Die Lage im Iran ist für linke AktivistInnen in Europa oft schwierig einzuschätzen. Authentische Stimmen aus der iranischen Linken sind selten. Daher freuen wir uns, ein Interview mit Reza Shalguni, dem Generalsekretär der „Organisation Revolutionärer Arbeiter Irans“ (ORWI-Rahe Kargar), publizieren zu können. Anton Holberg sprach mit ihm über seine eigenen Erfahrungen mit der Repression, die Stärke der Linken und seine Perspektiven für die weitere Entwicklung des Landes.
Vorbemerkung der Redaktion: Naturgemäß teilen wir nicht notwendigerweise alle Einschätzungen und Schlussfolgerungen von Reza Shalguni. Gleichzeitig halten wir dieses Interview für sehr interessant und erhellend für die aktuellen Entwicklungen im Iran und bedanken uns bei Anton Holberg, der es uns zur Verfügung gestellt hat.
A.H.: Würden Sie sich bitte zunächst vorstellen und erklären, was besonders an ‘Rahe Kargar’ in Hinblick auf seine unmittelbar nach dem Sturz des Schah-Regimes 1979 eingenommene Einschätzung des Charakters des neuen islamischen Regimes war.
R.Sh.: Meine politischen Aktivitäten begannen während meiner Studentenzeit in den 60er Jahren. Damals befand sich die Studentenbewegung im Iran hauptsächlich unter dem Einfluss der Linken, so wie das auch im Westen der Fall war, und sie spielte eine wichtige Rolle im Kampf gegen die Diktatur des Schahs. Aus der Mitte der Studentenkämpfe war es, dass viele der Aktivisten der 70er Jahren zu Berufsrevolutionären wurden.
1969 (dem iranischen Jahr 1348) wurde ich verhaftet und angeklagt, einer marxistischen Gruppe anzugehören, die später als die “Palästina Gruppe” bekannt wurde, und ich wurde zu 10 Jahren Gefängnis verurteilt. Da blieb ich bis einige Monate vor dem Zusammenbruch des Schah-Regimes im Februar 1979. Nach der Revolution führte ich meine Aktivitäten in der Organisation ‘Rahe Kargar” (Arbeiterweg) weiter.
Die Mehrzahl jener, die ‘Rahe Kargar’ schufen, waren Aktivisten der Guerillabewegung der 1970er Jahre, die in den Schah-Gefängnissen zu dem Schluss gekommen waren, dass die Guerillabewegung es nicht nur nicht geschafft hatte, der Diktatur einen Schlag zu versetzen, sondern dass sie auch die Beziehungen zwischen der linken Bewegung und der Arbeiterklasse beschädigt hatte. Sie betrachteten es deshalb als ihre vorrangige Pflicht, sich auf die Organisierung der Arbeiterklasse zu konzentrieren.
‘Rahe Kargar’ war wahrscheinlich die erste Organisation, die den reaktionären Charakter der Islamischen Republik betonte und über die Möglichkeit des Entstehens eines religiösen Faschismus diskutierte. Unsere Analyse war, dass obgleich die Kämpfe des iranischen Volkes gegen das monarchistische Regime zu einer wahren Massen- und Volksrevolution geführt hatten, die Revolution mit der Machtübernahme durch die Mullahs (die eine obskurantistische und reaktionäre Kraft sind) eine Niederlage erlitten hatte. Wir sagten voraus, dass sich die Revolution unvermeidlich nicht nur von ihren volksverbundenen Zielen distanzieren, sondern auch Zuflucht zu brutaler Unterdrückung der Feinde der herrschenden Mullahs nehmen werde.
A.H.: Wie sehen Sie den sozialen Charakter des Regimes, insbesondere der Khamenei-Ahmadinejad Fraktion (falls es sich bei ihr denn um eine einzige Fraktion handelt)?
R.Sh: Die Islamische Republik ist eine obskurantistische und gewalttätige religiöse Diktatur, die auf einer speziellen Form des Kapitalismus beruht, in der der Staat und die staatsgelenkte Wirtschaft die herrschende und ausschlaggebende Rolle spielen. Der ‘Vali-e Faqih’ oder Führer hat in der Verfassung festgelegte quasi-göttliche Rechte und kann in der Praxis jedes Gesetz völlig verändern oder über den Haufen werfen wie immer es ihm beliebt. Das wird beispielhaft in Artikel 42 der Verfassung (die in der hitzigen Atmosphäre der Revolution geschrieben wurde) deutlich, der ausdrücklich die Kontrolle des Staates über die strategischen Positionen der Wirtschaft festlegt.
