinzip der freien nationalen Zugehörigkeit ausgehen und alle Gedanken einer von der Natur gegebenen unveränderlichen Nationalität zurückweisen, müssen andererseits hinter diesen assimilatorischen Prozessen die strukturellen Zwänge aufgedeckt und bekämpft werden, die dem Wechsel der nationalen Zugehörigkeit zugrunde liegen. Nur in einer Gesellschaft, die nicht mit direktem oder indirektem Druck assimilatorische Tendenzen erzwingt, werden sich Marxist/inn/en indifferent zu diesen verhalten können; in bürgerlichen Gesellschaften würde eine solche Gleichgültigkeit nur der Durchsetzung der Interessen der stärkeren, ökonomisch und politisch dominanten Nationen dienen.
Doch trotz dieser Tendenz zur Assimilation sind ethnisch einheitliche Staaten nicht die Regel – das gilt auch für Europa, in dem sich das nationale Gesicht vieler Staaten in Süd-, Ost- und Mitteleuropa während der faschistischen Okkupation im Zweiten Weltkrieg und im Gefolge des Krieges durch Völkermord und ethnische Säuberungen gravierend gewandelt hat. Denn einerseits hat sich nach dem Zweiten Weltkrieg auch in Europa durch die massive Migration eine Gegentendenz zur ethnischen Angleichung verstärkt, andererseits haben sich Teile der autochthonen, also schon seit langem in den einzelnen Staaten siedelnden nationalen Minderheiten beharrlich gegen ein völliges Aufgehen in der Mehrheitsbevölkerung gewehrt.
Die Lösung der nationalen Frage ist eine bürgerlich-demokratische Aufgabe, die also auch heute noch nicht abgeschlossen ist. Dies gilt selbst für Länder, die für sich in Anspruch nehmen, die Prinzipien von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit verwirklicht zu haben. Überall in Europa werden den Roma-Minderheiten elementare Rechte wie muttersprachlicher Unterricht, ja selbst der Gebrauch der Muttersprache in der Öffentlichkeit, vor Gericht und bei Ämtern und Behörden verwehrt, überall sind Roma mit nationalen Vorurteilen konfrontiert, die periodisch in offene Aggression umschlägt. Auch in vielen bürgerlich-demokratisch regierten Ländern sind nationale Minderheiten weiterhin systematischer Benachteiligung ausgesetzt. Beispielsweise in Österreichs südlichstem Bundesland, in Kärnten, werden selbst elementare, im Staatsvertrag von 1955 verbriefte Rechte der slowenischen Minderheit u.a. nach zweisprachigen topographischen Aufschriften trotz mehrfacher Urteile des Verfassungsgerichts mit Füßen getreten und durch immer wieder neue Winkelzüge auf die lange Bank geschoben.
31. Marxist/inn/en sind unbeugsame Gegner/innen von Chauvinismus und nationaler Unterdrückung. Dabei ist es völlig gleichgültig, ob wir selbst der Meinung sind, dass ein einheitlicher Staat an sich besser geeignet wäre zur Sicherung der Lebensinteressen der Angehörigen sowohl der Mehrheits- als auch der Minderheitsbevölkerung und ob wir selbst davon ausgehen, dass durch Schutzgesetze und Förderungen die Interessen der betreffenden nationalen Minderheit in einem bestimmten Staat ohnehin geschützt werden könnten. Für uns ist entscheidend, ob klar erkenntlich ist, dass ein relevanter Teil der Minderheitsbevölkerung den Wunsch nach muttersprachlichem Unterricht, oder dem Gebrauch der eigenen Sprache vor Ämtern und Behörden hat. Unter den Bedingungen der kapitalistischen/imperialistischen Unterdrückung wird davon auszugehen sein. Beim nationalen Selbstbestimmungsrecht bis hin zur territorialen Lostrennung wird eine Mehrheit, dafür sein müssen. (Als bürgerlich demokratische Forderung muss das nationale Selbstbestimmungsrecht immer der Dynamik des proletarischen Klassenkampfs untergeordnet bleiben.) Dies gilt für Minoritäten in der Europäischen Union, etwa die Bask/inn/en oder die Katalan/inn/en, ebenso wie für Minderheiten außerhalb der Europäischen Union wie die Gagaus/inn/en, die Russ/inn/en oder Ukrainer/innen Moldawiens.
Für uns ist es in diesem Zusammenhang auch nicht entscheidend, ob nach bestimmten Kriterien der betreffenden Gruppe das Prädikat einer Nation nun zugesprochen werden kann oder nicht. Und trotzdem werden wir ihre Rechte als Nationalität, als Sprachgruppe und als ethnische Minderheit auch gegenüber bürgerlichen Demokratien verteidigen und die Forderung der Zuerkennung jener Rechte mittragen, die ihnen zur Festigung ihrer nationalen Gemeinschaft wichtig erscheinen. Manifestieren sich in solchen nationalen Gruppen weiter gehende Wünsche nach sprachlichen Rechten, ja sogar nach nationaler Absonderung, dann ist das ein Indiz für demokratische Defizite und für Mängel der bürgerlichen Demokratien, die den von einem breiten Willen der Bevölkerung getragenen Wünschen nicht nachzukommen willens oder in der Lage ist. In solchen Fällen stehen wir in aller Regel auf Seiten der unterdrückten, nach mehr Rechten strebenden Bevölkerung, ob dies nun Nationen sind, sprachliche Gemeinschaften oder kleinere ethnische Gruppen, die ein Gefühl der Eigenständigkeit gegenüber einer dominanten Mehrheitsbevölkerung verteidigen. Die von Marx und Engels entwickelte Terminologie der Völkertrümmer und reaktionären, zum Untergang verurteilten Völkerschaften ist auch in diesem Fall eine schlechte Ratgeberin.
