Michael Haneke wird derzeit mit Preisen und Auszeichnungen überhäuft. Der Erzähler beginnt seine „deutsche Kindergeschichte“ damit, dass die rätselhaften Ereignisse in diesem Dorf „möglicherweise auf manche Vorgänge in diesem Land ein erhellendes Licht werfen können.“
Nachdem „Das weiße Band“ schon die Goldene Palme von Cannes gewinnen konnte, und den Europäischen Filmpreis in drei Kategorien abräumte, bekam er nun auch den Golden Globe für den besten fremdsprachigen Film. Wir denken, es ist alles andere als ein Zufall, dass der Film vom Establishment derart abgefeiert wird.
Deutsches Dorftum in Schwarz-weiß
Im Zentrum des Films stehen mehrere seltsame Vorfälle, die sich unmittelbar vor Ausbruch des ersten Weltkriegs in einem abgeschiedenen, protestantischen Dorf im Norden Deutschlands zutragen: der Dorfarzt verletzt sich schwer als sein Pferd über einen absichtlich gespannten Draht stolpert, eine Bäuerin stirbt bei Aufräumarbeiten im örtlichen Sägewerk, der Sohn des Barons wird mit einer Rute gefoltert, ein Säugling stirbt fast an einer Lungenentzündung weil er in der Winternacht stundenlang neben einem geöffneten Fenster liegt und das behinderte Kind der Dorfhebamme wird schwer misshandelt. Haneke erzählt was er als „deutsche Kindergeschichte“ betitelt nicht als klassischen Krimi oder Thriller, der auf eine eindeutige Auflösung dieser Ereignisse abzielt. Eine bildliche Darstellung der sonderbaren Vorkommnisse wird – mit Ausnahme des Reitunfalls des Doktors – ausgespart. Stattdessen präsentiert er Episoden aus dem alltäglichen Leben der verschiedenen Dorfbewohner und zeichnet so das Gesamtbild einer autoritären, von psychischer und physischer Gewalt geprägten Gesellschaft.
So sehen wir den Pfarrer als strengen Vater, der seine zu spät zum Abendessen erschienenen Kinder mit einer klar definierten Anzahl an Rutenhieben bestraft und den Rest der Familie als Mahnung hungrig zu Bett gehen lässt. Seinem Sohn, den er im Verdacht hat, zu masturbieren, lässt er in der Nacht die Hände an den Bettpfosten binden. Der Dorfarzt missbraucht seine 14jährige Tochter und erniedrigt seine Geliebte, die Hebamme, auf sadistische Weise. Der Gutsverwalter schlägt seinen Sohn im Jähzorn nieder und macht offen anzügliche Bemerkungen gegenüber der Kindsmagd. Der Bauer Felder zeigt keinerlei Verständnis für die Wut, die sein Sohn angesichts des Todes der Mutter gegen ihren Arbeitgeber, den Gutsverwalter empfindet, und erhängt sich schließlich aus Scham und Existenzangst.
Die Kinder, die eigentlichen Hauptakteure des Films, sind meist in irgendeiner Form in diese Episoden eingebunden und daher in vielen Szenen präsent. Da sie sich in der Interaktion mit den anderen Charakteren – den Autoritätspersonen – aber meistens passiv und unterwürfig verhalten, wird der Film oberflächlich von den Erwachsenen dominiert. Sie sind vordergründig diejenigen, die agieren, indem sie bestrafen, befehlen, zurechtweisen und belehren. Auch in den wenigen Szenen, in denen die Kinder unter sich sind, werden sie nicht als eindeutig (gewalttätig) Handelnde gezeigt. Der Dialog in diesen kurzen Szenen bleibt spärlich, vage und lässt keine klaren Rückschlüsse auf die mögliche Täterschaft der Kinder zu.
Die einzige Figur, die sich außerhalb der dörflichen Gewalt und Machtstrukturen zu bewegen scheint, ist der Lehrer. Dies spiegelt sich in seinem – von niemand sonst geteiltem – Interesse an der Aufklärung der Vorgänge wieder. Auch, seine Beziehung zu Eva, die in einigen Episoden erzählt wird, charakterisiert ihn als relativ „unbefleckten“ Außenseiter, der noch zu Liebe jenseits von Macht – und Gewaltausübung fähig ist.
Haneke stellt also Versatzstücke aus dem dörflichen Leben dar, die sich langsam zu einer indirekten Erklärung, wenn schon nicht zu einer eindeutigen Aufklärung der Ereignisse verdichten. Er tut dies in einer Schwarz-Weiß-Ästhetik, die nicht nur als ironische Anspielung auf die heile Welt, die üblicherweise in Schwarz-Weiß dargestellt ist, funktioniert, sondern den Film auch deutlich als Kunstprodukt kennzeichnet. Haneke selbst vergleicht diese Betonung der Künstlichkeit auf visueller Ebene mit dem einleitenden Geständnis des Erzählers, er wisse nicht, ob alles, was er erzählen werde, der Wahrheit entspräche (taz, 11./12. 10. 2009).
