Kapitalistische Restauration in Russland

Der Zusammenbruch der UdSSR 1989/1991 hat die Welt nachhaltig und dramatisch verändert. Die Restauration des Kapitalismus ersetzte die nachkapitalistischen Produktions- und Eigentumsverhältnisse. Diese waren im Gefolge der Oktoberrevolution geschaffen worden, doch durch Jahrzehnte der Herrschaft einer stalinistischen Bürokratie bereits nachhaltig deformiert und geschwächt. Was sind die Ergebnisse der kapitalistischen Restauration?

 

Teil 1: Das Ende der Sowjetunion

Als 1985 Michail Gorbatschow zum Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU) gewählt wurde, kamen Kräfte an die Spitze von Politbüro, Staat und Regierung, die nur in tief greifenden Reformen einen Ausweg aus der schwierigen ökonomischen Lage der Sowjetunion sahen. Die bleierne bürokratische Erstarrung, die die Jahre unter Breschnew geprägt hatten, sollte durch eine Entwicklung aufgebrochen werden, die die grundlegenden Rahmenbedingungen aufbrechen sollte. Sie waren geprägt durch eine wirtschaftliche Ordnung, die auf nachkapitalistischer Grundlage funktionierte, aber von einer diktatorischen Bürokratie beherrscht wurde. Diese Staaten waren bürokratisch deformiert, sie waren „degenerierte Arbeiter/innen/staaten“. Die wirtschaftlichen Bedingungen sollten sich in den folgenden Jahren grundlegend ändern: Als ersten Schritt prägten nun die zwei Leitbegriffe Perestroika („Umgestaltung“) und Glasnost („Offenheit“) die eingeschlagene Reformpolitik.

Wirtschaftskrise, „Glasnost“ und „Perestroika“

Im März 1985 hatte Gorbatschow erstmals die Notwendigkeit großer gesellschaftlicher Veränderungen in der UdSSR betont. Hintergrund war die Erkenntnis, dass die bürokratische Planwirtschaft in eine Sackgasse geraten war. Der Grundwiderspruch der stalinistischen Gesellschaft zwischen den nachkapitalistischen Produktionsverhältnissen und einer bürgerlich-bürokratischen politischen Herrschaft hatte bereits in den 1920er und 1930ern Jahren zu Problemen geführt. Durch den militärischen Sieg im 2. Weltkrieg war es gelungen, den Niedergang hinauszuschieben. In den 1950er und 1960er Jahren folgte eine Expansionsphase auf der Grundlage der Schwerindustrie, ohne aber eine Lösung der ökonomischen Grundprobleme zu ermöglichen. Eine Verfeinerung der Planungsinstrumentarien mit den Mitteln einer bürokratischen Herrschaft erwies sich als nicht möglich. Mitte der 1980er Jahre wiesen die ökonomischen Leitzahlen negative Trends auf, die Aufwendungen für den neuen von den USA unter Ronald Reagan aufgezwungenen Rüstungswettlauf nahmen dramatisch zu. Und der Versuch, mit den militärischen Kapazitäten der USA mitzuhalten, konnte nur durch immer größere Opfer erreicht werden. Der ins Stocken geratene Afghanistan-Krieg schränkte den ökonomischen Spielraum nur noch weiter ein.

Teile der Bürokratie waren der Meinung, dass dramatische ökonomische Reformen die einzige Möglichkeit einer Korrektur wären. Mit „Glasnost“ wurde in den Medien eine kritische Berichterstattung über politische und gesellschaftliche Ereignisse möglich. Debatten im Kongress der Volksdeputierten wurden live übertragen und breite Schichten der Bevölkerung z.B. mit geschönten Statistiken einer ineffizienten Wirtschaft, zweifelhaften Entscheidungen inkompetenter Bürokraten, einer sich permanent ausdehnenden Schattenwirtschaft, der schlechten Qualität der Produkte und der grassierenden Korruption konfrontiert. Natürlich waren das keine Folgeerscheinungen einer geplanten Wirtschaft an sich, sondern Ergebnis der fehlenden proletarischen Demokratie und einer von oben verordneten Planwirtschaft ohne breite Mitwirkungsmöglichkeiten der arbeitenden Massen.