Vor ein paar Jahren jedoch stellte Khamenei mit einem einzigen Befehl die ganze Logik dieses Artikels auf den Kopf und machte ihn zu einem, der die Privatisierung festlegt. Dazu brauchte er weder den Artikel zu verändern, noch eine Referendum – nicht einmal ein gefälschtes – zu organisieren, wie das von der Verfassung für den Fall der Veränderung zentraler Artikel verlangt wird.
Somit sind in der Islamischen Republik nicht nur die Grundfreiheiten, sondern auch die Herrschaft des Rechts selbst bedeutungslos, und der Führer steht, sogar dem Gesetz nach, über dem Gesetz. Das Konzept der “absoluten velayat-e faqih”, das ursprünglich von Khomeini aufgebracht worden und nach seinem Tod der Verfassung hinzugefügt worden war, gibt dem Vali-e Faqih (Führer) eine Macht, die in der Realität größer ist als die absoluter Monarchen in der vorkapitalistischen Ära (sogar in der iranischen Geschichte). In Khomeinis Definition der “absoluten velayat-e faqih” kann der Vali-e Faqih sogar eine zeitweise Aufhebung der Beachtung solcher vitaler religiöser Pflichten wie der täglichen Gebete, des Fastens oder irgendeiner anderen religiösen Pflicht verfügen, wenn das seiner Meinung nach die Islamische Regierung retten würde.
Wenn nötig, kann er wann- und woimmer er es für angebracht halt alle von seinem eigenen Regime verabschiedeten Gesetze annullieren. Sie wissen vielleicht, dass Khomei im Sommer 1988 die Hinrichtung der meisten politischen Gefangenen befahl, mehrerer Tausend an der Zahl, die alle Strafen verbüßten, zu denen sie von Revolutionsgerichten verurteilt worden waren, wobei viele von ihnen schon einen Großteil ihrer Haft verbüßt hatten.
Die Hinrichtungen wurden allein auf Grundlage der Art von Antwort durchgeführt, die die Gefangenen auf Fragen gaben, die absolut nichts mit dem zu tun hatten, wessen sie ursprünglich angeklagt worden waren, und die sich vornehmlich um den religiösen Glauben drehten. In wenigen Wochen wurden Tausende massakriert. Das Verbrechen war derart abscheulich, dass Ayatollah Montazeri, damals offiziell Stellvertreter Khomeinis und als sein Nachfolger designiert, es ein Verbrechen gegen die Sharia (das islamische Gesetz) nannte, woraufhin er abgesetzt wurde.
In der Islamischen Republik existiert das Recht, zu solchen Organen wie dem Majlis (Parlament) oder zum Staatspräsidenten (beides sind wohlbemerkt keineswegs Hauptorgane der Macht) gewählt zu werden, nicht, obgleich das Wahlrecht auf dem Papier anerkannt wird. Nur diejenigen, die vom ‘Wächterrat’ akzeptiert werden, dessen wichtigste Mitglieder vom Führer des Regimes handverlesene Mullahs sind, können sich zur Wahl stellen. Und dieser Auswahlprozess beruht nicht auf irgendeinem Gesetz, das im Land verabschiedet wurde. Das Hauptkriterium für die Auswahl durch diese Mullahs, ist, unabhängig von den vom Kandidaten zum Ausdruck gebrachten politischen Ansichten, dass sie sich absolut der Treue des Kandidaten gegenüber der Person des Führers sicher sein können.
In der Islamischen Republik sind alle Schlüsselpositionen der Macht in den Händen des Führers konzentriert. Von der Befehlsgewalt über die Streitkräfte über die Ernennung des Chefs der Justiz (der alle Gerichte im Land kontrolliert) bis hin zum Chef des staatlichen Radio und Fernsehens (das alleine im Land senden darf). Die Wirtschaft des Landes befindet sich tatsächlich in den Händen des Führers, nicht nur vermittels des Staatssektors, der 70% der Wirtschaft ausmacht, sondern auch durch die ‘Stiftungen’, die sich außerhalb des öffentlichen Sektors befinden, aber vom Führer kontrolliert werden. So eine ist die ‘Stiftung für die Unterdrückten’ (bonyad-e mostaz’afan), andere die ‘Qods Razavi Stiftung’ (astan-e qods-e razavi), das ‘Imam Hilfskomittee’ (komite emdad-e emam) und praktisch alle religiösen Stiftungen im Land, die einen wesentlichen Teil der Wirtschaft kontrollieren.
