Der Theoriestrang der Kritischen Theorie erfreut sich im akademischen Milieu immer noch großer Beliebtheit. Uns geht es hier weniger um eine besonders detaillierte Analyse des theoretischen Machwerks der Kritischen Theorie. Wir wollen vielmehr zeigen, warum ihre reaktionäre politische Praxis in ihren theoretischen Konzepten wurzelt.
Die Kritische Theorie wird oftmals als Strömung der marxistischen Theorietradition angesehen. In einer Auseinandersetzung mit den Protagonisten der Kritischen Theorie und ihrer Positionierung zur StudentInnenbewegung der 1960er Jahre soll herausgearbeitet werden, wieweit diese theoretische Zuschreibung überhaupt zutrifft und inwiefern sie mit einer revolutionären politischen Praxis überhaupt kompatibel ist. Dabei geht es hier auch und gerade darum, an einem konkreten Beispiel die Scharnierstelle ihrer Theorie und Praxis heraus zu arbeiten.
Sozialer Hintergrund
Theodor W. Adorno und Max Horkheimer, die zentralen Proponenten der Kritischen Theorie, schreiben im Vorwort zur Neuauflage der „Dialektik der Aufklärung“, dass trotz aller Reflexion jeder „Wahrheit“ ein Zeitkern innewohne. Dieses Bekenntnis zur Historizität ihrer Theorie hindert sie allerdings herzlich wenig daran, universelle Wahrheiten zu konstatieren, wie im Folgenden deutlich werden wird. Umso wichtiger erscheint es uns einen Blick auf die sozio-ökonomischen Entstehungsbedingungen der Kritischen Theorie zu werfen, wobei der Fokus hier auf der Endstufe ihres Verfallsprozesses in seiner praktischen Zuspitzung liegen wird.
Was die konkrete historische Entwicklung der Theorie selbst anbetrifft, sei nur soviel angemerkt, dass sich mehr oder weniger entlang ihrer Institutionalisierung bestimmte Etappen nachzeichnen lassen. Die akademische „Heimat“ der kritischen Theorie, das Institut für Sozialforschung, konnte zunächst aufgrund der gewichtigen finanziellen Zuwendungen und des Einflusses der Frankfurter Industriellen-Familie Weil als unabhängiges Stiftungsinstitut mit dem Zweck marxistischen gesellschaftskritischen Forschens 1923 gegründet werden. Im Vorfeld des II. Weltkrieges und der Bedrohung durch das NS-Regime wurde das Institut – nach einer Zwischenstation in Genf – nach New York (und später nach Kalifornien) verschoben, wo allerdings letztlich nur mehr ein Rumpfinstitut übrigblieb und auch einige Verbindungen zu vormaligen Mitarbeitern dauerhaft abrissen. Das Institut endete nach der Rückkehr nach Frankfurt nach dem II. Weltkrieg schließlich als ein von staatlichen Forschungsgeldern bzw. -aufträgen abhängiges Institut als Hintergrund einer – so jedenfalls das Selbstverständnis – kritischen Soziologie und Philosophie.[i]
Die Degeneration der russischen Revolution und die politische Unterdrückung der Bevölkerung in den stalinistischen Ländern übten maßgeblichen Einfluss auf jegliche „sozialwissenschaftliche“ gesellschaftskritische Reflexion und Theoriebildung aus; eine Positionierung dazu war praktisch unumgänglich. Das Spektrum erstreckte sich dabei von völlig blinder Unterstützung zu genauso undifferenzierter völliger Verurteilung der degenerierten ArbeiterInnenstaaten (wie wir die bürokratisierten nachkapitalistischen Gesellschaften bezeichnen). Im konkreten Falle der Theoretiker der Kritischen Theorie bestanden zunächst noch gewisse Sympathien – verdeutlicht etwa in Friedrich Pollocks Studie „Die planwirtschaftlichen Versuche in der Sowjetunion 1917-1927“ (1929) oder in Horkheimers Äußerungen Ende der 1920er / Anfang der 1930er Jahre. Das sollte sich allerdings in zunehmendem Maße ändern – und ihre ursprünglich wohlwollende und hoffnungsvolle Kritik einer undifferenzierten Ablehnung des in der UdSSR bestehenden Gesellschaftssystems weichen.
So gingen die Vertreter der Kritischen Theorie in ihrer Verarbeitung des Stalinismus dazu über, Widerstand und Revolution generell mit der Installierung einer bürokratischen Herrschaft und einer Diktatur gleichzusetzen. Beispielsweise versuchte Horkheimer den StudentInnen das Problem ihrer Proteste folgendermaßen zu vermitteln: „Offen zu sagen, die fragwürdige Demokratie sei bei allen Mängeln immer noch besser als die Diktatur, die ein Umsturz heute bewirken müsste, scheint mir jedoch um der Wahrheit willen notwendig zu sein.“[ii] Und weiter meint er – ganz im Gleichklang mit bürgerlich-liberalen Totalitarismus-Konzeptionen – es sei „Recht und Pflicht jedes Denkenden“, zu den sozialistischen Ideen zu stehen und sie „gegen Faschismus Hitlerscher, Stalinscher oder anderer Varianz zu verteidigen“. Bereits hier wird deutlich, dass Horkheimer unter Faschismus alles versteht, was grausame Herrschaft bedeutet, und dabei auch nicht unterscheidet, ob es sich um eine kapitalistische oder nach-kapitalistische Produktionsweise und entsprechende Eigentumsverhältnisse handelt.[iii]
In diesem „Ozean der Gewaltherrschaft“ und „trotz dem verhängnisvollen Potenzial, trotz allem Unrecht im Inneren wie im Äußeren“, könne die Idee einer freien Gesellschaft (also die Kritische Theorie) im Augenblick noch als „eine Insel“ bestehen, sind Horkheimer & Co. zunächst noch überzeugt. Doch selbst diese einzig legitime Form des Widerstands – die Ausübung von Kritik, die auf große Proteste, Bewegungen und Gewalt verzichtet, und die Sicherung der „sozialistischen Idee“ in der Theorie – sollte bald passé sein. Denn Adorno und Horkheimer übernahmen im Laufe der Zeit immer stärker die kulturpessimistische Auffassung, dass sich die Möglichkeit zur Veränderung langsam schließe bzw. sich schlussendlich ganz geschlossen habe – und zwar endgültig. An dieser Stelle wird übrigens auch der zuvor bereits erwähnte Widerspruch zu der von ihnen selbst behaupteten Historizität der Wahrheit (damit auch jener, welche die Kritische Theorie selbst auszusprechen für sich in Anspruch nahm) deutlich. Man ist damit faktisch wieder im Sumpf der Geschichtsphilosophie gelandet, auch wenn diese nun, entgegen dem als naiv empfundenen Fortschrittsoptimismus der Aufklärung des 18. und 19. Jahrhunderts, negativ gewendet wurde.