Paradoxerweise schafft diese Ästhetik aber auch eine formale Stringenz, die dieses Modell einer autoritären Gesellschaft der (farbigen) Realität vollkommen entzieht und es zu einer unantastbaren Parabel stilisiert. Mit anderen Worten, Haneke ist stilistisch so souverän und überzeugend, dass dem Zuschauer die eigentlich als subjektiv gedachte Perspektive des Lehrers leicht als absolut, als historische Tatsachen erscheinen mögen. Dazu kommt, dass Haneke auf emotionalisierende Filmmusik vollkommen verzichtet und dafür die natürlichen Geräusche der jeweiligen Umgebung umso genauer einfängt. Durch diese realistische Geräuschkulisse wird der Eindruck historischer Objektivität weiter verfestigt. Während genau diese Faktoren den Film zu einem beeindruckenden Kunstwerk und einem packenden Erlebnis machen, so unterminieren sie doch Hanekes Anspruch, den Wirklichkeitscharakter seiner Geschichte durch die Erzählweise zu brechen (derStandard, 22.11.2009).
Insgesamt unterstützt der Film eine psychologische/psychologisierende Betrachtungsweise gesellschaftlicher Verhältnisse, was sich auf mehreren Ebenen äußert. So konzentriert Haneke sich in der Kameraführung gerne auf vorhandene oder nicht vorhandene Gefühlsregungen der Charaktere – vom Film bleiben vor allem die Aufnahmen einzelner verschlossener Gesichter verschiedener DorfbewohnerInnen eindrücklich in Erinnerung. Die meisten Szenen spielen sich unabhängig voneinander, innerhalb der Häuser und der jeweiligen Kleinfamilie ab. Finden Szenen auf offener Dorfstraße statt, sind oft keine anderen Menschen im Hintergrund zu sehen. So wirken die einzelnen Familien und Paare isoliert vom Rest der Dorfgemeinschaft und es entsteht der Eindruck, dass sich die Gewalt und Machtstrukturen (die ja immer dieselben sind) automatisch, d.h. aus den Menschen selbst heraus, immer und überall reproduzieren.
Generell verwehrt der Film einen Blick auf größere gesellschaftliche und wirtschaftliche Zusammenhänge. Ein Gefühl für die räumlichen Strukturen oder die Geographie des gesamten Dorfes zum Beispiel, die konkrete wirtschaftliche Verhältnisse und gesellschaftliche Hierarchien verdeutlichen könnten, wird nicht vermittelt. Die Zahl der verschiedenen Außeneinstellungen, mit denen das Dorf in Szene gesetzt wird, ist äußerst gering, sodass sich keine größeren geographischen Zusammenhänge ergeben.
Auch die wirtschaftliche Situation der einzelnen Haushalte steht – obwohl die einzelnen Charaktere verschiedenen Klassen angehören – keineswegs im Vordergrund. Zwar sind die der jeweiligen gesellschaftlichen Stellung entsprechenden, teils beträchtlichen Unterschiede in Größe und Einrichtung der einzelnen Häuser durchaus erkennbar (was mit Hanekes grundsätzlichem Anspruch eines filmischen Realismus einhergeht) – die spezifischen räumlichen Gegebenheiten werden aber nicht speziell in Szene gesetzt oder interpretiert.
Ein weißes Band zieht sich durch die Menschheitsgeschichte
Haneke gibt sich wieder einmal als Massenpsychologe und versucht die Auswirkungen der Disziplinargesellschaft auf das einzelne Subjekt zu zeigen. So meint er in einem Interview mit der „taz“ etwa, dass genauso wie in jedem Menschen auch in jedem Kind eine große Portion Grausamkeit stecke. Schuld daran sei letztlich die Erziehung. So könne man/frau beim Lesen der Erziehungsliteratur dieser Zeit (19., bzw. Anfang des 20. Jahrhunderts) sein/ihr blaues Wunder erleben. Dies wirkt zuerst so, als würde er die Verhältnisse dem Wesen des Menschen zuschreiben, á la ein Wolf ist der Mensch dem Mensche. Obwohl er die Verhältnisse in das einzelne Subjekt hineinprojiziert, versucht er doch gleichzeitig zu zeigen, dass es nicht an der bösen Natur des Einzelnen liegt, wie sich Gewalt in der Gesellschaft reproduziert. Er zeigt Gewalt weniger als Handlung, sondern als Struktur. So sei der Pfarrer kein böser Mensch, sondern zutiefst überzeugt, dass er das Richtige tue. Dem ist auch auf einer Ebene zuzustimmen. Doch da er in seiner Gesellschaftsanalyse dabei stehen bleibt und nicht nach den Wurzeln dieses Phänomens sucht, kann es letztlich nichts anderes heißen als Gewalt löst Gewalt löst Gewalt aus.
