Nachdem der Balkan relativ lange vor der Krise verschont geblieben war, trifft es die Region nun umso heftiger. Im folgenden Beitrag geben wir einen Überblick über die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise auf Südosteuropa.
Spät, aber wuchtig!
In Bosnien-Herzegovina, Montenegro und Mazedonien wird inzwischen selbst ein Staatsbankrott nicht mehr ausgeschlossen. In Serbien häufen sich Streiks und Kundgebungen, seit immer mehr Firmen ihre Tore schliessen. Die oft verzweifelten Aktionen der Beschäftigten gehen dabei sehr weit. Weil ArbeiterInnen die Öffentlichkeit mit Hungerstreiks und kollektiven Selbstmorddrohungen mittlerweile nicht mehr beeindrucken, hat sich Zoran Bulatovic, Vorsitzender des unabhängigen Verbandes der Textilarbeiter in Novi Pazar, vor laufender Kamera einen Finger abgehackt und danach verzehrt. Er sei weder Kannibale noch verrückt, sie wüssten nur nicht mehr, was sie tun sollten, sagte der blasse Bulatovic zur Presse. Die Hälfte der 1.400 streikenden Angestellten von „Raska“, des einst größten Textilexporteurs von Jugoslawien, habe nicht einmal eine Krankenversicherung. Sie fordern von ihrem Betrieb jene Gehälter, die seit 1993 nicht ausbezahlt wurden, sowie einen Sozialplan.
Die Rezession schlägt zu
Dabei hatten die Menschen im ehemaligen Jugoslawien doch eben erst begonnen, sich von den Kriegswirren und dem Zusammenbruch der Republik in den 1990er Jahren zu erholen. Nachdem die Rohstoffpreise in den letzten Jahren gestiegen waren, wurde mit dem Ausbau der Abbaugebiete begonnen. Jetzt führte der Fall der Rohstoffpreise zu einer wahren Streichorgie bei Arbeitsplätzen und zu einer Welle von Betriebsschliessungen. Die Kupferminen im mazedonischen Buzim mussten ihren Betrieb ebenso einstellen wie die Nickelminen von Glogovac in Kosovo/Kosova. Das Aluminiumkonglomerat von Podgorica, eines der wichtigsten Unternehmen Montenegros, ist stark verschuldet und hat die Förderung von unrentablen Minen eingestellt.
In Serbien beruhte das Wirtschaftswachstum der letzten Jahre vor allem auf ausländischen Investitionen; diese gehen seit Monaten stark zurück. So hat beispielsweise Fiat, als wichtiger Investor, bereits angekündigt, auf geplante Investitionen in Serbien in der Höhe von umgerechnet 300 Millionen Schweizer Franken zu verzichten. Dies ist kein Einzelfall. Seit Anfang Jahr werden immer mehr Investitionen annulliert oder hinausgeschoben, die Arbeitslosigkeit steigt rasant – der Nationale Beschäftigungsdienst meldete im April 2009 bereits 760.000 Arbeitslose. Der serbische Dinar ist eingebrochen – zurzeit müssen bereits 94 Dinar für einen Euro bezahlt werden, Anfang Oktober 2008 waren es 77 Dinar.
Die verschiedenen Gesichter der gleichen Krise
In Kosovo/Kosova und in Albanien, den rückständigsten Ländern der Region, drückt sich die Krise in anderer Form aus: Die finanzielle Unterstützung durch Familienmitglieder in der Diaspora hat sich bereits deutlich reduziert. Jahrelang hatten in Westeuropa beschäftigte Exilkosovaren und AuslandsalbanerInnen ihre Familien im Heimatland finanziell unterstützt. Jetzt, in der Rezession, haben viele ihre Stelle verloren, und es reicht schlicht nicht mehr für die monatlichen Überweisungen, die den Familien in der Heimat ihr Überleben sicherten.
Der Kosovo ist ein soziales Pulverfass. Die Hälfte der Bevölkerung ist unter 25 Jahre alt. Die Arbeitslosigkeit beträgt über fünfzig Prozent. Der soziale Friede hängt an bestimmten Bedingungen: der Aussicht auf Auswanderung, den Überweisungen aus der Diaspora, der Unterstützung durch internationale Hilfsgelder sowie der Präsenz von zivilen und militärischen Organisationen. Doch weil die Budgets für Missionen und Einsätze immer mehr gekürzt bzw. in andere Krisenregionen umgeschichtet werden, sind diese Organisationen im Begriff, ihre Infrastruktur in Kosovo/Kosova abzubauen. Zudem verschärft die Asylpolitik der europäischen Staaten den Druck auf die KosovarInnen.
Doch auch in den anderen Balkanstaaten nehmen soziale Spannungen zu. Anzeichen dafür gibt es genug. So fordert die serbische Opposition Neuwahlen. In Bosnien können sich die verschiedenen durch das Dayton-Abkommen geteilten Volksgruppen kaum noch einigen. Der fragile Kompromiss des komplex organisierten, faktisch nicht aus eigener Kraft lebensfähigen Gesamtstaates wird immer wieder in Frage gestellt. Die serbische Entität, die Republika Srpska, kann mittlerweile ihre ökonomische Überlegenheit gegenüber den kroatischen und bosnischen Landesteilen ausspielen. Das von der Bevölkerung der Republika Srpska schon 2006 zu zwei Drittel unterstützte Ziel der Unabhängigkeit scheint jedoch – zumindest auf mittlere Sicht – ohne Chance auf Realisierung zu sein. Serbische Enklaven im Kosovo waren im März über Wochen von der Stromversorgung abgeschnitten. Überall auf dem Balkan häufen sich die Übergriffe auf die Minderheit der Roma.