32. Doch zumindest in den Staaten der Europäischen Union ist das Problem der autochthon siedelnden Minderheiten mit der Etablierung der Ordnung nach dem Zweiten Weltkrieg und dem ökonomischen Aufschwung vieler Länder Westeuropas in der Brisanz gegenüber anderen Formen der nationalen Frage deutlich zurückgetreten. In Deutschland leben etwa 200.000 Angehörige von Minderheiten, Sorb/inn/en in Brandenburg und Sachsen, Dän/inn/en in Südschleswig, kleine Reste einer friesischen Minderheit in Nordfriesland und im Saterland, dazu Sinti und Roma verstreut über weite Teile des Bundesgebiets. Aber 2004 waren nach offizieller Schätzung 8,8% der Bevölkerung Ausländer/innen, also etwa sieben Millionen Menschen (insbesondere türkische Staatsbürger/innen), die in aller Regel erst seit den 1960er Jahren nach Deutschland gekommen waren. In der Schweiz ist das Albanische bereits zur Sprache aufgerückt, die nach dem Deutschen, dem Französischen und Italienischen von den meisten in der Schweiz lebenden Menschen gesprochen wird – ein Fünftel aller in der Schweiz Lebenden sind Ausländer/innen. In Österreich dürfte allein die Zahl der in den letzten dreißig Jahren zugewanderten Türk/inn/en (einschließlich der Kurd/inn/en und anderer Minderheiten des Herkunftslandes) der aller autochthonen Minderheiten (der Slowen/inn/en, der Kroat/inn/en, der Ungar/inne/n etc.) gleichkommen, noch deutlich übertroffen von Zuwander/innen aus dem ehemaligen Jugoslawien (insbesondere Serb/inn/en) .
Während trotz aller Widerstände von Seiten chauvinistischer Kräfte der Mehrheitsnationen in den meisten Ländern Europas und trotz weiter bestehender demokratischer Defizite sich die Situation der "autochtonen" nationalen Minderheiten (mit Ausnahme der Roma) oft vergleichsweise besser gestaltet, ist die Lage der Zuwanderungsminderheiten in aller Regel äußerst schlecht und von einer systematischen Diskriminierung gekennzeichnet.
Es ist kein Wunder, wenn arabische Jugendliche in den französischen Vorstädten ohne Hoffnung auf adäquate Arbeitsplätze und eine längerfristige Integration in Wut und offenem Hass zu Mitteln der Zerstörung greifen. Es ist kein Wunder, wenn sich in den herunter gekommenen Vorstädten immer wieder die Frustration und Perspektivlosigkeit in Barrikaden, brennenden Autos und blinder Zerstörung entladen. Jugendlichen aus Migrant/inn/enfamilien wird eine schlechtere schulische Ausbildung geboten, sie haben geringere Möglichkeiten, einen adäquaten Job zu finden (von sozialem Aufstieg gar nicht zu reden) und werden immer wieder Opfer rassistischer Gewalt.
33. "Zuwanderungsminderheiten" (jede Minderheit oder auch Mehrheit einer Bevölkerung ist irgendwann in der Geschichte "zugewandert") nehmen in bürgerlichen Staaten eine besondere Stellung ein. In den verschiedenen Ländern gibt es oft über Jahrzehnte hinweg eine oder mehrere dominante Zuwanderungsgruppen, die sich in bestimmten Berufen und Wohnbezirken konzentrieren und reproduzieren. Sie bilden dabei über viele Jahre und Jahrzehnte hinweg den am meisten unterdrückten und ausgebeuteten Teil der Arbeiter/innen/klasse eines Landes, oft mit eigenen (sub)kulturellen Einrichtungen (Sportvereine, Clubs, Schulen, religiöse Einrichtungen, TV und Radiosendungen, eigene Lokalszene etc.). Dennoch werden diese Minderheiten, die oft größer als "autochtone" Minderheiten sind, vom herrschenden Rassismus und bürgerlichen Staat nicht als solche anerkannt und in allen Aspekten der Äußerung ihrer nationalen, politischen und kulturellen Rechte offen diskriminiert. Aber während ansonsten dem Kapital erfinderische Qualitäten nicht abgesprochen werden kann, wenn es um die Sicherung seiner eigenen Interessen geht, bleiben Maßnahmen zugunsten der neuen Minderheiten weitgehend auf repressive und "sozialtherapeutische" Maßnahmen beschränkt.
Natürlich verlangt die spezifische Situation von "Zuwanderungsminderheiten" adäquate Lösungen. Oft sind sie vorwiegend in Städten und industriellen Zentren konzentriert. Dort wohnen sie häufig in aufgezwungenen und zum Teil "selbstgewählten" Vierteln (wegen eigener "Infrastruktur", zur gegenseitige Hilfe und Schutz) mit schlechter Bausubstanz, überbelegten Wohnungen und überhöhten Mieten. Die territoriale Ausdehnung solcher Wohngegenden kann durchaus eine beträchtliche sein, sodass für solche Viertel auch territoriale Autonomien in manchen Fällen bis hin zum Recht auf territoriale Lostrennung gefordert werden können.
Es kann keine Frage für die Zuerkennung von Rechten sein, wie lange eine bestimmte nationale Gruppe bereits im Lande siedelt, ob deren Angehörige die Staatsbürgerschaft des Landes besitzen oder nicht oder ob sie "legal" oder illegalisiert im Land sind. Sofern sie "legal" in dem betreffenden Land beschäftigt sind, zahlen sie Steuern und Abgaben (bei geringeren staatlichen und kommunalen Anspruchsberechtigungen als die einheimischen Beschäftigten), ihre Kinder sind schulpflichtig, und meist haben sie auch ihren Lebensmittelpunkt und das Zentrum ihrer Lebensinteressen in den "Gastländern" und nicht mehr im Herkunftsland, das viele Angehörige der zweiten oder dritten Generation oft noch nie gesehen haben. In vielen Ländern halten illegalisierte, pauperisierte Zuwander/inn/en z. B. in der Landwirtschaft die Konkurrenzfähigkeit der jeweiligen Agrarindustrien am Weltmarkt aufrecht, oder verdienen sich im "Dienstleistungssektor" und in Sweatschops als billige Arbeitskräfte ihren Unterhalt.