Das grundlegende Ziel war nicht eine wie auch immer definierte „Wiederherstellung von Meinungsfreiheit“ oder die „Konstruktion einer kritischen Öffentlichkeit“. Beabsichtigt war mit Hilfe des Vehikels Glasnost der Anstoß zu einer öffentlichen Diskussion über die krisenhafte Situation. Die Bevölkerung sollte auf tiefe ökonomische Einschnitte eingestimmt werden, die eine Folge der 1986/1987 begonnenen Politik eines Umbaus der Wirtschaft, also der „Perestroika“ sein würden. Denn dass ein solcher Umbau notwendig sein würde, davon waren breite Teile der Bürokratie überzeugt.

Der Agrarsektor war immer weniger in der Lage, eine ausreichende Versorgung der Bevölkerung sicherzustellen. Der Verweis auf wetterbedingte Missernten konnte nicht mehr darüber hinwegtäuschen, dass die Mängel einer ineffizienten Produktion noch durch Verluste aufgrund mangelhafter Transport- und Lagersysteme und durch ein unwirksames Ressourcenmanagement verschärft wurden. Kolchosbauern/-bäuerinnen konnten zwar ein Zwanzigstel der Gesamtfläche in Eigenregie bewirtschaften, aber das reichte nicht aus, um die Defizite auszugleichen, ja verschärfte diese nur noch weiter, da sich die Einzelfamilien immer stärker auf die Bewirtschaftung ihrer kleinen Parzellen für die eigene Grundversorgung konzentrierten und die Kollektivwirtschaften vernachlässigt wurden.

Auch in den anderen Bereichen der Wirtschaft sah es nicht besser aus: Die Industrieproduktion war rückläufig, veraltete Kombinate produzierten mit enormem Energieeinsatz oft mangelhafte Ware, die internationalen Standards nicht genügten, dadurch konnten auch die dringend benötigten Devisen immer weniger beschafft werden. In dieser Situation musste die Bürokratie handeln – die politischen Voraussetzungen schienen 1987 reif zu sein, von der Betonung der „Glasnost“ überzugehen auf einen wirtschaftlichen Reformkurs.

Die illusionäre Hoffnung auf eine „sozialistische Marktwirtschaft“

Die Rettung sollte eine „sozialistische Marktwirtschaft“ bringen, also ein Hybrid, der auf der Basis einer Planwirtschaft durch die Kombination mit Marktelementen deren „Mängel“ ausgleichen und durch eine weitgehende Dezentralisierung die schwerfälligen Kombinate modernisieren sollte. Die Diskussion über eine Anreicherung der staatlichen Pläne durch marktwirtschaftliche Elemente war dabei nichts Neues: 1962 etwa hatte der sowjetische Ökonom Liberman eine Effizienzsteigerung durch ökonomische Anreize für einzelne Betriebe angedacht. Auch nach dem Sturz von Generalsekretär Nikita Chruschtschow im Jahr 1964 wurde von Aleksej Kossygin unter Rückgriff auf Liberman versucht, die Planungsbürokratie zu reduzieren und die Autonomie der Betriebe zu erhöhen.

Anders war, dass diesmal – vor dem Hintergrund der katastrophalen ökonomischen Situation – große Teile der Bürokratie mehr oder weniger offen die Projekte eines Umbaus der Wirtschaft unterstützten, darin die Rettung der bürokratischen Herrschaft sahen und bereit waren zu weitgehenden Zugeständnissen an Marktkräfte im Rahmen einer „sozialistischen Marktwirtschaft“.

Im Juli 1987 wurde vom Obersten Sowjet, dem sowjetischen Parlament, das „Gesetz über Staatsunternehmen“ verabschiedet. Staatliche Betriebe konnten nun ihre Produktion am von ihnen festgestellten Bedarf ausrichten. Staatsaufträge waren zwar weiterhin vorrangig zu behandeln, aber darüber hinaus konnte nach eigenen Bedürfnissen produziert werden. Damit wurden die Unternehmen für ihre Finanzen selbst verantwortlich und mussten die Ausgaben, etwa Löhne, Steuern oder Vormaterialien, selbst erwirtschaften. Mit Zulieferern konnten nun die Preise frei ausgehandelt werden. Die Aufgaben der Planbehörde Gosplan wurden beschränkt auf generelle Richtlinien, detaillierte Produktionspläne wurden auf örtlicher Ebene fixiert. Vor einem entscheidenden Punkt in der Durchsetzung von Marktkräften aber scheute die Führung zurück: Unprofitable Firmen wurden nach wie vor vom Staat vor einem bevorstehenden Bankrott gerettet.