Doch nicht nur der Stalinismus, sondern auch der Reformismus und die Stärke des Kapitalismus nach dem Zweiten Weltkrieg stellten einen wichtigen Einflussfaktor dar. Sowohl die verstärkte Nachfrage nach Arbeitskräften als auch die Systemkonkurrenz durch die Sowjetunion wirkten sich in einem für die ArbeiterInnenklasse durchaus vorteilhaften Kräfteverhältnis aus – und führten zu einem politischen Herrschaftssystem, das in vielen Ländern (und gerade auch in Westdeutschland) verstärkt auf Integration und weniger auf Repression der ArbeiterInnenklasse setzte.
Der Einfluss dieser historisch sehr spezifischen Konstellation auf die Theorieentwicklung in dieser Zeit ist unverkennbar; in der Kritischen Theorie materialisierte sich dieser in der Annahme, dass die ArbeiterInnenklasse vollständig in das kapitalistische System integriert sei, dass also der Kapitalismus, in ihren Worten, „totalitär“ geworden sei, alle gesellschaftlichen Sphären und Kräfte nach seinem Bilde geformt habe.[iv] Diese Auffassung wird als dauerhaftes Phänomen und damit nicht anhand von globalen und klassenbezogenen Kräfteverhältnissen sowie ökonomischen Entwicklungen analysiert – wiederum im eklatanten Widerspruch zu ihrer eigenen Auffassung von der Geschichtlichkeit der Wahrheit.[v] Es wird also angenommen, dass die kapitalistische Produktionsweise, die notwendigerweise auf dem Widerspruch von Kapital und Arbeit basiert, nun zwar als solche weiter bestehe, aber sich keine Konflikte mehr an diesem Widerspruch entzünden könnten.
(Kritische) „Revolutions“theorie
Der mit dieser Analyse verknüpfte tiefe Pessimismus kann positive Veränderung und damit widerständische Praxis fast nicht denken – was angesichts des ursprünglichen Anspruchs, „praktische Philosophie“ betreiben zu wollen, schon einigermaßen skurril erscheint. So schreibt Adorno in seinem gewohnt abgehobenen akademischen Jargon: „Es bedürfte der lebendigen Menschen, um die verhärteten Zustände zu ändern, aber diese haben sich so tief in die lebendigen Menschen hinein, auf Kosten ihres Lebens und ihrer Individuation, fortgesetzt, dass sie jener Spontaneität kaum mehr fähig scheinen, von der alles abhinge.“[vi]
Trotz dieses pessimistischen Zugangs formulieren Adorno und Horkheimer in ihrer Gesellschaftsanalyse zumindest die Elemente, die sich nach ihrer Meinung für eine neue Gesellschaft notwendig ändern müssten. Eine der wichtigsten Kategorien in ihrer Analyse ist die Aufklärung bzw. überhaupt der Zivilisationsprozess. Die Aufklärung trage aber, und das ist wohl eines der bekanntesten Theoreme der Kritischen Theorie, nicht nur progressives, sondern auch regressives Potenzial in sich, das durch die unreflektierte Naturbeherrschung des Menschen entstehe. Nur durch eine Selbstreflexion der Aufklärung könne, und das ist der Keim der Hoffnung, dieser Widerspruch zwischen Zivilisation und Barbarei aufgehoben werden. Dieses Theorem wurde in der „Dialektik der Aufklärung“ herausgearbeitet, welche als die Einlösung des von Horkheimer seit den 20er Jahren verfolgten „Theorie-Projekts“ gesehen werden kann, mit dem er eine „Erneuerung des Marxismus“ leisten wollte.
Doch zurück zur Frage des Widerstandes gegen das kapitalistische System und dessen Umwälzung. Der beschriebene Pessimismus diesbezüglich war nicht von vornherein in der Form angelegt – insofern als die objektive Notwendig- und auch Möglichkeit von Widerstand nicht völlig ausgeschlossen wurde. Das änderte sich allerdings mit fortschreitender Theorieentwicklung – zumindest was einen Teil der „kritischen Theoretiker“ betrifft. Denn Horkheimer und Adorno, die in der „Dialektik der Aufklärung“ noch diese Auffassung vertreten hatten, verabschiedeten sich zusehends davon (wie in weiterer Folge auch in ihrer Ablehnung der StudentInnenproteste ersichtlich wird). Anders Herbert Marcuse: Für ihn nehmen nach der Verabschiedung der ArbeiterInnenklasse als revolutionäres Subjekt nun die „Unter- und Überprivilegierten“ diese Rolle ein. Dabei meint er zum einen diejenigen Schichten und Gruppen, „deren vitale Bedürfnisse selbst der hoch entwickelte Spätkapitalismus nicht befriedigen kann und nicht befriedigen will“,[vii] und zum anderen diejenigen, „die aufgrund ihrer Position und Erziehung Zugang zu den Tatsachen und dem Gesamtzusammenhang der Tatsachen haben“.
In Bezug auf Marcuses „Revolutionstheorie“ drängt sich die Frage auf, wie es in einer als totalitär verstandenen Ideologie plötzlich doch möglich sein soll, eine erkenntnistheoretisch privilegierte Position in einem quasi objektiven „Außen“ einzunehmen und damit Tatsachen und Zusammenhänge zu statuieren, nicht, wie sie von einem bestimmten Standpunkt aus erscheinen, sondern wie sie an sich sind. Auf eine fundierte erkenntnistheoretische Ausweisung seiner Position wird man/frau in dieser Hinsicht freilich vergeblich warten. Übrigens kann Marcuse trotz dieser vermeintlichen Einsicht in die Zusammenhänge in erster Linie mit moralischen Argumente aufwarten – wenn etwa die „Überflussgesellschaft“ angeprangert oder ein „Widerstandsrecht der Marginalisierten“ postuliert wird, bewegen wir uns auf einer Ebene, auf die man sich vom Ausgangspunkt einer „Kritik der politischen Ökonomie“ bestenfalls in propagandistischer Absicht begibt und die für Marx jedenfalls zum Zeitpunkt der Abfassung des „Kapitals“ keinerlei systematischen Stellenwert besaß. Indem Marcuse sich darüber hinwegsetzt, stellt er sich ganz in die Traditionslinie eines an Marx‘ Frühschriften orientierten (und diese einseitig interpretierenden) humanistischen Marxismus, der letztlich mit Hegel und Feuerbach nur an der Oberfläche gebrochen hat. Auch der Ansatz, den Erkenntnis-, also Bewusstseinsstand eines Subjekts als das zentrale Moment für dessen revolutionäres Potenzial anzunehmen (und nicht dessen spezifische Stellung im Produktionsprozess des Kapitalismus),[viii] zeigt, dass es bei Marcuse mit einer historisch-materialistischen Analyse nicht weit her ist.
