Die türkische ArbeiterInnenbewegung hat einen wichtigen symbolischen Erfolg erreicht. Zum ersten Mal seit 33 Jahren konnte am 1. Mai wieder am zentralen Istanbuler Taksim-Platz aufmarschiert werden
Mit einer gewaltigen Mai-Kundgebung von etwa 300.000 TeilnehmerInnen hat die türkische ArbeiterInnenbewegung ihre Rückkehr auf den Istanbuler Taksim-Platz gefeiert. Die Angaben gehen freilich auseinander. Der Staat spricht von 150.000, die kurdische Zeitung Gündem von 500.000. Es gab sehr viele junge TeilnehmerInnen. Allein der kurdische Block hatte deutlich über 10.000 DemonstratInnen. Der linke Teil des Aufmarsches insgesamt hatte definitiv weit über 100.000 TeilnehmerInnen.
Es gab nämlich einen Sternmarsch aus drei Richtungen, in dem die Mitglieder der sechs aufrufenden Gewerkschaftsdachverbände, der prokurdischen Partei BDP sowie zahlreicher linksradikaler Organisationen auf den weitläufigen Platz strömten. Kurz vor dem Platz gab es Polizeisperren mit Personenkontrollen und Taschendurchsuchung. Der größte Marsch wurde von der linken Gewerkschaft DISK und der Gewerkschaft des öffentlichen Dienstes KESK organisiert. An ihm nahmen auch alle Organisationen mit sozialistischem oder kommunistischem Anspruch teil. Der zweite Marsch bestand aus dem staatsnahen Gewerkschaftsverband Türk-Is, der dritte aus der konservativ-religiösen Hak-Is-Gewerkschaft. Der linke Aufmarsch war geprägt von roten Fahnen, großen Transparenten, Liedern und kämpferischen Slogans.
Auf Transparenten waren Losungen zu lesen wie: „Ihr Mörder, euer 12.-September-Putsch kann uns nicht aufhalten. Wir sind nach 33 Jahren immer noch da“. 1977 hatten Scharfschützen – des Staates und/oder der Faschisten – das Feuer auf die Maikundgebung der „Föderation Revolutionärer ArbeiterInnengewerkschaften“ DISK auf dem Taksim, an der eine halbe Million Menschen teilgenommen hatte, eröffnet. 37 Menschen wurden damals getötet, viele verwundet. Die Polizei hatte die DemonstrantInnen immer wieder ins Feuer zurückgetrieben. Mit solchen Massakern wurde der Weg zum Militärputsch von 12. September 1980 vorbereitet. Seitdem war der Taksim für die ArbeiterInnenbewegung gesperrt. In den letzten Jahren hatte es Straßenschlachten gegeben, als GewerkschafterInnen versuchten, auf den Platz zu gelangen.
ArbeiterInnen des staatlichen Tabakmonopols TEKEL, die monatelang gegen Privatisierung und Entlassungen gekämpft hatten, führten den Zug des Gewerkschaftsdachverbandes Türk-Is an. Sie sind in der LebensmittelarbeiterInnengewerkschaft Tek-Gida Is organisiert, die zum Gewerkschaftsdachverband Türk-Is gehört. Als dann am Taksim-Platz Mustafa Kumlu, der Vorsitzende der Türk-Is, die Eröffnungsrede halten wollte, warfen wütende ArbeiterInnen Flaschen und Steine. Kumlu, ein Mitbegründer der islamisch-konservativen AK-Regierungspartei und Vertrauter des Staatspräsidenten, hatte die TEKEL-ArbeiterInnen verraten, indem er eine Ausweitung des Kampfes verhinderte. TabakarbeiterInnen, Feuerwehrmänner und andere aufgrund der staatlichen Privatisierungspolitik entlassene Staatsangestellte stürmten die Bühne und vertrieben Kumlu und weitere Türk-Is-BürokratInnen, die sich über eine Absperrung in Sicherheit brachten.
Als die Lage zu eskalieren drohte, ergriff Sami Evren, der Vorsitzende der Gewerkschaft des Öffentlichen Dienstes KESK das Wort. In einer kämpferischen Rede beschwor er das Erbe der in den 70er Jahren ermordeten türkischen Revolutionäre Ibrahim Kaypakkaya und Mahir Cayan. Evren forderte die vollständige Aufklärung des Taksim-Massakers von 1977 und aller anderen staatlichen Morde sowie eine friedliche Lösung der kurdischen Frage. Viel Applaus bekam auch der DISK-Vorsitzende Süleyman Celebi für seinen Vorschlag: „Dieser Platz sollte 1.-Mai-Platz heißen, weil ihn die Arbeiterklasse trotz Verbots am 1.Mai nie vergessen hat.“
Seit 1977 konnte der 1. Mai zum ersten Mal ohne massive Polizeiangriffe am Taksim-Platz gefeiert werden. Die AKP-Regierung hatte bereits im Vorfeld einen friedlichen 1. Mai am Taksim-Platz versprochen. Das ist Ausdruck der Angst der türkischen KapitalistInnenklasse vor einer wieder erstarkenden ArbeiterInnenbewegung. Der Aufmarsch am Taksim-Platz wurde zu einer kämpferischen Demonstration in diese Richtung.
Bereits der TEKEL-Streik hatte eine Dynamik ausgelöst und viele – besonders auch junge – AktivistInnen neu motiviert. Der Erfolg am Taksim-Platz ist ein wichtiges Symbol und kann hunderttausende ArbeiterInnen und Jugendliche im ganzen Land ermutigen, sich am Kampf gegen die Abwälzung der Krise auf die Lohnabhängigen und für den Wiederaufbau der ArbeiterInnenbewegung zu beteiligen.