Mit dem „Gesetz über Genossenschaften“ wurden im Mai 1988 Privatunternehmen in den Sektoren Dienstleistung und Produktion generell möglich und damit ein wichtiger Schritt zur Stärkung eines „Arbeitsmarktes“ getan. Auch die Kontrolle des Außenhandels – seit der frühen Sowjetunion war das Außenhandelsmonopol ein Herzstück der Planungsmechanismen – wurde gelockert, was zu einem verstärkten Wirken der kapitalistischen Gesetzmäßigkeiten auch in der Sowjetunion beitrug. Spätere Adaptionen erweiterten schrittweise die Möglichkeiten in der Beschäftigung von Lohnarbeiter/inne/n.

Um die Wirtschaftstätigkeit anzukurbeln, wurden für ausländische Firmen Investitionen erleichtert – Joint Ventures mit Staatsunternehmen, Genossenschaften, ja selbst mit Ministerien auf Unions- und Republikebene wurden erlaubt. Auch hier wurden ab 1987 durch Neufassungen der gesetzlichen Grundlagen die Möglichkeiten, von sowjetischer Seite korrigierend einzugreifen, zurückgenommen: War der Auslandsanteil ursprünglich auf 49 Prozent beschränkt gewesen und mussten Vorstand und Geschäftsführung von Joint Ventures sowjetisch besetzt sein, fielen diese einschränkenden Bestimmungen schrittweise weg.

Fehlende Aufbruchsstimmung

Das Kalkül des Reformflügels der Bürokratie um Gorbatschow ging letztlich nicht auf: Mit Glasnost wurde zwar das Bewusstsein, dass die sowjetische Wirtschaft in einer tiefen Krise steckte, Allgemeingut. Allerdings fungierte Glasnost nur sehr beschränkt als Motor einer breiten Aufbruchsstimmung: Denn ökonomisch gesehen waren die unter dem Namen Perestroika zusammengefassten Wirtschaftsreformen nur mäßig erfolgreich – sie führten mit ihrem Dezentralisierungsschub und dem Auseinanderdriften der Regionen zur Unterminierung der brüchigen Einheit der Sowjetunion. Das war auch kein Zufall. Denn marktsozialistische Systeme, ob in Jugoslawien, Ungarn oder eben in der Endphase der UdSSR, kombinierten nur die Schwächen einer autoritären Planwirtschaft mit denen einer auf der Konkurrenz basierenden Marktwirtschaft.

Besonders beunruhigend musste für die Bürokratie sein, dass Glasnost und Perestroika zu einem Verlust der Macht und der Autorität der Bürokratie führten. An ihre Stelle traten immer stärker lokale Abhängigkeiten und regionale Clans. Das Mehr an demokratischen Strukturen spülte auch jahrzehntelang zurückgehaltene Frustrationen an die Oberfläche: Nationale Ressentiments wurden nun ungenierter formuliert, bürokratische Herrschaftsmechanismen immer offener in Frage gestellt.

Schon 1988 eskalierten z.B. im Südkaukasus – um nur ein Beispiel zu nennen – die nationalen Konflikte zwischen Armenien und Aserbeidschan. Schießereien mit mehreren hundert Toten und Massendemonstrationen in diesen beiden Unionsrepubliken waren nur die Begleiterscheinungen dieser Tendenzen, die in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre mit dem Ausbleiben sichtbarer Erfolge der Reformbestrebungen einher gingen. Vertreibungen von Armenier/inne/n aus Aserbeidschan und gegengleiche ethnische Säuberungen in Armenien konnten auch von den bewaffneten Kräften der sowjetischen Armee nicht mehr unter Kontrolle gebracht werden – die geschwächte Zentralregierung in Moskau musste hilflos einer zunehmend nicht mehr steuerbaren Entwicklung zusehen.

Natürlich stärkten die marktwirtschaftlichen Reformen im Rahmen der Perestroika objektiv die Kräfte der kapitalistischen Restauration. Marktwirtschaftliche Reformen sind eben keine einfache „Anreicherung“ von Defiziten einer von oben verordneten Planwirtschaft, die bürokratisch deformiert ist und keine arbeiter/innen/demokratischen Mittel kennt. Die Kräfte des Marktes führen nicht nur zur Herausbildung einer Klasse von Unternehmer/inne/n, also zur Herausbildung einer Bourgeoisie. Sondern sie stärken auch die Ware-Geld-Beziehungen, unterminieren das – ohnehin illusionäre – Konzept des Aufbaus des Sozialismus in einzelnen Ländern nur noch weiter und stärken den Einfluss jener Fraktionen der Bürokratie, die sich auf eine Annäherung an die imperialistischen Länder und auf eine kapitalistische Restauration ausrichten.