Dementsprechend fatal sind seine Konsequenzen in revolutionstheoretischer Hinsicht: Einerseits überschätzt er das Potenzial der „Unter- und Überprivilegierten“ als neue revolutionäre Avantgarde und andererseits schließt er die große Mehrheit der Ausgebeuteten und gleichzeitig Wertschaffenden im Kapitalismus, die ArbeiterInnenklasse, von ihrem Befreiungsprozess und dem Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft aus. Abgesehen von der Inkonsistenz in seiner Theoriebildung ist es noch einmal eine andere Frage, wieweit er politisch überhaupt hinter seinen eigenen Theorien gestanden hat, und ob sein Bekenntnis zur StudentInnenbewegung nicht eher Gramscis Maxime „Pessimismus des Intellekts, Optimismus des Willens“ entspricht. So hat er in einem Interview Mitte der 70er Jahre zu Protokoll gegeben, er hätte die StudentInnenbewegung nie als revolutionär angesehen – dazu bedürfe es der ArbeiterInnenklasse, und diese erscheint ihm ja gerade „totalitär“ in den Kapitalismus eingebunden, so dass statt der Revolution dann eigentlich nur seine Metaphysik der „Großen Weigerung“ übrig bleiben kann.
(Kritische) Totalitarismus-Theorie
Ein tatsächlicher Unterschied zwischen Adorno/Horkheimer einerseits und Marcuse andererseits zeigt sich in der politischen Positionierung zum Vietnamkrieg bzw. in der Einschätzung der USA, was ja einen wichtigen Bezugspunkt der (StudentInnen-) Proteste um 1968 darstellte. Während Marcuse den Krieg eindeutig als imperialistischen Krieg deklariert und damit die USA klar verurteilt, nehmen Adorno und Horkheimer eine viel unklarere Position ein bzw. stellen sich sogar auf die Seite der USA. So meint etwa Horkheimer in einer Rede im Amerikahaus (!) Frankfurt:
„Wenn in Amerika es gilt, einen Krieg zu führen – und nun hören Sie wohl zu – einen Krieg zu führen, so ist es nicht so sehr die Verteidigung des Vaterlandes, sondern es ist im Grunde die Verteidigung der Verfassung, die Verteidigung der Menschenrechte, und Sie können heute sagen: ja, und was passiert denn da in Vietnam? Sie können mit Recht all das Furchtbare darstellen – wenn Sie es können – was in Vietnam sich ereignet. Aber diese jungen Menschen, die da hinausgehen, zu glauben, sie verteidigen die Welt, in der es noch ein bisschen so etwas wie Freiheit gibt, gegen das Gegenteil, selbst wenn man dazu auch totalitäre Mächte leider benutzen muss. Das kann ein Fehler sein, das kann ein Denkfehler sein, es kann verkehrt sein, aber derjenige, der urteilt, der soll wenigstens sich auch um diese Dinge kümmern; der soll wenigstens, wenn er von Vietnam redet, daran denken, dass wir hier nicht zusammen wären und frei reden könnten, wenn Amerika nicht eingegriffen hätte und Deutschland und Europa vor dem furchtbarsten totalitären Terror schließlich gerettet hätte.“[ix]
Abgesehen davon, dass Horkheimer hier aufs Neue beweist, dass er kein Verständnis der sozio-ökonomischen Dynamik hat, die hinter der Entstehung von faschistischen Regimes steht (dazu später mehr), scheint er auch eine völlig unkritische Auffassung von „Menschenrechten“ zu haben. In diesem Zusammenhang sollte die Feststellung eigentlich eine Banalität sein, dass „Menschenrechte“ nichts abstrakt-Universales, sondern in einem ganz bestimmten gesellschaftlichen Kontext entstanden sind und ihre Propagierung mit bestimmten Zielsetzungen verbunden war. Es ist kein Zufall, dass die „Menschenrechte“ gerade zu dem Zeitpunkt „entdeckt“ worden sind, wo es darum gegangen ist, das für den Kapitalismus bzw. den kapitalistischen Staat so wichtige bürgerliche Subjekt ideologisch zu legitimieren. Freiheit, Gleichheit, Sicherheit, und last but not least Eigentum, das alles sind für das Funktionieren der kapitalistischen Gesellschaft ganz wesentliche Werte. Ohne die „doppelte Freiheit“ der Ware Arbeitskraft gibt es keinen Zwang, sich auf dem „freien“ Arbeitsmarkt zu verkaufen, und ohne das Recht auf Eigentum keine Trennung der Gesellschaft in eine kleine Minderheit von Produktionsmittel-BesitzerInnen und eine große Mehrheit von Besitzlosen. Dass diese „Menschenrechte“ als „natürliche Rechte“ anmuten, genauso wie der bürgerlichen Gesellschaft der Schein der Natürlichkeit anhaftet, hängt mit dem Fetischcharakter des Kapitalismus zusammen, der ganz allgemein eine Naturalisierung der gesellschaftlichen Verhältnisse bewirkt.
Die Freiheitsliebe „der“ KapitalistInnen endet jedenfalls dort, wo ihre Basis, die Klassen- und Eigentumsverhältnisse, angegriffen werden. Zur Bewahrung derselben ist „ihnen“ jedes erdenkliche Mittel recht, auf der Ebene der politischen Regimes reicht das Spektrum dabei von bürgerlich-liberal bis faschistisch-„totalitär“. Insofern erweist sich auch der Gegensatz von Demokratie versus Totalitarismus als unhaltbar. Wenn bei Horkheimer von der Verteidigung der „Menschenrechte“ die Rede ist, dann geht es ihm also explizit um die Verteidigung der bürgerlichen Gesellschaft, oder anders formuliert: des kapitalistischen Ausbeutungssystems. Und nur weil er die kapitalistischen Ausbeutungsverhältnisse, respektive die ökonomischen Grundlagen aus dem Blick nimmt und allein auf der Ebene von politischen Herrschaftsformen argumentiert kann er den Anschein dieses Gegensatzes (von totalitären und freien, demokratischen Staaten) aufrechterhalten. Damit geht aber jeder historisch-materialistische Anspruch verloren.
Marcuses methodische Herangehensweise unterscheidet sich zwar nicht grundlegend von jener Horkheimers und Adornos, er kommt, dessen ungeachtet, dennoch zu anderen Schlussfolgerungen. So übt er in einem Brief an Horkheimer heftige Kritik an dessen Rede: „’das Übergreifen totalitärer Gewalten auf die Teile der Welt, wo Freiheit noch ein Dasein hat, wenn nicht zu verhindern, so doch zu verzögern.’ Aber waren es nicht die Amerikaner, die, wo auch immer in ihrem globalen Interessenfeld eine genuin linke Bewegung aufzukommen schien, diese Bewegung blutig unterdrückt haben (auch hier wieder meistens mit Schergen des betreffenden Landes)? Waren es nicht die Amerikaner, die ruchlose ‚totalitäre Gewalten’ installierten: in Südamerika, Mittelamerika, Griechenland. – Süd-Vietnam? Allerdings kann ich nicht einen Begriff von ‚totalitär’ akzeptieren, der von vornherein so definiert ist, dass er nur auf ein kommunistisches Regime anwendbar ist.“[x]
Freilich ist die politische Positionierung von Horkheimer & Co. nicht nur einer methodischen Irrung anzulasten. Genauso wenig ist anzunehmen, dass die kritischen Kritiker schlichtweg der bürgerlichen Propaganda von der „Befreierin Amerika“ auf den Leim gegangen sind, bar jedes Bewusstseins über die politischen und ökonomischen Interessen dieser imperialistischen Macht. Tatsächlich zeigt Horkheimers Kniefall vor dem Imperialismus nicht nur seine eigene Ignoranz auf, sondern macht vor allem klar, wie weit der angesehene Uni-Professor schon seinen Frieden mit dem bürgerlichen Establishment gemacht hat. Dieses Establishment, dem er auch seine gesellschaftliche Position und Existenz verdankt, lässt dann einigen Spielraum für Widerspruch und Kritik, solange sie in der „reinen Theorie“ verbleibt. Bekommt eine systemkritische Theorie allerdings politische Relevanz, kommt das weniger gut an.