Es wäre die Aufgabe von Gewerkschaften und Organisationen der Arbeiter/innen/klasse, hier als Vorreiter/innen der Gesellschaft zu fungieren und bewusst Schritte in Richtung einer die Kultur der Migrant/inn/engruppen umfassenden proletarischen Selbstorganisation zu setzen und offensiv für die sozialen, politischen, kulturellen und nationalen Rechte aller Zuwander/inn/en einzutreten. Innerhalb der Arbeiter/innen/bewegung muss es das Recht auf separate Treffen für Angehörige unterdrückter Nationalitäten geben. Die neuen Zuwanderungsminderheiten sind auch überproportional stark in der Arbeiter/innen/klasse vertreten, jede nationale Spaltung muss sich also besonders negativ in den Reihen des Proletariats auswirken.
Für die Zuwander/inn/en gilt es als elementares Recht und als Grundlage der Selbstbestimmung bessere Möglichkeiten der Einbindung in die und Gleichstellung in der Gesellschaft zu erkämpfen. Unabdingbar für eine stärkere soziale Integration ist die Aufwertung der Migrant/inn/ensprachen – durch Schulunterricht in den Muttersprachen, durch eigene Radio- und Fernsehsendungen, durch eine bewusste Förderung von muttersprachlichen Publikationen, durch eine bewusste Auseinandersetzung mit den kulturellen Traditionen der Herkunftsländer, bis hin zu äußeren Zeichen wie topografischen Aufschriften, zumindest für die größten Zuwanderungsgruppen das Recht und die Möglichkeit der Verwendung der Muttersprache bei Behördenwegen etc. Eine solche Integration muss von einer klar anti-rassistischen und anti-chauvinistischen Stoßrichtung geprägt sein, darf allerdings auch keine Verklärung und Idealisierung des kulturellen Hintergrundes dieser Immigrant/inn/en bedeuten.
34. Von reaktionärer Seite wurde in den letzten Jahren eine Diskussion darüber provoziert, wie viel Zuwanderung die Länder der Europäischen Union vertragen würden, ob es sich bei den europäischen Staaten um Einwanderungsländer handeln würde etc. Hinter dem Gedanken einer Limitierung der Zuwanderung steht letztlich nichts anderes als der Versuch, die zunehmenden sozialen Probleme von der dafür verantwortlichen Gesellschaftsordnung, dem Kapitalismus, auf bestimmte soziale Gruppen, auf Zuwander/inn/en, auf Asylant/inn/en, auf "nicht-integrationswillige" Immigrant/inn/en etc. abzuwälzen.
Unsere Antwort dazu ist klar: Die politischen Grundlagen dieser Schaffung von Feindbildern, mit deren Hilfe die sozialen Spannungen auf den kollektiven Außenfeind abgewälzt werden sollen, müssen offen gelegt, die reaktionären Versuche, die Gemeinschaft der Staatsbürger/innen gegen einen "äußeren Feind" zusammenzuschweißen, zurückgewiesen werden. Den Tendenzen, die Grenzen zu schließen und das Asylrecht auszuhöhlen und immer weiter einzuschränken, müssen wir bewusst die Forderung nach einer unbegrenzten Bewegungs- und Niederlassungsfreiheit gegenüberstellen.
Mobilität, die Ein- und Auswanderung der Arbeiter/innen sind vom Wesen des Kapitalismus ebenso unzertrennliche Erscheinungen wie die Arbeitslosigkeit. Sie sind oft ein Mittel Druck auf Arbeitsmarkt und Löhne auszuüben und nehmen zeitweise durch politische, religiöse und nationale Verfolgungen besonders drastische Dimensionen an. Natürlich wäre es fatal, die Schwierigkeiten, welche in vielen Fällen dem Proletariat eines auf hoher Entwicklungsstufe des Kapitalismus stehenden Landes aus der massenhaften Einwanderung unorganisierter und an einen niedrigeren Lebensstandard gewöhnter Arbeiter/innen aus Ländern mit vorwiegend agrarischer und landwirtschaftlicher Kultur erwachsen, zu vergessen. Aber die Antwort kann – wie bereits der Stuttgarter Kongress der II. Internationale 1907 erkannte – nicht in irgendwelchen ökonomischen oder politischen Ausnahmemaßregeln bestehen, insbesondere nicht in einer Beschränkung der Freizügigkeit und in einem Ausschluss anderer Nationalitäten, da diese Maßnahmen ihrem Wesen nach reaktionär seien. Der Kongress forderte zurecht die Abschaffung aller Beschränkungen, welche bestimmte Nationalitäten vom Aufenthalt in einem Lande und den sozialen, politischen und ökonomischen Rechten der Staatsbürger/innen ausschließen oder sie ihnen erschweren. Wir halten also am Grundsatz nach offenen Grenzen fest und weisen alle Versuche zurück, auch wenn sie vordergründig mit der Erhaltung der sozialen Stabilität und des Lebensstandards argumentiert werden, durch staatliche Beschränkungen die Aus- oder Einwanderung zu limitieren.
Dies gilt selbstredend auch für die massive Einschränkung des Asyls und die immer weitere Aushöhlung des Asylrechts. Zynisch wird Arbeitssuchenden aus Afrika eine Aufnahme in die Europäische Union verwehrt, weil sie nicht politisch verfolgt seien, sondern "nur" Hunger, Armut und Verelendung in ihren Heimatländern entfliehen wollen. Die "illegalen" Immigrant/inn/en, die sich für die Überfahrt aus Afrika auf die Kanarischen Inseln oder auf das italienische Lampedusa oft für Jahre verschuldet haben, sind konsequent gegen diejenigen zu verteidigen, die Maßnahmen befürworten bzw. zu verantworten haben, die Jahr für Jahr Tausenden das Leben kosten und selbst für eine bürgerliche Öffentlichkeit schockierend sein müssten. Die Unterscheidung in verfolgte Asylsuchende (denen aber ebenfalls oft ein jahrelanges Dahinvegetieren unter menschenunwürdigen Bedingungen in irgendwelchen Flüchtlingsheimen zugemutet wird) und denen, die lediglich auf der Suche nach einem besseren Leben sind und getrost in das Elend ihrer Heimatländer zurückgeschickt werden können, ist zutiefst inhuman und daher abzulehnen.