Auflösungstendenzen

Bei all dem darf nicht vergessen werden, dass aber die Hauptkräfte der Bürokratie die Wirtschaftsliberalisierungen zwar als Aufweichung von Planmechanismen, aber (noch) nicht als Schritte in Richtung Kapitalismus verstanden wissen wollten. Mit dem Beginn von Glasnost und Perestroika hatten sie keine Rückkehr zum Kapitalismus beabsichtigt. Es war das illusionäre Konzept, mittels der Kräfte des Marktes und einer Dezentralisierung der Wirtschaft die Defizite einer behäbigen und innovationsfeindlichen Variante bürokratischer Planung entgegenzuwirken – so zumindest hatte Gorbatschow noch Mitte 1988 sein Konzept zur „Umgestaltung der Wirtschaftsbeziehungen“ und die Ziele der Perestroika formuliert.

Durch die Reformen wurden zwar viele Dezentralisierungsschritte eingeleitet, aber die zentralen Fraktionen der Bürokratie hielten an festgelegten Preise ebenso fest wie an der Nicht-Konvertierbarkeit des Rubels in ausländische Währungen. Auch an der Regierungskontrolle über die zentralen Bereiche der Produktion, in erster Linie über Schwerindustrie und Energieförderung wurde festgehalten. NOCH ging es – zumindest vordergründig – um eine effizientere Produktion und eine Reform von Planung und Verwaltung und nicht um eine generelle Infragestellung der zwar bürokratisch deformierten, aber immer noch nachkapitalistischen Produktionsverhältnisse.

Natürlich ist auch eine Bürokratie keine einheitliche soziale Kraft. In ihr verkörpern sich nicht nur unterschiedliche regionale Interessen und verschiedene Wirtschafts- und soziale Fraktionen, sondern sie spiegelt auch – verzerrt und gebrochen – die Wünsche und Illusionen breiterer Schichten wider. Doch die sich in der Partei langsam entwickelnde Perestroika-feindliche Stimmung konnte in der breiteren Führung noch unter Kontrolle gebracht werden: Die 19. Parteikonferenz der KPdSU bestätigte im Juni 1988 wunsch- und erwartungsgemäß die eingeleiteten Wirtschaftsreformen und wollte sie noch durch den Plan einer Entflechtung von Staats- und Parteifunktionen unterstützen.

Doch das Misstrauen in den Teilen der Bürokratie, die durch zu weitgehende Reformen ihre Privilegien in Partei, Armee und in der staatlichen Verwaltung zu verlieren fürchteten, blieb bestehen und sollte sich im Frühjahr/Sommer 1991 verdichten. Im Jahr 1988 wurde Michail Gorbatschow, bis dahin Generalsekretär der KPdSU, auch Vorsitzender des Präsidiums des Obersten Sowjets und in dieser Funktion Nachfolger von Andrej Gromyko. In der Folge stellte Gorbatschow einseitige Abrüstungsschritte in Aussicht und distanzierte sich von der so genannten Breschnew-Doktrin (Leonid Breschnew, einer der Vorgänger von Gorbatschow, hatte 1968 erklärt, dass die „sozialistischen“ Länder nur beschränkt souverän, Einmärsche sowjetischer Truppen – wie in der Tschechoslowakei – also legitim seien).

Mit diesem Bruch mit der Breschnew-Doktrin wurde nicht nur der Weg zur Herauslösung der Staaten des Warschauer Paktes aus dem Machtgefüge der Sowjetunion freigegeben, sondern auch der zu einer möglichen Auflösung der UdSSR. 1990 erklärte sich Litauen als erste Sowjetrepublik zum souveränen Staat, in kurzen Abständen folgten immer weitere Sowjetrepubliken, die nach mehr Selbstständigkeit im Rahmen eines neuen Unionsvertrages strebten.