In der Kritischen Theorie werden Faschismus und Holocaust nicht als Ergebnis von zugespitzten Klassenkämpfen und der Krisenhaftigkeit des Kapitalismus, sondern als Ausdruck der „Dialektik der Aufklärung“ gefasst. Der Zivilisationsprozess sei durch den Holocaust gebrochen bzw. gehe der „Rückfall in die Barbarei“ direkt aus diesem hervor. Es sei „die Zerstörungslust der Zivilisierten […], die den schmerzlichen Prozess der Zivilisation nie ganz vollziehen konnte.“[xi] Der Holocaust wird also als der zentrale Bezugspunkt der Gesellschaftsanalyse gesetzt. Die Vertreter der Kritischen Theorie gehen dann in moralphilosophischer Manier noch weiter und setzen diesen als „neuen kategorischen Imperativ“, der den Menschen aufgezwungen wurde, um „ihr Denken und Handeln so einzurichten, dass Auschwitz nicht sich wiederhole, nichts Ähnliches geschehe.“[xii] Dahinter liegt eine Vorgehensweise (die zuvor bereits skizziert worden ist), welche die gesellschaftlichen Prozesse weniger vom Produktionsstandpunkt aus, sondern vom Standpunkt der Kultur und der Ideologie analysiert. Das wäre per se noch kein Beinbruch, wenn man/frau dies als eine nur etwas stärker vermittelte Ableitung aus der Ökonomie fassen könnte (im durchaus wohltuenden Gegensatz zur ansonsten ja nicht unüblichen direkten Ableitung ideologischer Gehalte aus Klassenpositionen). Die Frage ist allerdings, ob sich die Begriffe „Mythos“ und „Aufklärung“ im Theoriegebäude der Kritischen Theorie nicht ganz von der materiellen Basis entkoppelt haben, so dass dorthin auch kein noch so vermittlungsreicher Weg mehr zurückführt. Damit würde sie dann vollends der ursprünglich auf Hegel zielenden Kritik von Marx verfallen: aus der Logik der Sache eine Sache der Logik gemacht zu haben, also in eine Art freischwebende Begriffsgymnastik verfallen zu sein, die über die empirisch wahrnehmbare Oberfläche der Gesellschaft nur noch selbstgenügsam die Nase rümpfen kann.
Diese Form der Analyse, die die kulturelle und ideologische Ebene über- und die ökonomische Ebene unterbewertet und vor diesem Hintergrund relativ willkürlich bestimmte Prozesse und Ereignisse als zentrale Bezugspunkte setzt, wirkt sich natürlich auch in politisch-praktischer Hinsicht fatal aus: Sie macht die Kritische Theorie unfähig, Bewegungen und Veränderungen der Kräfteverhältnisse differenziert bewerten zu können, und bringt sie dazu, sich von der ArbeiterInnenklasse abzuwenden, die als völlig ins System integriert betrachtet wird. Dass eine Analyse entwickelt wird, die in jeglicher Veränderung der Kräfteverhältnisse oder Form der Herrschaftsausübung bloß noch die Möglichkeit eines neuerlichen Faschismus und das Aufflackern von Antisemitismus sieht, liegt einerseits in diesem Theorem begründet; andererseits spielen auch ganz andere Gründe eine wesentliche Rolle. So sagte Horkheimer in einem Fernseh-Interview ganz deutlich, dass er nach seiner Rückkehr nach Deutschland bei jeder aufkommenden Unruhe „Angst“ vor einem neuerlichen Faschismus gehabt habe. Nicht (nur) die Theorie, sondern die emotionale Perspektive inspiriert also seinen Positionsbezug (und natürlich auch das – allerdings kaum noch vorhandene – theoretische Schaffen in seiner Spätphase).
In praktischer Hinsicht ging die Faschismus-Analyse also so weit, dass in jeder widerständigen Protestbewegung schon die Gefahr einer „Faschisierung“ gesehen wurde; insofern, als eine Niederlage (der Proteste) nur zu einer verschärften Repression oder eben sogar zum Faschismus führen würde; und selbst ein Sieg sei kein Garant für eine freiere Gesellschaft, da er die Gefahr einer Stalinisierung in sich berge. Die einzige Losung, die die Kritische Theorie damit ausgeben kann, ist die der Resignation und der Unterordnung unter die „freiere“ und damit „zu bevorzugende“ bürgerliche Demokratie. Als Beschützerin der Demokratie hat die Kritische Theorie somit einen eindeutig herrschaftsstabilisierenden Charakter, der nicht einmal mehr als progressiv, geschweige denn als revolutionär-marxistisch eingestuft werden kann. Dass es zu so erschreckenden pro-imperialistischen Positionierungen, wie die von Horkheimer erwähnte, kommen kann, erscheint vor diesem Hintergrund dann wenig verwunderlich.
Verhältnis zur StudentInnenbewegung
Auf die StudentInnenbewegung der BRD selbst kann in diesem Artikel nicht ausführlich eingegangen werden, sondern nur auf das Verhältnis zur Kritischen Theorie und ihren zentralen Vertreter ;).[xiii] Bereits ab 1965 können die ersten Massenproteste auf den Universitäten verzeichnet werden, die von der FU Berlin ausgingen. Die Diskussionspunkte weiteten sich von der Hochschulreform und anderen universitätsspezifischen Fragen schnell auf solche der Gesamtgesellschaft aus. Die Proteste nahmen im Frühjahr und Sommer 1967 immer weiter zu. Der kapitalistische Staat antwortete darauf mit verstärkter Repression. Die Ermordung des Studenten Benno Ohnesorg am 2. Juni 1967 durch die Polizei (durch einen gezielten Kopfschuss bei einer Demonstration) war nur ein Ausdruck dieser neuen Strategie.
Die neuen Erfahrungen mit der staatlichen Repression und deren Entstellung durch die bürgerlichen Medien radikalisierten die StudentInnenbewegung jedoch nur noch weiter. Sie führten bei vielen StudentInnen zu einem Sinneswandel bezüglich der Verlässlichkeit der demokratischen Strukturen in der BRD und auch der Sinnhaftigkeit und Wirksamkeit gewaltloser Protestaktionen. Es waren nunmehr nicht nur die ureigenen studentischen Interessen, die bewegten, sondern auch die Politik der imperialistischen Mächte, die sowohl zu Gräueltaten wie dem Vietnamkrieg, als auch zur Installierung einer Militärdiktatur in Griechenland oder der Einführung der Notstandsgesetze in der BRD führte.