Wir weisen auch alle Versuche zurück, durch die Erhöhung von Hürden für die Erlangung der Staatsbürgerschaft die Zahl der Zuwanderer zu begrenzen. Natürlich sind z.B. Sprachkurse zu begrüßen, damit auch die Angehörigen der neuen Minderheiten die Sprachen des "Gastlandes" so schnell wie möglich lernen. Gerade die Sprachbarriere ist ein entscheidendes Hindernis, um der Ausgrenzung zu entfliehen. Die aufgrund mangelnder Sprachkenntnisse gegebene Wehr- und Rechtlosigkeit und die Möglichkeit einer besonderen Ausbeutung werden von vielen Kapitalist/inne/n skrupellos ausgenützt. Dem zu entfliehen, wäre eine drastische Ausweitung des Sprachangebots nur im Sinne der Arbeitenden und ihrer Familienangehörigen (vorzugsweise sollten die entsprechenden Kurse durchgeführt werden von fortschrittlichen, der Arbeiter/innen/bewegung nahe stehenden Migrant/innen/organisationen gemeinsam mit einer internationalistischen Arbeiter/innen/bewegung, finanziert durch den bürgerlichen Staat, ohne jegliche Auflagen). Ein verpflichtender Besuch von Sprachkursen und deren positive Ablegung von Prüfungen als Voraussetzung für die Zuerkennung von Aufenthaltstitel und späterer Staatsbürgerschaft sind hingegen nichts anderes als zusätzliche Hürden, die als weitere Druckmittel in der Hand der Herrschenden eingezogen werden. Sie nützen der Spaltung der Arbeitenden und sind als Mittel, die der Klassensolidarität entgegenwirken und die Gesellschaft in bevorrechtete Staatsbürger/innen und rechtlose Ausländer/innen teilen sollen, abzulehnen.
Wir vergessen auch nicht, dass die Menschen aus der verarmten Peripherie nicht aus Abenteuerlust oder Neugierde flüchten, sondern weil sie in ihren Herkunftsregionen keine Lebensperspektive haben. Diese Flüchtlinge versuchen legitimer Weise einen Teil der Extraprofite abzubekommen, die in den Ländern des Nordens als Folge der imperialistischen Ausbeutung abfallen. Es ist also auch Aufgabe von Marxist/inn/en zu erklären, dass durch Armut, Hunger, Krieg oder Unterdrückung erzwungene Massenflüchtlingsströme (auch und vor allem im Sinne der Flüchtenden) nichts Positives sind. Diese Ströme zu verhindern und weltweite Wanderbewegungen zu einem freiwilligen und selbstbestimmten Prozess umzugestalten, kann aber nur gelingen, wenn die Bedingungen in den Herkunftsländern ein lebenswertes Leben ermöglichen. Somit ist jeder Kampf für offene Grenzen verbunden mit dem Kampf gegen die Fluchtursachen, die ein Produkt der imperialistischen Ausbeutung sind.
35. Von Teilen der europäischen herrschenden Klasse wird in den letzten Jahren versucht, ein "europäisches Nationalgefühl" als Alternative zu überholtem Nationalismus und Chauvinismus (oder als supranationale Ergänzung desselben) populär zu machen. All diesen Versuchen liegt die Erkenntnis zugrunde, dass die Europäische Union weithin als Projekt der großen Konzerne wahrgenommen wird, das sich nicht auf tiefe Wurzeln im Gefühl breiter Massen zu stützen vermag.
Der europäische Nationalismus hat, mag er sich noch so demokratisch und sozial gebärden, einen dominant reaktionären Charakter: Zum ersten ist er die "offizielle" Ideologie eines sich herausbildenden europäischen Imperialismus und damit der Nationalismus einer die halbkolonialen Länder ausbeutenden und mittlerweile in aller Welt, vom Kongo über Somalia bis zu Afghanistan und dem Irak, auch militärisch operierenden imperialistischen Mächtegruppe. Zum zweiten hat er einen aggressiv sich nach außen abschottenden, also einen ausschließenden Charakter: Ein solches Gefühl soll als ideologisches Bollwerk und als Absicherung der "Festung Europa" gegen Armutsflüchtlinge und Migrant/inn/en dienen, denen "unser" Kulturkreis fremd sei und gegen deren Einflüsse sich Europa wappnen müsse.
Wir stellen dem Europa der Konzerne, dem Europa des Imperialismus und der Ausbeutung, die Vision der vereinigten sozialistischen Staaten Europas als Teil einer föderativen sozialistischen Weltrepublik gegenüber. In einem solchen Konzept hat eine Europa-Ideologie, wie sie sich in Ansätzen als zum Europa-Imperialismus komplemetäres ideologisches Konstrukt herausentwickelt, absolut keinen Platz.
36. Die Brennpunkte nationaler Auseinandersetzungen in Europa werden in den nächsten Perioden die neuen Migrationsminderheiten sein, die als billige Ausbeutungsobjekte ins Land geholt wurden, bzw. die sich ihren Weg in die Festung Europa auch illegal erkämpft haben, deren Integration aber über Jahrzehnte sträflich vernachlässigt und verschleppt wurde. Gleichzeitig wird es aber auch in den kommenden Perioden vor allem an den instabilen Ländern Europas "klassische" Nationalkonflikte geben, die im Wesentlichen eine Verlängerung des Zerfalls Jugoslawiens und der Sowjetunion in den 1990er Jahren darstellen werden.