Jetzt, wo sie angefangen haben, den öffentlichen Sektor zu privatisieren, ist es klar geworden, dass sie das Eigentum des Staates auf solche Institutionen wie das Revolutionsgardekorps (sepah pasdaran) trasferrieren, die sich ihrerseits alle unter der Kontrolle des Führers befinden. So werden sogar der offizielle und rechtliche Status der wirtschaftlichen Institutionen geändert. Sie alle enden in der Tasche des Führers und seiner treuen Unterlinge.
Die Ungleichheit zwischen Männern und Frauen ist eines der fundamentalen Prinzipien der Islamischen Republik, und ein bedeutender Teil des Nationaleinkommens ist der Durchsetzung dieses Prinzips gewidmet. Den Gesetzen entsprechend ist eine Frau halb soviel wert wie ein Mann. Nach Ansicht der Führer dieser Regierung sind Denkprozess und psychische Balance von Frauen derart, dass sie das außerstande setzt, sensitive Posten wie Richter, Präsident oder auch Freitagspredigt-Imam einzunehmen. Das zu erlauben, hieße, die Gesellschaft unerwünschtenKonsequenzen auszusetzen. Aus ihrer Perspektive kann sogar die Zusammenarbeit zwischen den Geschlechtern am Arbeitsplatz zu Korruption und Prostitution führen. Es ist kein Zufall, dass sie heute einen Aufstand darum machen, Männer und Frauen in Universitätshörsälen zu trennen.
Eine der wichtigsten und teuersten täglichen Aktivitäten des Staates im Iran heute ist die Überwachung dessen, was Frauen anziehen, und die Erzwingung des Hejab (islamische Kleidung). Da Frauen Sport außerhalb des Gesichtskreises von Männern betreiben müssen, verbietet das der Mehrheit der Schülerinnen und Studentinnen an Schulen und Universitäten jede sportliche Aktivität. Den offiziellen Medien zufolge ist die Gesundheit von rund 70% der Mädchen wegen der Unmöglichkeit, irgendeinen Sport zu betreiben, geschädigt.
Die Islamische Republik unterdrückt jede unabhängige Organisierung von Arbeitern. Heute sitzen Arbeiter im Gefängnis, weil sie beschuldigt werden, den Versuch unternommen zu haben, unabhängige Gewerkschaften zu gründen. Einige sitzen sogar deshalb im Gefängnis, weil sie eine 1. Mai-Veranstaltung organisiert haben.
Heute sind rund 80% aller Arbeiter als Zeitarbeiter beschäftigt, und es ist jetzt über zehn Jahre her, dass Arbeiter in Betrieben mit weniger als zehn Personen nicht mehr unter den Schutz des Arbeitsrechts und in der Tat überhaupt irgendeiner gesetzlichen Fürsorge fallen. Sie sind dem Gesetz des Dschungels ausgeliefert. Aber die, die an Arbeitsstellen mit weniger als zehn Beschäftigten arbeiten, stellen die Mehrheit der arbeitenden Bevölkerung im Land. Wir können diese Liste unendlich weiterführen, aber ich fürchte, dass ich unsere Leser langweilen werde. Sie können jetzt selbst Wesen und sozialen Charakter des Regimes einschätzen.
Es ist nützlich, uns selbst daran zu erinnern, dass die generelle Abwesenheit von Rechten im Nahen und Mitteren Osten eine derart hässliche Realität ist, dass in den Augen einiger ausländischer Beobachter die Lage im Iran verglichen mit einigen anderen Ländern der Region gar nicht mal so kritisch aussieht. Es besteht kein Zweifel daran, dass die im Iran herrschenden Bedingungen keineswegs so schlimm sind wie in Afghanistan, Pakistan, Irak und anderen regionalen Diktaturen. In Saudi Arabien zum Beispiel haben Menscherechte absolut keine Bedeutung und können folglich nicht verletzt werden.