Seitens des Staates wurde nun gezielter auf eine Diffamierung und Kriminalisierung der StudentInnenbewegung gesetzt. Die bürgerlichen Medien, allen voran die Springer Presse, aber auch einige Gewerkschaften und Teile des bürgerlich-intellektuellen und kulturellen Establishments erwiesen sich dabei als eifrige GehilfInnen. Diese öffentliche Hetze gipfelte in dem Attentat auf den StudentInnenführer Rudi Dutschke, was eine weitere neue Eskalationsstufe bedeutete. Die StudentInnenbewegung ließ sich davon aber nicht einschüchtern – ganz im Gegenteil, neben der besprochenen Radikalisierung kam es zu einer sozialen Verbreiterung der Proteste. Neben den Studierenden beteiligten sich nun auch SchülerInnen, Lehrlinge und junge ArbeiterInnen und Angestellte an den Demonstrationen. Anders als in Frankreich oder Italien blieb die entscheidende Ausweitung der Proteste auf die ArbeiterInnen in den Betrieben allerdings aus – und damit auch die Aussicht auf eine nachhaltigere Umwälzung der Gesellschaft. Dadurch kam es bald zu einem Niedergang bzw. einer Zerstückelung der Bewegung.
Die StudentInnen beschäftigten sich freilich auch mit linken Theorien, von denen sie schließlich ihre Praxis ableiteten. Als zentrale Bezugsperson wurde dabei Marcuse auserkoren, aber auch Adorno und Horkheimer wurden viel gelesen und verarbeitet. Bereits früh, und die Position gegenüber dem Vietnamkrieg betreffend, kam es zwischen Horkheimer und den StudentInnen jedoch zu einer Auseinandersetzung. So meinte dieser: „Grotesk ist die Verwirrung unter den linken Studenten. Die Einheit von Theorie und Praxis, die sie früher gefordert haben, wird zu einer kruden anti-amerikanischen Praxis, ohne dass eine echte Theorie dahinterstände.“[xiv] Woraufhin der Sozialistische Deutsche Studentenbund (SDS) einen Offenen Brief an Horkheimer verfasste, in dem bereits 1967 Theorie und Praxis der Kritischen Theorie in Frage gestellt wurde: „Ihre in die Apologie des Faschismus und Imperialismus umgeschlagene Resignation vor gesellschaftlich verändernder Praxis lässt für uns die Frage auftauchen, welche Relevanz die kritische Theorie der gesellschaftlichen Praxis, sofern sie auf Veränderung zielt, jemals zuerkannt hat. Weiterhin stellt sich das Problem, ob es in der Entwicklung der kritischen Theorie eine Kontinuität gibt bis hin zu Ihrer Unterstützung des amerikanischen Imperialismus.“[xv] Diese Frage bliebe zu beantworten, wobei allerdings nicht nur die Theorieentwicklung über den Zeitraum seit der Institutsgründung (oder seit der 1930 erfolgten Übernahme der Institutsleitung durch Horkheimer) zu berücksichtigen wäre, sondern auch die soziale Dimension der „Institution Kritische Theorie“ beleuchtet werden müsste.
Horkheimer distanzierte sich, wie gesagt, relativ schnell von der Bewegung und gibt Habermas recht, „wenn er die Haltung der radikalen Berliner Studenten als ‚linken Faschismus’ einstuft“.[xvi] Obwohl er durchaus versucht, die Proteste nachzuvollziehen: „Mit normalen Versammlungen, gesitteten Demonstrationen haben sie nichts erreichen können. Die Universität nahm keine Notiz davon, man war sozusagen unter sich. Jetzt machen sie Krakeel, so dass man sie nicht mehr überhören kann.“[xvii]
Das Verhältnis zwischen Adorno und den StudentInnen ist da schon etwas schwieriger zu bestimmen. Er selbst meint dazu, dass er es kaum zu beurteilen vermöge, welche seiner theoretischen Motive in die StudentInnenbewegung hineingewirkt hätten. Und weiter erklärt er, dass die Kritische Theorie „nie nach Anwendbarkeit geschielt und gar dem Kriterium von Anwendbarkeit sich unterworfen“[xviii] hätte. Auch wenn „nicht auf Anwendung schielen“ für Adorno heißt, bloß nicht vorschnell aus dem Negativen der Kritik in das nächstbeste Positive hineinzuspringen – was also nicht unbedingt einem absoluten Bekenntnis zur „reinen Theorie“ gleichkommt –; letztlich ist es doch viel bequemer, sich als „kritischer Kritiker“ auf die Ebene der Kritik, der Anschauung zurückzuziehen; von wo aus man (in dem Fall wirklich nur Mann) gemütlich radikale Kommentare von sich geben kann und sich nicht mit mühsamem politischen Organisationsaufbau und lästiger Repression herumschlagen muss.
Die StudentInnen erhofften sich zu Beginn ihrer Proteste die Unterstützung Adornos, aber dieser zeigte sich distanziert und entzog sich fast jeglicher politischen Parteinahme. Wenn er etwa meint: „Unabhängig davon, welche der einander widersprechenden Darstellungen der erschreckenden Vorgänge zutrifft, ist auf jeden Fall die Beobachtung, dass stets noch in Deutschland die offizielle und mit dem Geist von Demokratie unvereinbare Neigung höherer Instanzen herrscht, Aktionen der im doppelten Sinn untergeordneten Organe a priori zu decken.“[xix][xx] stehe. Nicht nur, dass seine Kritik am staatlichen Repressionsapparat nach dem Tod Ohnesorgs sehr uneindeutig formuliert ist, deckt er, wenn sein Maßstab der Kritik nach seinen eigenen Worten dem „Geist der Demokratie“ entnommen ist, auch seinen an den Linkshegelianismus anklingenden Idealismus auf, wo ja auch der wirkliche Staat an der Vernunftidee des Staates gemessen werden sollte. Oder dass er Ohnesorg seine Sympathie aussprechen möchte, dessen Schicksal „in gar keinem Verhältnis zu seiner Teilnahme an einer politischen Demonstration“
Viel härter argumentiert hier freilich wieder Horkheimer, der es unmöglich findet, „[d]ass der Unglücksfall Ohnesorg als politischer Mord hochgespielt wird und dass das Knüppelschwingen der aufs äußerste provozierten Polizei als nicht zu rechtfertigende Brutalität hingestellt wird“[xxi]. Dies zeige, „dass die Leiter der Bewegung in der Wahl ihrer Mittel genauso bedenkenlos sind wie die Herren auf der äußersten Rechten, und wenn Herr Dutschke in unzähligen Versammlungen ungestört die Demokratie als bloßen Schein denunziert, dann führt er sich selbst ad absurdum.”