1991 stimmten nach endlosen Verhandlungen, die die nötigen Reformen über Monate blockierten und die die zunehmende Handlungsunfähigkeit der zentralen Regierung unter Beweis stellten, die Republiken einem neuen Unionsvertrag zu, der sie zu unabhängigen Subjekten im Rahmen einer Föderation mit gemeinsamem Präsidenten, gemeinsamer Außenpolitik und gemeinsamem Militär erklären sollte. Damit sollte ein letztes Mal der bereits stark geschwächte Reformflügel die Initiative an sich reißen, bevor er die Führung an die restaurationistischen Bürokratien der einzelnen Republiken abtreten musste.

Schon am 28. Parteitag der KPdSU im Juli 1990 hatten jene Perestroika-feindlichen Kräfte der Bürokratie an die Spitze gedrängt, die sich von einer Fortsetzung des Reformkurses keinen Ausweg mehr versprachen. Denn um 1990 zeichnete sich ein Scheitern der „Reformer/innen“ auf der ganzen Linie ab: Weder konnten der Wirtschaft neue Impulse gegeben, noch konnte in der Innen- und Außenpolitik die Lage stabilisiert werden. Ganz im Gegenteil: Die Bürokratien der Länder des Warschauer Paktes lösten sich in der zweiten Jahreshälfte 1989 eine nach der anderen von Moskau, beschritten ihren Weg der Annäherung an den Westen und versuchten im Rahmen eines restaurationistischen Kurses, sich den neuen Gegebenheiten anzupassen oder übergaben – mit Ausnahme von Rumänien – vor dem Hintergrund von riesigen Massenbewegungen kampflos die Führung des Staates an offen bürgerliche Kräfte.

Doch der Film der Perestroika konnte nicht mehr angehalten und zurückgespult werden: Im Juni 1991 versuchte Ministerpräsident Pawlow zwar noch erfolglos, eine Rückverlagerung von Kompetenzen auf die zentrale Regierung zu erreichen – all das führte letztendlich aber nur zu einer Blockade, die von keiner Strömung der Bürokratie mehr aufgelöst werden konnte. An die Spitze drängten nun Leute wie Boris Jelzin, der sich als über den Strömungen erhaben und als keiner Fraktion der Bürokratie zugehörig präsentierte.

Putschversuch durch Hardliner

Der letzte Versuch zur Verteidigung der Herrschaft einer zentralen sowjetischen Bürokratie endete im August 1991im totalen Fiasko. Am Tag, bevor der neue Unionsvertrag unterzeichnet werden sollte, ergriffen einige hohe sowjetische Funktionäre um den KGB-Vorsitzenden Wladimir Krjutschkow, den Innenminister Boris Pugo, den Verteidigungsminister Dmitri Jasow, den Ministerpräsidenten Walentin Pawlow und den Vizepräsidenten der UdSSR, Gennadi Janajew, die Initiative. Die Gruppe, die sich selbst „Staatliches Komitee für den Ausnahmezustand“ nannte, versuchte im letzten Moment die drohende Auflösung der UdSSR zu verhindern. Janajew sollte Interimspräsident werden. Als klar wurde, dass mit den Reformen die wirtschaftliche und politische Situation nicht mehr in den Griff zu bringen war, setzte der stalinistische Hardlinerflügel auf den Widerstand gegen die Reformen, die nach seiner Ansicht zu weit gingen. Die nicht unbegründete Furcht dieser Flügels, dass der von Gorbatschow ausgehandelte Unionsvertrag den Republiken zu viel Macht geben und die endgültige Abspaltung der Unionsrepubliken nach sich ziehen werde, führte zu diesem letzten Aufbäumen einer nicht mehr wirklich handlungsfähigen Bürokratie.

Das Schwergewicht und die Interessen der „Putschisten“ lagen eindeutig in der politischen Sphäre: Die politischen Freiheiten, die sich die „Zivilgesellschaft“ in den letzten Jahren erobert hatte, waren ihnen ebenso ein Dorn im Auge wie der Unionsvertrag mit seinen weit gehenden Zugeständnissen an die Unionsrepubliken. Auf wirtschaftspolitischer Ebene hatten die Putschisten aber kein konsistentes Konzept anzubieten. Die vagen Gegenvorstellungen der Gegner/innen Gorbatschows reichten von einer Rückkehr zur autoritären Kommandoplanung bis zu einem Weg in Richtung zentralistischer Restauration des Kapitalismus, der die Interessen der zentralen staatlichen Bürokratie stärker berücksichtigen wollte. Die Hauptkräfte der Putschisten hatten kein Programm zur Verteidigung der Planwirtschaft. Der Unterschied lag eher in ihrer Betonung des Zentralstaates und der autoritären Herrschaft, die sie sogar vor einem positiven Bezug auf die Diktatur von Augusto Pinochet in Chile nicht zurückschrecken ließ.