Aber es sollte nicht vergessen werden, dass der Iran eine Revoltion der Volksmassen erlebt hat, und deshalb müssen die dort herrschenden Zustände im Lichte der Kämpfe des Volkes dieses Landes über die letzten hundert Jahre hinweg gesehen werden. Vergessen Sie nicht, dass das iranische Volk vor mehr als 100 Jahren die erste Revolution in Asien für Demokratie gemacht hat.
A.H.: Es ist argumentiert worden, dass die heutige Opposition hauptsächlich städtisch und eine Mittlelklase-Opposition sei, während das Regime sich auf die ländlichen Massen stütze. Andererseits hat man darauf hingewiesen, dass heute über 70% der iranischen Bevölkerung in Städten leben. Es wurde aber auch gesagt, dass die meisten Städte des Landes sozial und was die kulturellen Werte dort betrifft mehr wie große Dörfer als wie moderne Städte seien. Was halten Sie von diesen Überlegungen, die darauf zielen, die Opposition als eine Minderheit darzustellen, wenn auch eine starke?
R.Sh.: Zunächst einmal haben Sie ja selbst schon darauf hingewiesen, dass 70% der Bevölkerung in Städten leben, und die Bauern, selbst wenn jeder von ihnen Khamenei und Ahmadinejad unterstützte, noch immer die Minderheit stellten. Aber es gibt Hinweise darauf, dass die Unzufriedenheit, wenn sie in den Dörfern auch nicht so groß wie in den Städten sein sollte, dort doch kaum geringer ist. Bedenken Sie doch, dass die Landwirtschaft sehr unter der Wirtschaftspolitik des Regime gelitten hat. Viele der bäuerlichen Produkte sind durch den Steinschlag von landwirtschaftlichen Importen aus dem Ausland (die für die obere Bourgeoisie, d.h. Verwandte von führenden Mullahs und denen, die über politische Macht verfügen, lukrativer und profitabler sind) vom Markt gefegt worden. Die dörfliche Ökonomie muss heute schauen, wo sie bleibt.
Zweitens lebt ein Drittel der Bevölkerung in Städten mit über 500.000 Einwohnern. Darüberhinaus beträgt der Anteil der Landwirtschaft am BNP nur 11%, und damit sind viele der kleineren Städte auch nicht mit der dörflichen Wirtschaft verbunden. Denken Sie bitte daran, dass wir in über 50 Städten Universitäten haben und diese damit nicht mehr als große Dörfer anzusehen sind. Ich denke, dass diejenigen, die das Thema des Einflusses der Bauenschaft und Quasi-Bauernschaft aufbringen, die Iraner insgesamt als traditionell zeichnen wollen und so als Leute, die das gegenwärtige Velayat-e Faqih-Regime verdienen. Das dient, eher als dass es eine politische Analyse ist, dazu, die Menschen im Iran zu erniedrigen und ihr Potential zu negieren.
Drittens hatten an den Protestdemonstrationen vom 15.Juni in Teheran dem zur Fraktion der ‘Prinzipalisten’ [Ahmadinejad’s Fraktion, A.H.] gehörenden Bürgermeister von Teheran, Qalibaf, zufolge über drei Millionen Menschen teilgenommen. Ist es nicht sonderbar zu erklären, die gehörten alle zur “Mittelklasse”? Weiterhin besteht kein Zweifel daran, dass die Jugend eine Hauptrolle bei den gegenwärtigen Demonstrationen spielt. Vielen Berichten zufolge sind nahezu 70% der (35% der Gesamtbevölkerung stellenden) Fünfzehnbisdreißigjährigen arbeitslos. Kann man die Arbeitslosen zur Mittelklasse zählen?
Viertens ist die gegenwärtige Bewegung eine antidiktatorische Bewegung, die unter sehr gewalttätigen Umständen stattfindet. Diejenigen, die zu Demonstrationen gehen, wissen, dass sie nicht zu einem Picnic gehen. Sie könnten festgenommen, gefoltert oder sogar getötet werden. Deshalb muss, wenn die großen Wellen von Protestierenden gegen das Regime in vielen Städten bei jeder sich bietenden Gelegenheit ungeachtet aller brutalen vorsorglichen Maßnahmen der Sicherheitskräfte auf die Straße geht, das auf das große explosive Potential der unzufriedenen Bevölkerung verweisen.