Brüssel knausert, und der IWF wartet schon
Nach dem NATO-Angriff auf die Bundesrepublik Jugoslawien und dem Ende der bewaffneten Kämpfe trat die EU als wichtigste internationale Ordnungskraft auf dem Balkan auf. Durch die hohe Kapitalvernichtung durch den Krieg war das Gebiet schliesslich sehr geeignet für rentable Investitionen. Im Hinblick auf die Osterweiterung initiierte und finanzierte die EU Programme für wirtschaftliche Entwicklung, Handel und Forschung. Doch obwohl Brüssel der Region weitere Hilfe in Aussicht stellt, scheint die Zeit der grosszügigen EU-Programme zu Ende. Die grossen Industrienationen haben ihre eigenen Rettungspakete zu verdauen und sind nicht willens, in die krisenanfällige Region weiter Hilfs- und Unterstützungsgelder zu pumpen. Als Folge davon sehen sich immer mehr Balkanländer gezwungen, beim Internationalen Währungsfond (IWF) anzuklopfen. Dieser hat Ende März 2009 entschieden, Serbien einen Kredit von drei Millarden Euro zu gewähren. Bosnien erhält einen Kredit von über einer Milliarde. Auch Polen und Rumänien kommen in die Gunst des IWF. Allerdings sind diese Finanzspritzen nicht umsonst: „Strukturanpassungsprogramme“ nennt der IWF seine Massnahmen. Sie bedeuten Kürzungen der sozialen Ausgaben und der Löhne, Privatisierung im grossen Stil, Massenentlassungen etc. So musste sich Serbien im Gegenzug für den IWF-Kredit zu drastischen Sparmaßnahmen verpflichten: Im Budget sollen noch dieses Jahr neue Einsparungen in Höhe von 781 Millionen Euro erzielt werden, die Budgeteinnahmen durch Steuererhöhungen um 32 Mrd. Dinar steigen. Zuschüsse für das Gesundheitswesen sollen sinken, die Steuerfreigrenze für Einkommen dafür von 5.980 auf 12.000 Dinar angehoben und die Gehälter und Pensionen im öffentlichen Sektor bis zum Jahresende auf dem Niveau vom Dezember 2008 eingefroren werden – das alles bei einem verfallenden Dinar, der die Lebenshaltungskosten stark verteuert – die serbische Zentralbank rechnet zu Ende 2009 mit einer Jahresinflation von 6 bis 10 Prozent.
Der IWF – ein alter Bekannter
Der IWF, seine Politik und dessen Folgen sind auf dem Balkan nur allzu gut bekannt. Begann doch der Verfallsprozess der ehemaligen Bundesrepublik unter Führung des IWF. Als Jugoslawien zu Beginn der Achtzigerjahre wegen drohenden Staatsbankrotts dem IWF beitrat, übernahm dieser die wirtschaftliche Führung des Landes. Nach den Regeln der neoliberalen Ökonomie wurden Löhne gedrückt und Massensteuern erhöht, um das Haushaltsdefizit auszugleichen.
Mit den Reformen des IWF wurden in Jugoslawien reihenweise Betriebe zerstört. Das Einfrieren der Kredite für den industriellen Sektor hatte zur Folge, dass in den Jahren 1989 und 1990 nach Angaben der Weltbank 1.137 Firmen aufgelöst und 615.000 Beschäftigte entlassen wurden. Um die Zahlen in Relation zu setzen: Die Industrie-ArbeiterInnenschaft betrug 2,7 Millionen. Die sogenannten Reformen kamen so einer gewaltigen Deindustrialisierungswelle gleich, und die Arbeitslosigkeit schnellte, vor allem in Mazedonien, Serbien, Bosnien-Herzegowina und in Kosovo/Kosova, in die Höhe.
Heute, zwanzig Jahre später, sind die Staatskassen der meisten Nachfolgerepubliken Jugoslawiens wieder leer. Der Imperialismus in Gestalt der USA, einer die Region nun ökonomisch dominierenden EU und eines IWF, die alle gemeinsam unbeirrt an der Politik der Abwälzung der Krisenlasten auf die Schultern der Arbeitenden festhalten, diktiert den Ländern des Balkans nach wie vor seine Politik. Und die Herrschenden arbeiten auch am Balkan brav daran mit, diese Politik zu exekutieren.
Was bleibt, ist die leise Hoffnung, dass die Folgen der Wirtschaftskrise weniger dramatisch ausfallen wird als in den 1990er Jahren, als – vor dem Hintergrund eines vom IWF diktierten Stabilisierungsprogramms – eine Welle des Nationalismus Jugoslawien in den Abgrund von Kriegen und Vertreibungen führte. Aber zu hoffen allein wird auch in diesem Fall nicht reichen. Dass die Zeche für die Krise von den Arbeitenden, von den RentnerInnen und einer um eine lebenswerte Zukunft betrogenen Jugend gezahlt wird, das wird nur die Solidarität und der gemeinsame Widerstand der ArbeiterInnen über die Grenzen hinweg verhindern können.