[xxii] Horkheimers Argumentation ist also die folgende: Wenn die Freiheit der Meinungsäußerung ein Schein ist, wie kommt es dann, dass man sich so frei über ihre Scheinhaftigkeit mokieren kann? So gesehen, läuft die Anschuldigung der Studierenden tatsächlich auf eine sich selbst widerlegende Aussage hinaus, allerdings nur, weil sie von Horkheimer einseitig juridisch-formalistisch aufgefasst wird und beispielsweise der ganze Aspekt der ideologischen Integration außen vor gelassen wird In dieser Hinsicht ist Marcuse wieder einmal konsequenter bei den noch in der „Dialektik der Aufklärung“ vertretenen Positionen geblieben. Er würde darauf vermutlich geantwortet haben , die Demokratie gewähre eine Freiheit der Unfreien, indem sie sie ihre Gedanken ungestört aussprechen lasse, diese aber vorab so präformiere, dass ihnen sowieso jede Sprengkraft abgehe: Ziel müsse es sein, „[…] die Gesellschaft herbeizuführen, worin der Mensch nicht an Institutionen versklavt ist, welche die Selbstbestimmung von vornherein beeinträchtigen. Mit anderen Worten, Freiheit ist selbst für die freiesten der bestehenden Gesellschaften erst noch herzustellen.“[xxiii][xxiv]Es dürfte jedenfalls klar sein, dass in einer Demokratie die freie Meinungsäußerung, nicht unbegrenzt akzeptiert wird; sondern nur insoweit, als davon für die „bürgerliche Demokratie“ keine ernsthafte Gefahr ausgeht. Horkheimer
Der Enttäuschung der StudentInnen über ihre „Väter“ folgte nun auch jähe Kritik. So wurden in Adornos Vorlesungen etwa Flugschriften verteilt, wie „Was soll uns der alte Adorno und seine Theorie, die uns anwidert, weil sie nicht sagt, wie wir diese Scheiß-Uni am besten anzünden und einige Amerika-Häuser dazu“, oder „Berlins linke Faschisten grüßen Teddy den Klassizisten“.[xxv] Die Auseinandersetzung gipfelte 1969 schließlich in der Besetzung des Instituts für Sozialforschung. Adorno, Leiter des Instituts, ließ das Haus von der Polizei räumen und zeigte Hans Jürgen Krahl, einen der Führer der Frankfurter StudentInnenbewegung, wegen Hausfriedensbruch an. Adorno stellt sich also nicht nur gegen die Bewegung, sondern hetzt den StudentInnen sogar die Staatsgewalt an den Hals. Dies reflektierten die StudentInnen, indem sie dem Kritischen Theoretiker endgültig abschworen und auf Flugblättern einen Schlussstrich zogen: „Adorno als Institution ist tot.“[xxvi]
Das Verhalten von Adorno und Horkheimer wurde jedoch nicht nur von den StudentInnen verurteilt. So schrieb etwa Katja Walch-Lux, eine Freundin und Kollegin Horkheimers in einem Brief: „Aber gerade Du, der DU in der Öffentlichkeit stehst und von den Studenten einst verehrt wurdest, hättest offen zu ihnen halten müssen. Daß Du Max versagt hast in einer entscheidenden Situation – darüber kann ich nicht hinwegkommen.“[xxvii] Auch Marcuse verurteilte die beiden diesbezüglich, stellte er sich doch eindeutig auf die Seite der StudentInnen. Dieser fragt in einem Brief an Horkheimer, wie es komme, dass sie sich über die Ziele so einig seien, aber ebenso durchaus uneinig über das, was sei.[xxviii]
Was bleibt?
Die Kritische Theorie stellt – zumindest in der hier untersuchten, degenerierten Entwicklungsphase – keine Weiterentwicklung, sondern vielmehr einen Bruch mit der marxistischen Theorietradition dar. Ihre bewusste Abwendung von einem historisch-materialistischen Ansatz führt sie zu einer weitgehenden Ignoranz gegenüber den ökonomischen Grundlagen der Gesellschaft, den Produktions- und Klassenverhältnissen und ihrer entscheidenden Bewegungsdynamiken. Im Gegenzug gewinnt die ideologische Ebene zentrale Bedeutung. Indem sie ihre Analyse stark auf die Formen der Herrschaft der politischen Regimes reduzieren, kommen sie in weiterer Folge in totalitarismustheoretischer Manier zu einer Gleichsetzung von faschistischen und stalinistischen Regimes. Eine entscheidende Rolle für diese theoretische Entwicklung spielten hier zweifellos die gesellschaftlichen Umstände, konkret die Degeneration des durch die Oktoberrevolution „real gewordenen Sozialismus“ in ein stalinistisches Regime, das jeden Ansatz von ArbeiterInnendemokratie im Keim erstickte. Auch der Einfluss der Erfahrungen von Krieg und Faschismus in der Theoriebildung machte sich diesbezüglich geltend.
Die Theoretiker der Kritischen Theorie attestieren der ArbeiterInnenklasse, völlig im herrschenden System aufgegangen zu sein. Ihre eigene Stellung im System, die ihnen erlaubt, die „totale Negativität des Seins“ von den besseren Plätzen der Gesellschaft aus zu betrachten, bleibt demgegenüber relativ unreflektiert. Auch die „Kosten“, diese besseren Plätze besetzen zu dürfen – eine gewisse Loyalität gegenüber dem kapitalistischen System – werden nicht ins Treffen geführt. Georg Lukacs bemerkt in dieser Hinsicht ganz treffend: Adorno habe sich im Grand Hotel Abgrund eingerichtet, in dem man bei aller Negativität recht behaglich drei Mahlzeiten am Tag einnehmen könne.
Die meisten VertreterInnen der „Kritischen Theorie“ sind – zumindest in dieser „Degenerationsphase“ – keine Linken und schon gar keine MarxistInnen. Es ist nicht so, dass sie es einfach nicht geschafft haben, die StudentInnenproteste richtig einzuschätzen und sich ein bisschen zu weit von der politischen Praxis entfernt haben. Dass sie bei den Kämpfen der StudentInnen großteils auf der anderen Seite der Barrikaden gestanden sind, ist kein Zufall, sondern Ausdruck ihrer theoretischen Ausrichtung auf die Bewahrung der „demokratischen“, sprich kapitalistischen, Strukturen und ihrer praktischen (institutionellen) Einbettung in den westdeutschen kapitalistischen Staat. Die Propagierung von pro-imperialistischen Positionen bildet dabei den Gipfel ihrer reaktionären Praxis.
Der Rückzug in die „reine Theorie“, die mit der Notwendigkeit einer unbedingten, bedingungslosen Kritik an der Gesellschaft begründet wird, ist von Horkheimer & Co. also in keinster Weise durchgehalten worden. Sieht man von der Sinnhaftigkeit einer Gesellschaftskritik ab, die keinerlei praktische Relevanz beansprucht, muss festgestellt werden, dass die bedingungslosen kritischen Kritiker sowohl implizit (durch ihre theoretische Ablehnung von Revolten) als auch explizit (durch ihre pro-imperialistischen Statements) zu bedingungslosen Komplizen der herrschenden Klasse geworden sind. Insofern mutet es auch einigermaßen grotesk an, dass eine Theorieströmung, die dominant auf Resignation, Unterordnung und Zufriedengeben mit den herrschenden „demokratischen“ kapitalistischen Verhältnissen ausgerichtet war, eine solche Strahlkraft auf eine kämpferische Protestbewegung ausüben konnte.