Die Frage des Status von Kosova/o ist hierbei nur ein Beispiel dafür, dass der Imperialismus eine demokratische, von den Mehrheiten der betroffenen Nationen getragene Lösung von seinen eigenen Interessen in der Region abhängig macht. Das Konzept der "internationalen Staatengemeinschaft", zwar den staatlichen Zerfall zu akzeptieren, ja bis zu einem gewissen Grad zu befördern, gleichzeitig aber die Sezession von Bevölkerungsgruppen innerhalb bestehender staatlicher Strukturen nicht hinzunehmen, ist nur ein weiterer Hinweis darauf, dass mit Zwangsmaßnahmen von oben eine tragfähige, weitgehend unumstrittene Lösung nicht erreicht werden wird. Weshalb etwa Montenegro das Recht zur Sezession und zur Staatsgründung haben soll (wenn auch mit einer von der Staatengemeinschaft willkürlich festgesetzten 55%-Marke als untere Grenze der Zustimmung bei einer Volksabstimmung), nicht jedoch – unabhängig davon, ob dies nun aktuell von einer Mehrheit gewünscht wird oder nicht – die albanischen Mehrheitsgebiete Kosova/os oder Mazedoniens, der serbischen Mehrheitsgebiete Kroatiens, Bosniens oder Kosova/os, die ungarischen Mehrheitsgebiete Siebenbürgens, der Südslowakei oder der Vojvodina oder die kurdischen Mehrheitsgebiete in der Türkei, Syrien, dem Irak und dem Iran ist selbst von einer bürgerlich-demokratischen Warte aus nicht wirklich schlüssig zu argumentieren. Die Philosophie, zwar die Gründung neuer "Nationalstaaten" zuzugestehen, nicht jedoch deren Vereinigung mit anderen Ländern, auch wenn sie dieselbe Muttersprache sprechen, ist zurückzuweisen.
Wir sagen das klar und eindeutig, was auch von den Ideolog/inn/en der bürgerlichen Gesellschaft – von diesen allerdings nur in zugespitzten Krisenzeiten, etwa in Perioden der ideologischen Mobilisierung für Kriege – ausgesprochen wird: Die bestehenden Grenzen sind keine unübersteigbaren Hindernisse, sind nicht ein für allemal gegeben und durchaus veränderbar. Für Marxist/inn/en stellen Grenzen nicht die naturgegebenen Außenposten der Nationen dar, sondern sie widerspiegeln die in steter Veränderung begriffene relative Stärke der verschiedenen Ökonomien und die Durchsetzungskraft der diversen Ansprüche und Interessen auf dem Parkett der internationalen Diplomatie.
Der Schritt von der Proklamierung des Rechtes auf freie Sezession zur Einschätzung, dass dieses Recht auch in Anspruch genommen werden sollte, ist ein sehr bedeutender. Als kleine revolutionäre Propagandagruppe maßen wir uns nicht an, immer und in allen Fällen über eine genaue Einschätzung der realen Kräfteverhältnisse zu verfügen. In solchen Situationen, in denen wir über keine stabilen Kontakte und keine detaillierten Informationen verfügen, und schon gar nicht ein selbständiger Faktor sind, ziehen wir uns auf propagandistische Positionen zurück, mit der wir die grundlegende Herangehensweise erklären und verteidigen, uns jedoch nicht auf das ungesicherte Feld vage begründeter Taktiken einlassen, die auf ungenauen Prognosen und Einschätzungen der wirklichen Kräfte beruhen müssten.
37. Völlig anders als in Europa verlief der Nationsbildungsprozess in den kolonialisierten und vom Imperialismus unterworfenen und ausgebeuteten Teilen der Welt. In weiten Teilen Afrikas wurde der Nationsbildungsprozess durch den Kolonialismus blockiert, die moderne Klassengliederung blieb unvollständig und oft kombiniert mit einer rückständigen, vorkapitalistische Strukturen konservierenden Stammesgesellschaft. Eine kleinindustrielle Bourgeoisie fehlte ebenso wie eine Kompradorenbourgeoisie (also eine Bourgeoisie, die direkte Agentin und Vertreterin des Kolonialkapitals ist), wie sie etwa Indien oder China hervorgebracht hatten. Die ersten modernen Klassen des südlich der Sahara gelegenen Afrika waren das Land- und Minenproletariat, die Transportarbeiter/innen, die vom Imperialismus für Hilfsdienste geschulten Beamt/inn/en z.B. in der Verwaltung und Mittelschichten wie Lehrer/innen, kleine Händler/innen und Kaufleute, Ärzt/innen, Rechtsanwält/innen, Schriftsteller/innen und Intellektuelle, teilweise Personen mit europäischer Ausbildung. Vor allem von diesen Schichten wurden die europäischen Ideen der Nation aufgegriffen, von ihnen ging das Konzept eines eigenen Nationalismus aus, das als ideologische Grundlage für die (kapitalistische) Modernisierung herhalten konnte, gleichzeitig aber auch als Motor einer Unabhängigkeitsbewegung dienen sollte.