Ökonomisch hatten die „Putschisten“ also neben einer Rückkehr zur Planung á la Breschnew auch nicht viel anderes als Gorbatschows gescheiterte Pläne einer sozialistischen Marktwirtschaft parat. Keine der Fraktionen der Bürokratie hatte ein tragfähiges Konzept für eine Weiterführung bzw. eine Wiederbelebung planwirtschaftlicher Methoden anzubieten. Und keine der Fraktionen fungierte als Initiatorin einer nach links strebenden, zu revolutionären Lösungen tendierenden Bewegung. Jedenfalls war der Putsch kein – wenn auch vielleicht untaugliches – Instrument zur Verteidigung einer geplanten Wirtschaft, sondern ein ohne Massenbewegungen inszeniertes Manöver zur Erhaltung der Privilegien einer abgehobenen bürokratischen Kaste.

Endgültiger Zusammenbruch

In nur drei Tagen scheiterte der „Augustputsch“. Der „krankheitshalber“ von seinen Ämtern befreite Gorbatschow kehrte nach Moskau zurück. Doch durch die Augustereignisse wurde der Zusammenbruch der Sowjetunion nur noch beschleunigt: Dem machtlosen Gorbatschow stand ab nun der von Boris Jelzin, dem Präsidenten der russischen Unionsrepublik, geführte Flügel der Bürokratie gegenüber. Während einer der Demonstrationen hatte Jelzin, mit einem Megaphon auf einem Panzer medientauglich inszeniert, den Umsturzversuch vor zehntausenden Demonstranten, die sich vor dem Parlament versammelt hatten, verurteilt und die Rückkehr Gorbatschows gefordert. Nun traten die Phrasen einer Kombination von Plan- und Marktwirtschaft in den Hintergrund. Das Interesse des Jelzin-Flügels der Bürokratie ging dahin, eine möglichst weitgehende Erhaltung der Privilegien der Bürokratie mit einer „Schocktherapie“ zu verbinden, an deren Ende ein (staats-) kapitalistisches Russland stehen würde.

Mit den Augustereignissen war der Zerfall der Sowjetunion besiegelt. Die früheren Unionsrepubliken erklärten der Reihe nach ihre Unabhängigkeit. Schrittweise wurde Gorbatschow, der im Dezember 1991 resignierte und zurücktrat, demontiert und entmachtet. Der neue starke Mann, Boris Jelzin, übernahm die Kontrolle über Medien und entscheidende Ministerien. Durch ein Dekret von Jelzin wurde die KPdSU auf dem Gebiet der russischen Teilrepublik, der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik, verboten. Schließlich wurde Ende 1991 die Auflösung der Sowjetunion beschlossen. An deren Stelle traten nunmehr 15 souveräne Staaten. Die Rechtsnachfolge der UdSSR übernahm – unter Jelzins Führung – die Russische Föderation.

Das Scheitern des „Augustputsches“ war kein historischer Zufall. Seit Ende der 1980er Jahre war die Herrschaft der Bürokratie an einem historischen Endpunkt angelangt; die wirtschaftliche Basis ihrer Herrschaft hatte sich erschöpft. Der August 1991 hatte eine neue Phase in der Desintegration der Sowjetbürokratie eröffnet. Wie in den Ländern Osteuropas stand nun auch in der UdSSR die soziale Konterrevolution auf der Tagesordnung. Denn für eine politische Revolution waren die Voraussetzungen nicht gegeben: So hatte sich in den kritischen Jahren von 1989 bis 1991 keine revolutionäre Strömung im Proletariat herausgebildet, die über eine stärkere Verankerung in wichtigen Sektoren gehabt hätte. Die politische Atomisierung der Arbeiter/innen/klasse war die Folge einer jahrzehntelangen stalinistischen Diktatur, die zur Zerstörung des Klassenbewusstseins geführt und eine Neubildung in den nachfolgenden Generationen verhindert hatte.

 

  Im zweiten Teil beschäftigen wir uns mit der Restauration des Kapitalismus in Russland in den 1990er Jahren und den politischen Konsequenzen, die daraus zu ziehen sind.