Freilich, es gab auch den „linkeren“ Flügel, der sich – in Marcuse personalisiert – gegen diese reaktionären Auswüchse stellte. In theoretischer Hinsicht steht Marcuse dabei ganz auf dem Boden des „frühen“ Horkheimer und Adorno bzw. der in der “Dialektik der Aufklärung“ vertretenen Thesen. Im Unterschied zu Horkheimer / Adorno ist Marcuse aber bei diesen einmal vertretenen Ansichten geblieben und hat sich von seinem am Frühwerk orientierten humanistischen Marx-Verständnis immerhin nicht noch weiter nach rechts entwickelt. Bei aller Sympathie gegenüber seiner Unterstützung der StudentInnenproteste, sein – nicht irrelevanter – Einfluss auf deren politische Ausrichtung war nicht gerade förderlich. Bedingt durch seine Bezugnahme auf die StudentInnen als neue revolutionäre Avantgarde, die mit der Abwendung von der „völlig ins System integrierten“ ArbeiterInnenklasse einherging, arbeitete er der für die Bewegung so existenziellen Ausweitung auf die ArbeiterInnenklasse entgegen.
Aus dem Vorherigen geht hervor, dass die Kritische Theorie gesellschaftlich letztlich eine weitgehend reaktionäre Funktion erfüllt hat: Indem sie ihren Einfluss auf (gesellschaftskritische) StudentInnen dahingehend genutzt hat, ein „demokratisches“ pro-kapitalistisches Bewusstsein zu etablieren – auf Kosten einer revolutionären anti-kapitalistischen Perspektive.
Leider spielen Adorno, Horkheimer & Co. an den Unis auch heute keine völlig unerhebliche Rolle, wie sich an der Existenz der Anti-Deutschen zeigt, welche die Kritische Theorie stark rezipieren. Wie vormalig Adorno, Horkheimer & Co. gehen Anti-Deutsche davon aus, dass die ArbeiterInnenklasse völlig verblendet von der Warengesellschaft ist. Dass sie sich bei ihren Gesellschaftsanalysen in erhebliche Widersprüche verstricken, fällt den Herr- und Damenschaften dabei nicht auf. Denn der springende Punkt ist doch der: Wenn die Ideologie des Kapitalismus wirklich totalitär geworden ist, wenn nichts dem ideologischen Verblendungszusammenhang mehr zu entgehen vermag; durch welche nachgerade göttliche Eingebung finden sich die VerfechterInnen der Kritischen Theorie und ihre EpigonInnen im „Außen“ dieser Ideologie, von dem aus sie dieselbe bequem analysieren und beurteilen können?
Die Kritische Theorie spielte und spielt insgesamt eine reaktionäre Rolle zur Stabilisierung des herrschenden Systems. Die Frage ist damit nicht, wie es möglich ist, eine Integration der Kritischen Theorie in eine marxistische Theoriekonzeption zu befördern, sondern vielmehr, wie deren negative Einflüsse am besten eingedämmt werden können.
Fußnoten:
[i] Rolf Wiggershaus: Die Frankfurter Schule, S. 15f. dtv, München, 1988.
[ii] Horkheimer, Max: Traditionelle und kritische Theorie, Vier Aufsätze, Vorwort zur Neupublikation, Fischer Verlag, Frankfurt/Main, 1968, S.9
[iii] Genaueres dazu vgl. Totalitarismustheorie. Rechtfertigungsideologie für die demokratische Diktatur der Bourgeoisie, Marxismus Sondernr.15
[iv] Die einzige Öffnung in dieser Konzeption, die eindeutig von Max Webers unentrinnbarem „stahlharten Gehäuse der Hörigkeit“ inspiriert ist, sah Adorno in der Kunst, wo das „Nicht-Identische“ gegen die Vereinnahmungsversuche der Kulturindustrie sich noch Geltung verschaffen könne.
[v] Durch die Hintertür kommt somit wie gesagt das Telos der Hegelschen Geschichtsphilosophie und sein erkenntnistheoretisches Korrelat – das absolute Wissen – wieder in die als historisch-materialistisch (miss-) verstandene Theorie hinein.
[vi] Adorno, Theodor W.: Soziologische Schriften I, in: Tiedemann, Rolf (Hg.), Gesammelte Schriften, Bd.8, Frankfurt/Main, 1997, S.18; zitiert nach: Auer, Bonacker, Müller-Doohm (Hg.): Die Gesellschaftstheorie Adornos, Themen und Grundbegriffe, Darmstadt, Primus, 1998, S.31
[vii] ebd., S. 272
[viii] Damit ist zunächst einmal der analytische Klassenbegriff angesprochen; was nicht bedeutet, dass im Konkreten nicht auch empirisch-soziologische Faktoren eine Rolle spielen.
[ix] Max Horkheimer: „Diejenigen die gegen den Krieg in Vietnam hier in Frankfurt demonstrieren…“, Vietnam – Ein Vortrag und zwei Briefe, Vortrag im Amerikahaus Frankfurt am 7. Mai 1967, in: Diskus – Frankfurter Studentenzeitung, 17.Jg, Nr.4, Juni 1967, S.10; wiederabgedruckt in: Horkheimer, Max: Gesammelte Schriften, Bd. 18, Briefwechsel 1949-1973, Fischer, Frankfurt/Main, 1996, S.646f., zitiert nach: Kraushaar, Wolfgang: Frankfurter Schule und Studentenbewegung …. a.a.O., S.229
[x] Marcuse, Herbert: Brief an Max Horkheimer, 17. Juni 1967, in: Horkheimer, Max: Gesammelte Schriften, Bd. 18, Briefwechsel 1949-1973, Fischer, Frankfurt/Main, 1996, S.655-659; zitiert nach: Kraushaar, Wolfgang: Frankfurter Schule und Studentenbewegung …. a.a.O., S.261
[xi] Adorno, Theodor W.: Dialektik der Aufklärung, in: Tiedemann, Rolf (Hg.), Gesammelte Schriften, Bd.8, Frankfurt/Main, 1997, S.196; zitiert nach: Auer, Bonacker, Müller-Doohm (Hg.): Die Gesellschaftstheorie Adornos, Themen und Grundbegriffe, Darmstadt, Primus, 1998, S.46
[xii] Adorno, Theodor W.: Negative Dialektik, Jargon der Eigentlichkeit, in: Tiedemann, Rolf (Hg.), Gesammelte Schriften, Bd.8, Frankfurt/Main, 1997, S.358; zitiert nach: Auer, Bonacker, Müller-Doohm (Hg.): Die Gesellschaftstheorie Adornos, Themen und Grundbegriffe, Darmstadt, Primus, 1998, S.50
[xiii] Wenn hier die ausschließlich männliche Form verwendet wird, dann nicht ohne Grund: denn tatsächlich waren die Proponenten der Kritischen Theorie samt und sonders Männer. Zwar ist Gretel Adorno nach Angabe von Regina Becker-Schmidt, einer ehemaligen Assistentin Theodor W. Adornos, buchstäblich jede Zeile von ihm durchgegangen, ehe sie veröffentlicht wurde. Weil aber unter ihrem eigenen Namen keine Werke ediert wurden und das tatsächliche Ausmaß ihres Einflusses im Nachhinein nicht mehr feststellbar ist, musste sie mit der Rolle der „großen Frau“ vorlieb nehmen, die ja nach einer abgegriffenen Binsenweisheit „hinter jedem großen Mann steht“. Dass hierüber vom marxistischen Standpunkt in der Geschlechterfrage aus Vieles zu sagen wäre, dürfte klar sein, nur würde dies hier zu weit vom eigentlichen Thema abführen.