Afrika ist ein Beispiel für die enge inhaltliche Verflechtung von nationaler und sozialer Frage, genauer der Landfrage. So wurden etwa in Kenia die besten Ländereien von weißen Farmer/inne/n okkupiert, die bäuerlichen afrikanischen Gemeinschaften auf schlechtere Weide- und Anbauareale verdrängt. Schon in der Zwischenkriegzeit hatte die East African Association den Kampf gegen die europäischen Siedler/innen aufgenommen, 1922 wurde die Kikuyu Central Association gegründet, die die ersten Massendemonstrationen in der Geschichte des Landes durchführte. 1935 erhoben sich die Vieh züchtenden Massai gegen die Vertreibung aus ihren Wandergebieten. Trotz all dieser Aufstände wurde 1938/1939 das kenianische Hochland zum "europäischen Siedlungsgebiet" erklärt, in dem Afrikaner/innen nur als Arbeitskräfte wohnen durften. Nach dem Zweiten Weltkrieg forderte die bäuerliche Mau-Mau-Bewegung die Unabhängigkeit des Landes unter der Parole Land und Freiheit. Auch in anderen afrikanischen Ländern, etwa in Algerien oder in Südafrika, war die Verbindung von nationaler Frage und Landfrage evident. Ursprünglich von außen hineingetragen wurde in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Idee der panafrikanischen Befreiung, also die Idee einer Vereinigung und Befreiung des ganzen im Süden der Sahara gelegenen Afrika. Dem zugrunde lagen Ideen einer kulturellen Identität aller afrikanischen Schwarzen, die konservative, oft sogar ausgesprochen rückwärtsgewandte Elemente mit einer fortschrittlichen, gegen den Kolonialismus gerichteten, den ganzen Kontinent umfassenden Sehnsucht nach Befreiung kombinierten.
Eine solche pan-afrikanische Einheit wurde – zumindest in Worten – zum verbindenden Element aller nationalen Befreiungsbewegungen, deren bürgerlich-nationalistische Führungen allerdings kaum gemeinsame Anstrengungen gegen Imperialismus und Kolonialismus unternahmen und im Wesentlichen getrennt voneinander operierten. So ist es auch verständlich, dass, nachdem die afrikanischen Staaten in eine formale Unabhängigkeit entlassen wurden, keine echte panafrikanische Bewegung entstand.
38. Dabei wäre die Idee einer pan-afrikanischen Einheit eine korrekte Antwort auf die willkürlich von Imperialismus und Kolonialismus gezogenen Grenzen. Stammesgebiete wurden zerschnitten, die ethnischen und sprachlichen Konturen Afrikas entsprechen nicht den Grenzverläufen. Der bürgerliche Nationalismus, der als ideologische Absicherung der fragilen Staatswesen dienen soll, ist ein künstliches Produkt und hat keine tiefen Wurzeln in breiteren Bevölkerungsschichten geschlagen. So ist es nicht verwunderlich, dass die herrschenden bürgerlichen "Parteien" sich zu ihrer eigenen Absicherung viel stärker auf Stammeszusammenhänge stützen müssen. Regierende und Oppositionelle widerspiegeln daher verschiedene klassenmäßige und ideologische Grundlagen nur in rudimentären Ansätzen, sie sind der Ausdruck von auf den Staatsapparat gestützten, zwischen den Stämmen lavierenden Cliquen, die sich an der Macht halten oder diese an sich reißen wollen.
Der Bankrott des bürgerlichen Nationalismus ist nur der verzerrte Ausdruck des Bankrotts der herrschenden Schichten. Daher fällt dem Proletariat, wie schwach es in den meisten Ländern auch immer sein mag, die Aufgabe zu, den Kampf gegen Imperialismus und die nachkoloniale Ordnung anzuführen.
Dem Proletariat und den um sie gruppierten Klassen und Schichten wird auch die Aufgabe zufallen, einerseits die Stammesgesellschaften aus ihrer Selbstgenügsamkeit herauszureißen und andererseits die staatliche Zersplitterung Afrikas zu überwinden. Diese stellt eine entscheidende Barriere dar, die verhindert, Instabilität, Zurückgebliebenheit und das Erbe des Kolonialismus des ganzen Kontinents abzuschütteln. Das Proletariat wird versuchen müssen, eine den objektiven Gegebenheiten und den Wünschen der betreffenden Bevölkerungen entsprechende territoriale Neuordnung des Kontinents durchzuführen. Dabei wird das Ziel einer Sozialistischen Föderation Afrikas nicht aus den Augen verloren werden dürfen.
39. Unter Schwarzem Nationalismus verstehen wir den politischen Widerstand gegen die "weiße" Herrschaft vor allem in den USA durch Konzepte ökonomischer, kultureller, religiöser und/oder territorialer Separation (was nicht heißt, dass immer alle genannten Elemente gleichzeitig vorhanden sein müssen). Er ist als spezifische Form des Nationalismus nur durch die besondere Geschichte von Kolonialismus und Rassismus verständlich: Durch die Erfahrung der blutigen Unterdrückung durch "Weiße" und die Enttäuschung über falsche Versprechungen über die Verbesserung der Lage der "schwarzen" Massen resultierte bei vielen "Schwarzen" die Überzeugung, dass sie ihr Geschick selbst bestimmen müssten, unabhängig und gegen das "weiß" dominierte Amerika.
Von Anfang an war der Schwarze Nationalismus in den USA zwischen zwei unterschiedlichen strategischen Zielen hin und her gerissen – einerseits der Forderung nach der Möglichkeit einer Integration in einer von Weißen dominierten Gesellschaft, und andererseits der Perspektive einer Separation von einer zurecht als rassistisch empfundenen, zu einer realen Gleichberechtigung unfähigen Gesellschaft.
Für uns ist in diesem Zusammenhang nicht entscheidend, ob den Schwarzen in den USA nun das Prädikat einer Nation zuerkannt wird oder nicht. Schon für Trotzki war klar, dass die Frage, ob die Schwarzen in Amerika eine nationale Minderheit seien, auf die die Parole der Selbstbestimmung anwendbar wäre, in der Praxis beantwortet werden müsse. Die allfällige Unterstützung der Parole durch die schwarzen Massen werde der beste und einzige notwendige Beweis dafür oder dagegen sein.
Auch wenn sich heute die Frage einer Separation der Schwarzen im Süden der USA nicht aktuell stellt, methodisch gesehen ist die Frage nach wie vor wichtig: Das Recht auf freie Lostrennung gestehen wir auch jenen Gruppierungen zu, die – durch Chauvinismus und Rassismus, mangelnden Integrationswillen einer Mehrheitsbevölkerung oder aus welchen Gründen auch immer – zur Überzeugung gelangt sind, dass eine gemeinsame Zukunft in der von der Mehrheitsbevölkerung dominierten Gesellschaft keine Perspektive für die Zukunft darstellt und dass eine Separation der als illusionär erachteten Perspektive einer gleichberechtigten Integration vorzuziehen sei.
