In Venezuela ist am 15. Februar deutlicher als zunächst von vielen erwartet in einem Referendum der vom Präsidenten Hugo Chávez maßgeblich vorangetriebenen Verfassungsänderung zugestimmt worden. Aus der Magna Carta von 1999 wird damit die Einschränkung der Wiederwählbarkeit des Präsidenten und weiterer politischer AmtsinhaberInnen gestrichen. Doch der medienwirksame Freudentaumel vor dem Palacio de Miraflores, mit dem dieser Sieg Chávez´ einherging, kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass dies die Probleme der ArbeiterInnen im von der Finanzkrise gebeutelten Venezuela nicht löst.
In der venezolanischen Verfassung war bislang festgeschrieben, dass GouverneurInnen (Art. 160), Mitglieder der legislativen Räte (Art. 162), BürgermeisterInnen (Art. 174), Abgeordnete (Art. 192) und die/der PräsidentIn (Art. 230) jeweils nur für zwei aufeinander folgende Amtszeiten gewählt werden können. Dem Ansuchen des Präsidenten Hugo Chávez entsprechend hatte die Asamblea Nacional einen Antrag vorgelegt, der vorsieht, diese Beschränkungen der Wiederwählbarkeit jeweils zu streichen. Im Referendum am 15. Februar haben insgesamt über 11 Millionen VenezolanerInnen über diese Verfassungsänderung abgestimmt und ihr mit 6 Mio. (54,85%) Ja-Stimmen gegenüber 5 Mio. (45,14%) Nein-Stimmen zum Erfolg verholfen.
5,5 Mio. wahlberechtigte VenezolanerInnen und somit nahezu so viele, wie den Antrag unterstützten, nahmen jedoch nicht am Referendum teil. Hinzu kommen etwa 200.000 ungültig oder leer abgegebene Stimmzettel. Die „Ausweitung der politischen Rechte jeder Bürgerin und jedes Bürgers“, die die Verfassungsänderung laut der zur Abstimmung gestellten Formulierung bedeuten sollte, stellte sich also offensichtlich für viele nicht als eindeutig relevant dar.
Im Vorfeld des Referendums hatten auch etliche linke Organisationen und Parteien dazu aufgerufen, den Wahlzettel entweder unausgefüllt zu lassen oder nicht zur Wahl zu gehen. Zentrales Argument war dabei die zu diesem Zeitpunkt mangelnde Relevanz der Verfassungsänderung für die ArbeiterInnen. Orlando Chirino, Gewerkschaftsführer in der Strömung CCURA (Corriente Clasista, Unitaria, Revolucionaria y Autónoma) innerhalb der Gewerkschaft UNT (Unión Nacional de Trabajadores) und einer der Parteiführer der Unidad Socialista de Izquierda (USI), argumentierte, die Abänderung sei für den revolutionären Prozess nicht notwendig. Stattdessen müsse die Position der ArbeiterInnen gegenüber der Bourgeoisie und dem kapitalistischen Regime gestärkt werden. Die nächsten Wahlen würden erst in vier Jahren stattfinden, so Chirino, von der globalen Wirtschaftskrise jedoch seien die VenezolanerInnen jetzt unmittelbar betroffen. Priorität habe deshalb, beispielsweise in den ausstehenden Verhandlungen um die Kollektivverträge, die Stärkung der demokratischen Rechte der Massen sowie die Eliminierung von Privateigentum zugunsten von ArbeiterInnenkontrolle.
Im Kontext der jüngsten Entwicklungen in Venezuela wird insbesondere deutlich, worauf sich Chirino mit dieser eher vorsichtig formulierten Argumentation bezieht. Im Verlauf der letzten zwei Jahre ist es zu fast 80 Morden an GewerkschaftsaktivistInnen gekommen, ein erheblicher Teil davon ausgeübt durch die Polizei und von der Regierung sanktioniert. Aktuellstes Beispiel ist die Ermordung zweier Arbeiter durch die Polizei während Lohnprotesten beim Mitsubishi-Werk im Bundesstaat Anzoátegui am 29. Jänner dieses Jahres. Chávez bedauert dieses Ereignis zwar, kündigt aber ebenso an, dass sein Aufruf, gegen die StudentInnen-Proteste der Opposition mit Tränengas vorzugehen, auch eine Botschaft an die ArbeiterInnen sei. Angesichts dessen wird deutlich, warum Chirino argumentiert, die Stärkung, die der revolutionäre Prozess in Venezuela derzeit brauche, läge nicht prioritär in der Verfassungsänderung.