Lassen Sie uns fünftens, um etwas mehr Licht in die Sache zu bringen, für eine Minute annehmen, dass die soziale Basis der Proteste nicht die Mittelklasse ist, sondern Feudale und Monarchisten. Was müssen wir in Hinblick auf die Forderungen und Parolen der Bewegung sagen? Ist die Opposition gegen eine obskurantistische absolute Monarchie ungerechtfertigt?
Ich erinnere mich, das in meiner Jugend während der Opposition der Jugend und Studenten gegen den Vietnam-Krieg Richard Nixon eine Gegendemonstration von Arbeitern mit Hilfe der bürokratischen Führung der Gewerkschaften organisierte und sie als die Vertreter der “schweigenden Mehrheit” bezeichnete. Für uns alle aber waren sie “sozialimperialistische” Gewerkschaften. Ich glaube noch immer, dass wir recht hatten. Keine Bewegung kann alleine auf der Basis ihrer Klassenzusammensetzung beurteilt werden.
A.H.: Würden Sie die zunehmend harten Reaktionen des rechten Flügels des Regimes gegen die Opposition, die soweit gehen, diese als ‘mohareb’ (“Feinde Allahs”, gegen die Krieg zu führen ist und die folglich getötet werden sollten) zu bezeichnen, als Zeichen der Stärke oder der Schwäche des Regimes sehen?
R.Sh.: Die Reaktion von Khamenei und seinen Unterstützern zeigt zweifellos ihre Schwäche. Sie haben derartig Angst, dass sie das Heiligste ihrer eigenen heiligen Glaubenssätze niedergetrampelt haben. Als sie zum Beispiel wehrlose unbewaffnete Demonstranten am heiligsten Tag des Shia-Kalenders, Ashura, auf den Straßen Teherans und einigen anderen großen Städten massakriert haben, haben sie deutlich gemacht, dass sie willens sind, was auch immer zu tun, um sich an der Macht zu halten.
In der Tat hat die Gleichzeitigkeit der Krise innerhalb des Regimes und die Unbeirrbarkeit der Volksproteste ihnen tiefe Furcht eingeflößt. Die Benutzung des Konzeptes ‘moharab’ sagt schon genug. Ein ‘Moharab’ ist jemand, der Krieg gegen Gott und seinen Propheten führt. Aber im Iran hat die Mehrzahl der Menschen weder ein Problem mit Gott noch mit dessen Propheten. Sie steht in Opposition zur Regierung von Ali Khamenei. Selbst im Kampf gegen ihn hat das Volk nicht zu den Waffen gegriffen, sondern friedlich demonstriert, was der Verfassung eben dieses Regimes zufolge sein unveräußerliches Recht ist, und die Regierung hat kein Recht, es daran zu hindern. Wenn sie das Volk als ‘mohareb’ bezeichnen, dann stellen sie zunächst einmal ihre Regierung als mit Gott verbunden dar, was aus einem politischen Blickwinkel extrem gefährlich ist.
Zweitens ist diese Bezeichnung selbst vom Gesichtspunkt der Gesetze des Regimes falsch. Den islamischen Strafgesetzen zufolge ist ein ‘mohareb’ jemand, der einen bewaffneten Aufstand unternimmt und Leute töten will. Die Benutzung dieses Etiketts ist nichts weiter als eine Vorbereitung auf ein umfassendes Massaker an Oppositionellen, und dient dazu, unter der Bevölkerung Angst und Schrecken zu verbreiten. Es ist jetzt aber ziemlich klar, dass diese Taktik nicht nur die Bevölkerung nicht abschrecken wird, sondern sie könnte auch die Brücken hinter dem Apparat der Velayat-e Faqih niederbrennen.
A.H.: Wie sehen Sie die Zukunft des Regimes, wie lange wird es sich noch halten, und was haben Sie denjenigen Linken wie der WCPI (‘Arbeiterkommunistische Partei Irans’) zu sagen, die einen baldigen Zusammenbruch des Velayat-e Faqih Systems ankündigen?