Wir erkennen ausdrücklich dieses Recht auf Separation der dominanten Mehrheitsbevölkerung nicht zu. Es war die Strategie des südafrikanischen Apartheid-Staates, große Teile der schwarz-afrikanischen Bevölkerung in "unabhängigen" Homelands zusammenzupferchen. Das Ziel war hier ganz ausdrücklich nicht, dem Wunsch nach Selbstbestimmung zu entsprechen, sondern große Teile der schwarz-afrikanischen Bevölkerung in rechtlose Ausländer/innen zu verwandeln. Nicht die Erweiterung von demokratischen Rechten steht hinter solchen Konzepten, sondern die Absicherung von Privilegien und die Verewigung von Ausbeutung und Unterdrückung.
40. In Lateinamerika hat die nationale Frage einen besonderen Weg genommen: Zu einer Zeit, als große Teile des Inneren von Afrika noch nicht einmal von europäischen Forscher/inne/n durchquert waren, haben die meisten Staaten Mittel- und Südamerikas bereits ihre Unabhängigkeit von Spanien und Portugal erringen können. Allerdings waren die am Anfang des 19. Jahrhunderts entstandenen Staaten Kreationen der weißen bzw. der kreolischen Oberschichten und verweigerten der indianischen Urbevölkerung Gleichberechtigung und Integration. Sie nahmen keine Rücksicht auf die Bedürfnisse der indianischen Bevölkerung, die nach wie vor einer Politik der rücksichtslosen Ausbeutung, des Landraubs und der Ausrottung ausgesetzt waren.
Immer wieder wurden vor allem seitens der städtischen Mittelschichten Versuche gemacht, den durch die imperialistische Dominanz der USA entstandenen nationalistischen Reflex für eigene Projekte zu nutzen. So kann sich Mexiko auf eine lange und starke Bewegung gegen europäische und US-amerikanische Dominanz stützen. Die peruanische APRA, die Amerikanische revolutionäre Volksallianz, wendete den Unmut der Jugend und der städtischen Mittelschichten gegen die imperialistischen Konzerne. Der bonapartistische Peronismus in Argentinien kam mit anti-imperialistischer, nationalistischer Rhetorik an die Macht. Die bürgerlich-nationalistischen Bewegungen waren – mit Ausnahme Kubas, wo mit Unterstützung der UdSSR ein degenerierter Arbeiter/innen/staat entstand – zu einem systematischen Widerstand gegen den Imperialismus unfähig.
Seit dem 19. Jahrhundert sind alle Versuche einer gesamt-lateinamerikanischen Einheit gescheitert. Auch den Projekten einer bolivarischen Einheit des Kontinents, wie sie etwa in Venezuela kursieren, wird dasselbe Schicksal beschieden sein, wenn kein nachhaltiger Bruch mit dem Imperialismus erfolgt. Die objektive Basis für eine lateinamerikanische Vereinigung ist neben der ähnlichen Ausgangslage vieler Staaten – der Unterdrückung durch den Imperialismus bei formaler Selbständigkeit – die Tatsache, dass die lateinamerikanischen Staaten weder die ethnische Vielfalt der indigenen Urbevölkerung widerspiegeln noch in einer national unterschiedlichen Situation der weißen bzw. kreolischen Mehrheitsbevölkerung eine eigenständige Berechtigung finden.
Für Teile der indigenen Bevölkerung Lateinamerikas ist das Selbstbestimmungsrecht buchstäblich zu einer Überlebensfrage geworden – so wird im Amazonasbecken der Lebensraum vieler indigener Stämme immer weiter beschnitten und deren Lebensgrundlage zerstört. Ansonsten sehen wir die besten Bedingungen für eine gemeinsame Abwehr von imperialistischer Bevormundung und Ausbeutung in der gemeinsamen Perspektive einer Sozialistischen Föderation Lateinamerikas – in welcher Form und in welcher geografischen Gestalt die verschiedenen Staaten in eine solche Eingang finden würden, muss dem freien Willen der betroffenen Bevölkerung überlassen bleiben.
41. Von großer Sprengkraft werden in den nächsten Perioden die nationalen Konflikte im Nahen Osten sein. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde diese Region aufgeteilt und fragmentiert, die Länder wurden einzeln und unter Schwächung der gegenseitigen Verflechtungen in den Weltmarkt integriert. Der in der Zwischenkriegszeit anwachsende arabische Nationalismus war daher ein gegen den Imperialismus und die koloniale Durchdringung gerichteter Reflex. Bis zur Errichtung des Staates Israel blieb der pan-arabische Nationalismus allerdings eine Minderheitsideologie.
Ausdruck davon wurde neben dem syrischen und irakischen Baathismus vor allem der ägyptische Nasserismus und der palästinensische Nationalismus. Aber alle Spielarten des arabischen Nationalismus haben sich im letzten halben Jahrhundert zu einem konsequenten Widerstand gegen den Imperialismus unfähig gezeigt und in der einen oder anderen Form ihren Bankrott erklären müssen. Die Initiative des Kampfes gegen den Imperialismus und seinen wichtigsten Statthalter in der Region, den Staat Israel, ist – mit verursacht durch die Schwäche einer laizistischen arabischen Bewegung – auf den reaktionären Islamismus übergegangen.
Die jüdische Einwanderung nach Palästina begann Ende des 19. Jahrhunderts mit der ersten Alijah. Hintergrund der Einwanderungswellen waren vor allem in Osteuropa die Zunahme des Antisemitismus und wiederkehrende antisemitische Pogrome, wenn auch die Mehrheit nicht nach Palästina, sondern nach Mittel- und Westeuropa sowie nach Übersee flüchtete. Der in seinen Anfängen säkulare Zionismus band auch Teile der religiösen Juden/Jüdinnen ein; mit der Losung Ein Land ohne Volk für ein Volk ohne Land, die ein im Wesentlichen unbevölkertes Palästina voraussetzte, wurde bereits die ideologische Basis für die spätere Vertreibung der Palästinenser/innen gelegt.