Damit haben wir es zum einen mit einem Zirkelschluss zu tun – der Ableitung von Disziplinierung, Gewalt und Gegengewalt von eben dieser. Zum anderen wird Disziplinierung nicht generell hinterfragt bzw. nach deren Wurzel gesucht, und außerdem für „Erwachsene“ ja durchaus anerkannt. Letztlich bleibt also nicht sehr viel von Hanekes „Kleinmodell dieser Gesellschaft, von der herrschenden Schicht bis ganz hinunter" (FAZ, 15.10.2009), als eine Banalisierung und Psychologisierung der gesellschaftlichen Verhältnisse, und ein flaues Gefühl im Magen.
Und bei Haneke schwingt ein grundlegendes Problem mit. So ziehe sich Gewalt also durch alle Schichten der Gesellschaft. Empirisch stimmt das natürlich, aber diese Analyse, die die Gesellschaft Schicht für Schicht zu entblättern versucht, um auf den Kern der Gewalt zu stoßen, kann Herrschaftsstrukturen nicht erkennen. Dies funktioniert eben nur, wenn man/frau die kapitalistische Gesellschaft als eine Klassengesellschaft begreift, die durch die Ausbeutung und Unterdrückung einer Klasse durch eine andere gekennzeichnet ist, und in die andere Unterdrückungsformen eingeflochten sind.
Deutlich wird dies auch an seiner undifferenzierten Bewertung von Gewalt, die sowohl von oben als auch von unten zu verurteilen sei. Im Film kommt dies zum einen darin zum Vorschein, dass das Aufbegehren des jungen Felberbauern gegen den Baron durch das Abmähen der Kohlköpfe genau in das selbe Schema von unsinniger Aggression eingeordnet wird, wie alle anderen Delikte. Auch die Gewalttaten der Kinder gegen verschiedene Bewohner des Dorfes werden undifferenziert nebeneinander gestellt. So steht die Rache an dem Dorfarzt, der seine Tochter missbraucht und seine Angestellte tyrannisiert, neben der Verstümmelung eines behinderten Kindes. Was Haneke hier betreibt, ist eine Diffamierung von Widerstand, seine Gleichsetzung von mit der Repression der Herrschenden.
Diese undifferenzierte Analyse zieht sich noch weiter, gibt sich als Erklärung verschiedenster historischer Begebenheiten und tut dies auch weiterhin in der schon aufgezeigten Holzhackermanier. Es gehe ihm zwar, sowie auch von vielen Seiten unterstellt, schon darum eine Gesellschaft zu zeigen, die sozusagen den Keim des deutschen Faschismus in sich trägt. Destilliert man/frau nun die Grundannahmen, die dem Film zugrunde liegen heraus, so bleiben letztlich nur die autoritäre Erziehung und die patriarchale Familien- und Gesellschaftsstruktur. Im Grunde sei es also eine autoritäre deutsche Kultur, die den deutschen Faschismus und den Holocaust in sich entwickelt habe.
Das ist dann auch der reaktionäre politische Kern des Filmes. Es wird eine letztlich eine Erklärung des Nationalsozialismus geliefert, die der herrschenden Klasse seit jeher bestens ins Konzept passt und die einer ernsthaften Überprüfung nicht standhalten kann. Autoritäre Gesellschafts- und Familienstrukturen gab es in vielen Ländern (beispielsweise im viktorianischen England), faschistische Bewegungen ebenso. In Deutschland stark geworden und an die Macht gekommen, sind sie nicht wegen einer speziellen deutschen Kultur, sondern wegen der besonders tiefen Krise des deutschen Imperialismus, in deren Folge große Teile der deutschen Kapitals die Nazis gegen die ArbeiterInnenbewegung finanziert haben.
Nach dem Desaster des NS-Expansionsprojektes ging es der „demokratisch“ gewendeten Bourgeoisie darum, "die Deutschen" für den Nationalsozialismus verantwortlich zu machen, so den (kapitalistischen) Klassencharakter des Faschismus zu verschleiern, den proletarischen Widerstand und seine Opfer runterzuspielen und damit in Wirklichkeit die Nazi-Funktionäre zu entlasten. Wo ein ganzes Volk schuldig ist, verschwimmt die Schuld der (unter 20 Prozent der Bevölkerung ausmachenden) NSDAP-Parteimitlieder und besonders der KapitalistInnen im Hintergrund. Diese reaktionäre „Kollektivschuldthese“, die von denselben Westalliierten propagiert wurde, die in den Westzonen die Nazi-Bonzen als solide antikommunistische Partner reinstallierten, wurde seitdem immer oftmals reproduziert. Das reicht zuletzt bis hin zu den pseudolinken „Antideutschen“ und eben zu Filmen wie „Das weiße Band“.