R.Sh.: Es besteht kein Zweifel daran, dass das Regime starke Schläge hat einstecken müssen und dass es seine Glaubwürdigkeit sogar in völlig religiösen Kreisen der Bevölkerung eingebüßt hat. Es kann in erster Linie nur durch Gewalt weiter herrschen. Das ist etwas, dass bedeutende Teile sogar der ultra-rechten Kreise des Regimes mit Sorge erfüllt hat. Aber ich zumindest gehöre nicht zu denen, die mit Überzeugung zukünftige Entwicklungen im Detaille voraussagen können. Ich weiß aus Erfahrung, dass das Voraussagen von politischen und revolutionären Entwicklungen selten über reine Vermutungen hinausgeht. Die meisten dieser Voraussagen sind es nicht wert, sich ernsthaft mit ihnen zu beschäftigen.
A.H.: Was wäre denn das Ergebnis, wenn ein Zusammenbruch, sagen wir in den nächsten drei Jahren, zustandekäme? Was für ein Regime und was für eine sozioökonomische Ordnung würden Sie erwarten?
R.Sh.: Wie ich schon sagte: das ist eine antidiktatorische Bewegung, und wie bei all solchen Bewegungen nimmt an ihnen ein Regenbogen verschiedenartiger Kräfte teil. Zur Zeit ist der Einfluss der Reformisten innerhalb des Regimes am stärksten. Aber in dem Maße, wie sich die Volksbewegung verbreitert und vertieft, nimmt ihr Einluss ab. Das ist so, weil die Reformisten eine unbestreitbare Verwandtschaft mit der Velayat-e Faqih haben und der Zusammenbruch des Regimes sie unvermeidlich an den Rand der politischen Arena drängen wird.
In der Tat haben sie nur so lange irgendeine politische Nützlichkeit wie das Regime auf seinen Beinen steht. Ihre Position ist nicht sehr verschieden von der unzufriedener Kommunisten in den Parteien-Staaten des alten Sowjet-Blocks. Trotz der Tatsache, dass sie Kritiker dieser Regime warten, wurden auch sie mit dem Zusammenbruch der Regime schnell aus der Hauptarena der Politik vertrieben. Die Erfahrung zeigt, dass nicht jede antidiktatorische Bewegung notwendigerweise zur Demokratie führt.
Die Zukunft hängt von der Auswirkung mehrerer ineinandergreifender Faktoren ab, von denen meiner Meinung nach drei besonders bedeutend sein werden:
Vor allem anderen ist es das Bewußtsein und die Selbstorganisierung des Volkes, vorallem der heutigen jungen Generation, die eine ausschlaggebende Rolle für den Fortschritt dieser Bewegung spielen wird. Diesbezüglich gibt es viele Hinweise, die es erlauben, optimistisch zu sein. Verglichen mit vor dreißig Jahren ist die junge Generation des Landes ganz klar reifer und bewusster.
Der zweite Faktor ist der Prozess, durch den das Regime gestürzt wird. Wenn Teile innerhalb des Regimes Standhaftigkeit zeigen und großangelegte Massaker an den Menschen begehen und zu anderen gefährlichen Abenteuern Zuflucht nehmen, könnten einige der Faktoren sich ändern und könnte das Gewicht der antidemokratischen Kräfte innerhalb der Opposition alles in allem zunehmen.
Das dritte ist die Rolle der ausländischen Mächte, vorallem der USA. Meiner Meinung nach werden die USA und ihre Verbündeten angesichts der besonderen geopolitischen Lage Irans in Eurasien eine demokratische Herrschaft im Iran nicht willkommen heißen und alles in ihrer Macht stehende tun, ein willfähriges Regime im Iran an die Macht zu bringen. Wenn ich das sage, dann wird sich das für einige Ohren merkwürdig anhören, aber bedenken Sie Folgendes: werden die USA z.B. eine demokratische Regierung akzeptieren, die die absolute Monarchie der saudischen Königsfamilie ersetzt? Ich denke, die Antwort ist eindeutig negativ.
Aber im Iran sind, was auch immer geschehen mag, einige Dinge im Falle des Zusammenbruchs der Islamischen Republik unvermeidbar: a) Die Verquickung von Staat und Religion wird nicht toleriert werden, b) zumindest auf dem Papier wird akzeptiert werden, dass Frauen gegenüber Männern nicht weniger wert sind, und c) dem Klerus werden die politischen, wirtschaftlichen und rechtlichen Privilegion, die er in den letzten 30 Jahren usurpiert hat, entzogen werden. Mit dem Zusammenbruch eines jeden diktatorischen Regimes wird üblicherweise eine zusammengedrückte Feder losgelassen, und das Pendel schlägt in die andere Richtung.