Die Liga de Trabajadores por el Socialismo (LTS, venezolanische Sektion der Fracción Trotskista (FT)) rief explizit zu einer Enthaltung im Referendum bzw. zur Abgabe eines leeren Stimmzettels auf. Sie argumentierte, dass die Verfassungsänderung Chávez' Position nicht nur gegenüber der rechten Opposition stärken würde, sondern auch seine Möglichkeiten, die Massen zu kontrollieren und einzuschränken. Deswegen wäre es nicht im Interesse der ArbeiterInnen, im Referendum mit Ja zu stimmen. Ein Nein im Referendum würde hingegen Chávez' Position nicht nur gegenüber den ArbeiterInnen schwächen, sondern auch gegenüber der rechten Bourgeoisie und dem Imperialismus. Die ArbeiterInnen können also im Referendum zwischen zwei Dingen wählen, die beide nicht in ihrem Interesse sind und werden daher zur Enthaltung aufgerufen. Während die Verfassungsänderung die Möglichkeit der Fortführung des „revolutionären Prozesses“ unter Chávez im Rahmen demokratischer Wahlen einberäumt, ist sie gleichzeitig Ausdruck der Stärkung einer individuellen Machtposition zu einer Zeit, in der besonders die Position der ArbeiterInnen gestärkt werden müsste. Diese Situation läuft auch zu den Interessen der rechten Opposition nicht gänzlich konträr.
Davon, dass die politische Rechte in Venezuela vor allem gegen die Verfassungsänderung gewesen sei, wie von Regierungsseite behauptet wird, kann nicht ohne weiteres ausgegangen werden: Insbesondere auf regionaler Ebene gibt es zum Teil eine Zusammenarbeit zwischen UnternehmerInnen und politischen AmtsinhaberInnen, die aufrecht zu erhalten durchaus im Interesse ersterer ist. So haben sich im staatlichen Fernsehen auch prompt UnternehmerInnen zu Wort gemeldet, die ihre „vollste Zufriedenheit“ mit den Ergebnissen des Referendums zum Ausdruck brachten. Und zwischen ihnen und Chávez steht einem Interview mit dem Präsidenten im privaten TV-Sender Venevisión zufolge nur Jesus Christus: Er habe nie behauptet, dass es etwas Schlechtes sei reich zu sein, sagte Chávez. Er wolle lediglich seinen Glauben zum Ausdruck bringen, dass eher ein Kamel durch's Nadelöhr ginge, als dass ein Reicher ins Himmelsreich käme. Die Zukunft Venezuelas solle für die Reichen und die Armen die bestmögliche sein und eines Tages solle es keine Armut mehr geben.
Doch dieser Tag ist gerade im Kontext der in Zeiten der Finanzkrise steigenden Armut in Venezuela weit entfernt. Nicht das Einverständnis mit den UnternehmerInnen und der Schutz des Privateigentums, sondern Maßnahmen zur Stärkung der ArbeiterInnen in ihrem Kampf um bessere Löhne und Arbeitsverhältnisse wären jetzt im Sinne der Sicherung des „revolutionären Prozesses“, den sich auch der Präsident auf die Fahnen geschrieben hat. Nicht in einer bürgerlichen Verfassung oder in Chávez´ „bolivarianischer“ Bewegung liegt für die ArbeiterInnen die Möglichkeit zur Durchsetzung ihrer Interessen, sondern in ihrer politischen und gewerkschaftlichen Selbstorganisation. Denn auch für Venezuela gilt: Die Befreiung der ArbeiterInnen kann nur das Werk der ArbeiterInnen selbst sein.