Das ist die zentrale Botschaft des Films, die auch in zahllosen Würdigungen zum Ausdruck kommt. Haneke freilich will diesen Film nicht auf die deutsche Geschichte reduziert sehen, und will ihn als abstrakte Formel für jede Form von kollektiver Gewalt verkaufen. Haneke habe demnach „das Grundmodell von jeder Form von Terrorismus“ gefunden: „Immer wenn eine Idee zur Ideologie mutiert, wird sie von jenen ergriffen, denen es schlecht geht.“ (Spielfilm.de) Auch könnte, so Hanke, diese Formel auf den „linken Faschismus“ angewendet werden, wie etwa die RAF oder den Stalinismus. Denn der Kommunismus sei ja eine wunderschöne Idee. „Aber sobald so eine Idee zur Ideologie wird, wird sie lebensgefährlich. So ist es mit allen Ideen.“ (taz)
Damit ist Haneke endgültig bei der im Establishment allseits beliebten „Totalitarismustheorie “ angekommen. Sein Rundumschlag ist dabei freilich ausgesprochen selbstgerecht. Denn die Erzählerstimme, der gute Lehrer, der diese Geschichte, die sich damals zutrug, noch immer nicht ganz verstehen könne, wird als moralische Instanz aufgebaut. Unerklärlich scheint einerseits, wie dieser es schaffen konnte aus der Gewaltspirale auszubrechen, aber auch, wovon er diese gute, richtige Moral ableiten hätte sollen. Was ist diese besondere Substanz, dieser moralische Sinn, dieses Gewissen, das aus dem Nichts seine Blüten treibt?
Und wie, um Himmels willen, kommen wir aus dieser existenziellen Verzweiflung über die gottgegebene Schlechtigkeit des Menschen wohl wieder raus? Eine kleine, feine Handlungsanweisung konnten wir nach langer Suche doch finden: Wir sollten besser miteinander umgehen. Denn so Haneke: "Meine Filme laufen alle unter dem Etikett ‚Bürger-Krieg’. Wie gehen wir miteinander um. Ich glaube ja, dass die großen Kriege entstehen durch das, was durch uns vorher passiert. Dass wir dadurch empfänglich werden." (Focus, 15. 10. 2009). Fast christlich muten diese Nächstenliebe und dieser Ansatz der Veränderung der Welt durch den/die Einzelne/n an. Übrig bleibt letzten Endes also nicht viel – außer Ohnmacht und das Gefühl der Unausweichlichkeit der Geschichte, die in ewiger Wiederholung gefangen ist. Ein weißes Band ziehe sich also durch die Menschheitsgeschichte, einer Geschichte voller Gewalt und Krieg.
Was bleibt?
Haneke wirft mit dem Wort Ideologie um sich, ohne dabei zu bemerken, wie sehr die bürgerliche Ideologie ihn schon längst in ihrem Bann hat. Kein Wunder, dass er von der Bourgeoisie hoch gefeiert wird, denn er betreibt die Absicherung ihrer Herrschaft.
„Das weiße Band“ ist ein ausgesprochen professioneller Film, der die ZuseherInnen mit starken Eindrücken zurück lässt. Gleichzeitig und gerade deshalb ist der Film unterm Strich ausgesprochen reaktionär. Er macht für den Nationalsozialismus „die Deutschen“ verantwortlich und verschleiert die tatsächlichen Hintergründe. Er delegitimiert die Gegengewalt der Unterdrückten. Aus diesen Gründen muss der Streifen beim bürgerlichen Establishment so populär sein, denn er ist eine ideologische Waffe der Bourgeoisie gegen die ArbeiterInnenklasse.
Die Bourgeoisie hat Interesse an diesem Pessimismus und dieser Ohnmacht, die Haneke vermittelt. Die Lohnabhängigen sollen sich in ihr Schicksal fügen – und höchstens auf eine moralisch gute Instanz (den Lehrer, Haneke oder Gott) vertrauen. In einer Gesellschaft, in der eine Minderheit die Mehrheit der Menschheit unterdrückt und ausbeutet, in der Disziplinierung und bürgerliche Ideologie bis ins Schlafzimmer reichen, kann Gesellschaftskritik nur von einem Klassenstandpunkt aus formuliert werden. Somit ist Gewalt nicht gleich Gewalt, Moral nicht gleich Moral und Feind nicht Freund.
Eine andere Gesellschaft ist möglich. Und genau dafür bedarf es einer Analyse, die nicht von bürgerlicher Ideologie á la Haneke verseucht ist. Es bedarf der Organisierung der Unterdrückten im Klassenkampf, der immer der wichtigste Motor gesellschaftlicher Veränderung war.