A.H.: Bürgerliche Zeitungen haben die Opposition als eine Mischung hauptsächlich aus Liberalen un Monarchisten portraitiert. Was ist mit dem möglichen Einfluss von Organisationen wie den Volkmojahedin (PMOI) und natürlich der Linken (was immer das konkret sein mag)?
R.Sh.: Das sind hauptsächlich Ideen, die die Tendenzen dieser Blätter widerspiegeln. Wir können noch keine akurate Einschätzung der verschiedenen politischen Strömungen haben. Meiner Meinung nach können aber doch ein paar Punkte schon heute festgehalten werden.
Erstens ist die Rückkehr der Monarchisten an die Macht überaus unwahrscheinlich. Es stimmt, dass die Verbrechen der Islamischen Republik in gewisser Hinsicht die des Schahs in den Hintergrund geschoben oder im Bewußtsein sogar ausgelöscht haben, aber das Verständnis der großen Mehrheit des iranischen Volkes ist reif und klar genug, das Entstehen einer monarchistischen Massenbewegung nicht zu erlauben. Die Menschen heute lehnen jede Position ab, die auf Lebenszeit verliehen wird oder erblich ist. Deshalb kann die heutige Generation die Monarchie oder irgendeine Regierung, die lebenslang und vererbbar ist, gleich wie gut sie sich aufmacht, nicht verdauen.
Zweitens: die Volksmojahedin haben sich durch ihre enge Kooperation mit dem Saddam-Regime, und das während der schlimmstenTage des Iran-Irak-Krieges, und auch wegen ihres ohrenbetäubenden Personenkults völlig um jeden Kredit gebracht. Darüberhinaus gibt es, wenn das islamische Regime stürzt, keinen Grund, weshalb die Menschen sich einer anderen Kraft zuwenden sollten, die auch nicht mehr als eine weitere religiöse Organisation ist, die niemals für die Trennung von Staat und Religion eingetreten ist. Meiner Meinung nach ist es sehr schwer vorstellbar, wie die jüngere Generation die Mojahedin vertragen könnte.
Drittens ist der Einfluss liberaler Ideologie bei den Gegnern des Regimes starker als der anderer Ideologien, aber es ist unklar, ob das so bleibt. In Ländern, die von einer Diktatur bedrückt sind, sind Liberale in den ersten Stadien einer revolutionären Krise aktiver und stehen stärker im Scheinwerferlicht. Später aber, mit dem Eintritt der entrechteten und werktätigen Massen in die Arena unabhängiger Aktivitäten, ändert sich die Lage normalerweise.
Im heutigen Iran ist die Ungleichheit der Klassen, der Geschlechter und der Ethnien so groß, dass jeder Fortschritt auf demWeg der Demokratie ohne die Dominanz der Linken undenkbar ist. Natürlich ist die Linke im Iran, wie fast überall in der Welt, mit vielen Problemen konfrontiert. Meiner Meinung nach aber kann die revolutionäre Bewegung und insbesondere das Auftreten der Arbeiter und Entrechteten Ziele erreichen, die unter normalen Umständen viele Jahre erfordern würden.
A.H.: Was, wenn das Regime noch eine unbestimmte Zeitlang überlebt? Was würde das sowohl für die iranische Bourgeoisie als auch für die werktätigen Massen bedeuten? Würde das notwendigerweise zu einem Zustand tiefer ideologischer und politischer Depression der heutigen oppositionellen Kräfte (einschließlich der Arbeiterklasse) führen?
R.Sh.: Die Islamische Republik hat, besonders in den letzten fünf Jahren, ihre Glaubwürdigkeit in einem derartigen Ausmaß verloren, dass sie sich nur durch immer stärkere Unterdrückung aus der Schlinge ziehen könnte. Über die letzten sieben Monate hin hat der Vali-e Faqih viele Brücken hinter sich niedergebrannt. Um sich zu retten, musste er zu immer starker Repression greifen und dabei sogar Strömungen innerhalb des Regimes in Mitleidenschaft ziehen.