[xiv] Max Horkheimer, Mai 1967, Gesammelte Schriften, Bd. 14: Nachgelassene Schriften 1947-1972, Fischer Verlag, Frankfurt/Main, 1988, S.408f, zitiert nach Kraushaar, Wolfgang:…..Bd.2, S.228
[xv] Sozialistischer Deutsche Studentenbund, Gruppe Frankfort: Offener Brief an Max Horkheimer, 14. Mai 1967, Ein Vortrag und zwei Briefe, Vortrag im Amerikahaus Frankfurt am 7. Mai 1967, in: Diskus – Frankfurter Studentenzeitung, 17.Jg, Nr.4, Juni 1967 S.10; wiederabgedruckt in: Horkheimer, Max: Gesammelte Schriften, Bd. 18, Briefwechsel 1949-1973, Fischer, Frankfurt/Main, 1996, S.644f., zitiert nach: Kraushaar, Wolfgang:…. Bd.2, S.231
[xvi] Horkheimer, Max: Ernst Kux über Vietnam, China und die deutschen Studenten, 4. Oktober 1967, Späne – Notizen über Gespräche mit Max Horkeimer, in unverbindlicher Formulierung aufgeschrieben von Friedrich Pollock; in Horkheimer, Max: Gesammelte Schriften, Bd. 14, Nachgelassene Schriften 1949-1972, Fischer, Frankfurt/Main, 1988, S.444; zitiert nach: Kraushaar, Wolfgang:…. Bd.2, S.292
[xvii] Horkheimer, Max: Die Revolte der SDS-Studenten: Späne – Notizen über Gespräche mit Max Horkheimer, in unverbindlicher Formulierung aufgeschrieben von Fr4eidrich Pollock, November 1967, in Horkheimer, Max: Gesammelte Schriften, Bd. 14, Nachgelassene Schriften 1949-1972, Fischer, Frankfurt/Main, 1988, S.452 f.; zitiert nach: Kraushaar, Wolfgang:…. Bd.2, S.311
[xviii] Adorno, Theodor W.: Kritische Theorie und Protestbewegung, Interview der Süddeutschen Zeitung, 27. April 1967, zitiert nach: Kraushaar, Wolfgang:…. Bd.2, S.606
[xix] Adorno, Teodor W.: „Es ist mir nicht möglich, die Vorlesung heute zu beginnen…“, Aufforderung zu einer Gedenkminute für Benno Ohnesorg in der Vorlesung über Ästhetik, 6. Juni 1967, Diskus – Frankfurter Studentenzeitung, Extrablatt vom 8./9. Juni 1967, S.2, wiederabgedruckt in: Frankfurter Adorno-Blätter III, Göttingen, 1994, S.145; zitiert nach Kraushaar, Wolfgang:…. Bd.2, S.241
[xx] Adorno, Teodor W.: „Es ist mir nicht möglich, die Vorlesung heute zu beginnen…“, Aufforderung zu einer Gedenkminute für Benno Ohnesorg in der Vorlesung über Ästhetik, 6.Juni 1967, Diskus – Frankfurter Studentenzeitung, Extrablatt vom 8./9. Juni 1967, S.2, wiederabgedruckt in: Frankfurter Adorno-Blätter III, Göttingen, 1994, S.145; zitiert nach Kraushaar, Wolfgang:… Bd.2, S.241
[xxi] Horkheimer, Max: Zur Revolte der linken Studenten Späne – Notizen über Gespräche mit Max Horkheimer, in unverbindlicher Formulierung aufgeschrieben von Friedrich Pollock, Januar1968, in Horkheimer, Max: Gesammelte Schriften, Bd.14, Nachgelassene Schriften 1949-1972, Fischer, Frankfurt/Main, 1988, S.459; zitiert nach: Kraushaar, Wolfgang:… Bd.2, S.336
[xxii] Horkheimer, Max: Zur Revolte der linken Studenten Späne – Notizen über Gespräche mit Max Horkheimer, in unverbindlicher Formulierung aufgeschrieben von Friedrich Pollock, Januar1968, in Horkheimer, Max: Gesammelte Schriften, Bd.14, Nachgelassene Schriften 1949-1972, Fischer, Frankfurt/Main, 1988, S. 459; zitiert nach: Kraushaar, Wolfgang:… Bd.2, S.336
[xxiii] Herbert Marcuse, Repressive Toleranz, S. 98. In: Robert Paul Wolff / Barrington Moore / Herbert Marcuse: Kritik der reinen Toleranz, Suhrkamp, Frankfurt Main, 1966. Die Idee einer Präformierung der Gedanken, eines durch „geistigen Drill, Manipulation, äussere Autorität“ (S.104) beständig reproduzierten „falschen Bewusstseins“ (S.122) durchzieht Marcuses ganzen Aufsatz. Nebenbei: dass man anhand einer Ideologietheorie, die das Heil in einer Berichtigung des „falschen Bewusstseins“ sieht, versucht sein kann, das akademische Milieu als Ausgangspunkt der gesellschaftlichen Erneuerung anzusehen, erscheint bis zu einem gewissen Grad nachvollziehbar, da dort ja das Wissen um „Tatsachen“ und „Zusammenhänge“ geortet wurde. Insofern dürfte der Nachweis, dass sich eine solche Ideologietheorie des „falschen Bewusstseins“ nicht auf das Projekt einer „Kritik der politischen Ökonomie“ berufen kann, wohl nicht ganz in den Wind gesprochen sein. Aber davon bei Gelegenheit an anderer Stelle.
[xxiv] Marcuse hatte, wie Horkheimer / Adorno noch in der „Dialektik der Aufklärung“, ein Faible für solche Widersprüchlichkeiten in Form einer Contradictio in adjecto. Vermutlich hatten sich die Herren weismachen können, damit sei die Dialektik materialistisch geworden, da die Widersprüche als nicht im Geist, sondern in der Realität liegend nachgewiesen seien…
[xxv] Jäger, Lorenz: Adorno, Eine politische Biographie, Deutsche Verlagsanstalt, München, 2003, S.278
[xxvi] ebd., S.291
[xxvii] Walch-Lux, Katja: Brief an Max Horkheimer, 15. Juli 1967, in: Horkheimer, Max: Gesammelte Schriften, Bd.18, Briefwechsel 1949-1973, Fischer, Frankfurt/Main, 1996, S.661f.; zitiert nach: Kraushaar, Wolfgang:… Bd.2, S.278
[xxviii] Marcuse, Herbert: Brief an Horkheimer, 11. November 1967, in: Horkheimer, Max: Gesammelte Schriften, Bd.18, Briefwechsel 1949-1973, Fischer, Frankfurt/Main, 1996, S.667f.; zitiert nach: Kraushaar, Wolfgang:… Bd.2, S.311