Nach der Vernichtung großer Teile der jüdischen Bevölkerung Mittel- und Osteuropas durch den Holocaust des NS-Regimes setzte eine Massenwanderung der Überlebenden nach Palästina ein. In den ersten Jahren nach der Staatsgründung 1948 sollte mit Israel auch ein neuer starker und selbstbewusster jüdischer Mensch geschaffen werden. Ab den 1960er Jahren verschob sich das nationale Selbstverständnis dahin, dass Israel das aus dem Holocaust entstandene Bollwerk aller Jüdinnen und Juden gegen Antisemitismus sei. Ab dieser Phase kann von einem Abschluss des in den 1920er Jahren beginnenden israelischen Nationsbildungsprozesses (der allerdings nur die in Israel lebenden Juden/Jüdinnen umfasst und die palästinensischen Staatsbürger/innen des Staates ausschließt) gesprochen werden.
42. Zwischen unterdrückender und unterdrückter Nation kann es aber auch im Nahen Osten keine Neutralität geben. Zentraler Punkt muss deshalb heute die Verteidigung des Selbstbestimmungsrechtes der Palästinenser/innen und die kritische Unterstützung ihres Kampfes sein. Es ist eine unabdingbare Voraussetzung für die israelische Linke, dass sie für das Selbstbestimmungsrecht der Palästinenser/innen und gegen den anti-arabischen Rassismus in Israel kämpft, umgekehrt ist es eine zentrale Rolle jeglicher palästinensischen Linken, vehement gegen antisemitische Tendenzen aufzutreten.
Außerhalb des Nahen Ostens (und gerade im deutschsprachigen Raum) muss diese Perspektive mit einem konsequenten Kampf gegen Antisemitismus in allen seinen Formen verbunden werden. Die Politik des israelischen Staates ist nicht gleichzusetzen mit der Politik "der Israelis" und schon gar nicht mit der "der Juden". Ebenfalls verbunden werden muss diese Orientierung mit einem konsequenten Kampf gegen den in den imperialistischen Ländern deutlich verschärften anti-islamischen Rassismus.
Eine Lösung des Nahostkonfliktes muss etwas anderes als einen brüchigen "Frieden" unter imperialistischer Dominanz bedeuten, die nationalen Rechte aller in Palästina lebenden Nationen müssen garantiert werden. Wir sehen eine Lösung daher nur in einem sozialistischen Palästina/Israel im Rahmen einer sozialistischen Föderation des Nahen Ostens, das sowohl die (jüdischen) Israeli als auch die (arabischen) Palästinenser/innen als staatenbildende Nationen mit einschließt. Grundvoraussetzung hierfür ist das uneingeschränkte Recht der palästinensischen Flüchtlinge zur Rückkehr nach Palästina/Israel, was im Falle einer bewussten Entscheidung gegen eine Rückkehr auch das Recht auf Integration in den arabischen "Gastländern" und eine Zuerkennung von nationalen Minderheitsrechten beinhaltet. Eine solche binationale sozialistische Gesellschaft ist nur durch den gemeinsamen Klassenkampf der israelischen und palästinensischen Arbeiter/innen im Kontext eines weltweiten Kampfes für den Sozialismus zu erreichen.
43. Die Nation als historische Formation hat nicht nur einen geschichtlichen Entstehungszusammenhang, sie wird auch in der Zukunft nicht ewig bestehen. Die Nation ist in ihren Anfängen an die Herausbildung des Kapitalismus gebunden, sie wird aber über dessen Ende sicherlich noch weiter bestehen. In den nachkapitalistischen Gesellschaften werden sich die Nationalkulturen – gelöst von den Fesseln der bürgerlichen Gesellschaft und dem kapitalistischen Verwertungsdruck – frei entwickeln. Allerdings ist diese Tendenz nicht die einzige, sie wird mit einer Tendenz zur Verschmelzung der Nationen, zum langsamen Zurücktreten und Absterben der Nationen gekoppelt sein. In einer ersten Phase ist es wahrscheinlich, dass die Tendenzen zur Weiterentwicklung der Nationen dominieren, in einer späteren zweiten Phase wird die des Absterbens überwiegen. Aber beide Elemente werden in einer Übergangsgesellschaft miteinander kombiniert sein und einander durchdringen. Ansonsten wäre eine klassenlose Weltgesellschaft der gesamten Menschheit nicht denkbar.
Jedenfalls wird der Sozialismus und die voll entwickelte klassenlose Gesellschaft, auch wenn sie verschiedene Sprachen und natürlich auch kulturelle Unterschiede kennen wird, nicht mehr durch Nationen charakterisiert und durch nationale Differenzen fragmentiert sein. Denn Begriffe wie "Vaterland" und "Nationalgefühl" haben nur dann einen Sinn, wenn sie ihren Pendants gegenüberstehen, wenn also unterschiedliche Vaterländer und Nationalgefühle miteinander konkurrieren. Doch die Nationen werden immer mehr und immer vollständiger der Vergangenheit angehören. Die Menschen dieser künftigen Epochen werden schließlich nicht nur keine sich in der Gesellschaft bekämpfenden Klassen mehr kennen, sie werden auch mit vollem Recht von sich sagen können, dass sie keiner Nation, keinem Vaterland mehr angehören, sondern dass der gesamte Erdball ihre Heimat geworden ist und sie sich einer weltumspannenden Gesellschaft verbunden fühlen.
Beschlossen auf einer gemeinsamen Mitgliederversammlung von AL und AGM im Jahr 2006, nach einem Entwurf von Manfred Scharinger