Es ist kein Zufall, dass die Pasdaran (Revolutionswöchter) die gesamte Kontrolle übernommen haben. Die Unzufriedenheit mit Khamenei hat sogar unter dem traditionellen Klerus ungekannte Ausmaße erreicht. Um sich dem Druck der traditionellen Mullahs zu entziehen, haben Khamenei und die Seinen in der Tat sogar Zuflucht zu einer apokalyptischen Interpretation des Schiismus genommen. Ahmadinehad und seine Lehrer bereiten ernsthaft die Wiedekehr des 12. Imams [1] vor, und Khamenei versucht, indem er ihnen dafür Raum gibt, den Druck der traditionellen Geistlichkeit von sich zu nehmen. Just in der Zeit, da die Velayat-e Faqih für das Volk im Iran unerträglich geworden ist, rücken sie in Richtung auf eine noch extremere Ideologie.
Sie können sich wie gesagt nur durch wütendere Unterdrückung und größere Massaker retten. Aber ihr Verbleib an der Macht ist nicht nur unheilvoll für die Arbeiter und Werktätigen, sondern auch für die Bourgeoisie. Das ist so, weil angesichts ihrer abenteuerlichen Projekte und auch der Pläne, die die USA und ihre Verbündeten für die Region haben, Irans wirtschaftlichen Aussichten katastrophal sein werden und sogar die Existenz des Irans gefährdet sein könnte. Wir sind ein multinationals Land, und eine größere Brutalität bei der Repression könnte die Solidarität unter den Nationen Irans zerbrechen.
A.H.: Wenn das so ist, wie reagiert Ihre Organisation darauf?
R.Sh.: Wir haben große Sorge, dass, wenn die gegenwärtige politische Bewegung nicht schnell durch eine Bewegung für ihre eigenen Forderungen seitens der Arbeiter und Werktätigen vervollständigt wird, sie nach einer Weile ihre Dynamik verlieren wird. Deshalb versuchen wir, während wir gleichzeitig ganz klar die völlig legitime antidiktatorische Bewegung verteidigen, alles in unserer Macht stehende zu tun, um die Arbeiter und linken Aktivisten darauf hinzuweisen, wie wichtig es ist, die Bewegung für die Arbeiterforderungen auszuweiten und diese mit der politischen Bewegung zu koordinieren.
Der Sturz des Regimes ist die Aufgabe der breiten Masse des Volkes, und die Basis der Bewegung muss sobald wie möglich verbreitert werde. Die Kämpfe der Arbeiter und Werktätigen müssen nicht nootwendigerweise eine radikale politische Form annehmen. Selbst Streiks und wirtschaftliche und gewerkschaftliche Proteste können zunächst einmal den Arbeitern und Werktätigen helfen, sich zu organisieren und ihr politisches und Klassenbewusstsein zu erhöhen, und zweitens dahingehend wirken, dass sich die Repressionskräfte des Regimes fragmentieren und den Druck auf die politischen Demonstrationen vermindern.
A.H.: Glauben Sie, dass die von den ‘demokratischen’ imperialistischen Regierungen von Obama bis hin zu Frau Merkel öffentlich zu Gunsten der Opposition abgegebenen Erklärungen von der Opposition im Iran begrüßt werden und hilfreich sind, ihren Einfluss auf andere Schichten der iranischen Gesellschaft auszuweiten?
R.Sh.: Es besteht kein Zweifel daran, dass die Opposition der imperialistischen Länder gegen die Islamische Republik hilft, die Informationen über die Kämpfe des iranischenVolks in den internationalen Medien zu verbreiten und damit der internationalen Sympathie mit dem Volk Irans zuträglich ist. Aber ein Großteil der Opposition hat die Befürchtung, dass Wirtschaftssanktionen gegen ihr Land, gleich unter welchem Vorwand, dem Regime eine Entschuldigung geben könnten, die Bewegung leichter zu unterdrücken.
Die katastrophale Erfahrung des Iraks hat eine sehr große Rolle dabei gespielt, den Pessimismus des iranischen Volks zu provozieren und damit den eines großen Teils der Opposition angesichts der Konsequenzen der Einmischung ausländischer Mächte. Die Menschen freuen sich über internationale Sympathie und Solidarität, fürchten aber die Möglichkeit ausländischer Einmischung.
Januar 2010
[1] Die Schia-Lehre zufolge wurde der zwölfte (und letzte) Imam in 9. Jahrhundert entrückt, um irgendwann in der Zukunft auf die Erde zurückzukehren, um sie von der ‘Korruption’, der Verderbnis, zu retten.