Die Bildungsstreikbewegung der letzten Jahre hat sich zu einer der größten Protestbewegungen in der BRD entwickelt. Was mit kleinen und regionalen Protesten gegen Kürzungspläne im Bildungsbereich begann, wuchs rasch über regionale Grenzen hinaus.
Seither gibt es halbjährlich einen so genannten Bildungsstreik. Ihren bisherigen Höhepunkt erreichte die Bewegung im Sommer 2009 mit einem bundesweiten Bildungsstreik mit 250.000 TeilnehmerInnen. Unis und auch Schulen wurden nicht nur bestreikt, sondern auch besetzt; Banken und Gleise blockiert. Die Medien berichteten ausführlich und zeigten sich teilweise sogar „solidarisch“.
Beim bisher letzten Bildungsstreik im Sommer 2010 kamen bundesweit lediglich noch 85.000 DemonstrantInnen zusammen, um gegen schlechte Bedingungen an Schulen und Unis zu protestieren. In fast allen Städten fielen die Proteste kleiner aus als im Jahr davor. In Berlin demonstrierten statt 27.000 nur noch 7.000 Menschen durch die Innenstadt. Mit dieser Entwicklung ist Berlin auch bundesweit in guter (oder besser gesagt: schlechter) Gesellschaft.
Ist die Bildungsstreikbewegung damit gescheitert? Warum bringen die Streiks und Proteste keine Verbesserungen? Was müsste anders laufen, um den Bildungsprotesten eine erfolgsversprechende Perspektive zu geben?
Wir wollen in diesem Beitrag eine Einschätzung der Bildungsproteste liefern – Stärken und Schwächen analysieren – und letztlich eine marxistische Perspektive für die Bewegung eröffnen.
Unsere Analyse beginnt mit der Durchleuchtung der sozialen Zusammensetzung der Bildungsproteste, um darauf basierend grundlegende Einschätzungen treffen zu können.
„Was geht mich das denn an?!“
Während zu Beginn der Bildungsproteste die meisten regionalen Proteste explizit Schulstreiks waren, also fast nur SchülerInnen umfassten, begannen zunehmend auch Studierende an den Protesten teilzunehmen. Dazu beigetragen hat sicherlich auch die Umstellung auf das Bachelor- und Master-System, das für viele Studierende mit enormem Stress und massiven Verschlechterungen verbunden war und ist. Im Herbst 2009 schließlich gaben die Unis den Startschuss für die "Streik-Saison": Mit der Besetzung des Audimax in Wien begann ein Besetzungsmarathon an unzähligen deutschen Universitäten. Auch durch das mediale Echo auf die Besetzungen an den Unis wuchs der Bildungsstreik in ungekanntem Ausmaße an.
Während es die Jahre zuvor immer ein großes Problem gewesen war, dass SchülerInnen und Studierende ihre Proteste kaum miteinander verbunden hatten, schien dieses Hindernis 2009 überwunden worden zu sein. Doch jetzt, ein Jahr später, mit der sehr geringen Beteiligung der Unis an den Bildungsstreiks, wird klar, dass die Barriere zwischen StudentInnen und SchülerInnen nach wie vor nicht wirklich durchbrochen ist.
Interessant ist in diesem Zusammenhang die unterschiedliche Berichterstattung der Medien über die Proteste. Während z.B. Demonstrationen von SchülerInnen in Berlin als unreifer und sinnloser Protest von pubertären Jugendlichen, "die mal Revoluzzer spielen wollen", dargestellt werden, reagiert die bürgerliche Presse viel aufgeschlossener und offener gegenüber der Bewegung an den Hochschulen. Diese unterschiedliche Bewertung durch die Medien hat auch eine ökonomische Grundlage: So führte die Umstellung der Studiengänge auf Bachelor und Master an vielen Unis zu Problemen, die nicht nur für StudentInnen eine weitere Verschlechterung der Bedingungen bedeutete, sondern die auch den Anforderungen für den Arbeitsmarkt nicht immer gerecht wurde. So unterdrückt die "Verschulung" der Unis z.B. den "kreativen Geist" vieler StudentInnen durch ständige Tests und einen enorm gestiegenen Leistungsdruck. Gerade diese "Kreativität",Selbstständigkeit und Eigenverantwortung wird jedoch an vielen Stellen des modernen Arbeitsmarktes gefordert. Unterm Strich sind und waren die Bolognareformen aber freilich im Interesse des Kapitals. Und diese ökonomischen Bedürfnisse der herrschenden Klassen als Ganzes kamen logischerweise schnell in "ihren" Medien zum Ausdruck.
Im Sinne der ökonomischen Bedürfnisse der KapitalistInnen läuft die Schulmaschinerie im Gegensatz zum Hochschulsystem ziemlich rund. An Privatschulen und Gymnasien werden die zukünftigen StudentInnen herangezogen, während an Hauptschulen all diejenigen zusammenkommen, die der Arbeitsmarkt nicht oder kaum verwerten kann und die dementsprechend auch kaum Bildung benötigen (in den Augen der Besitzenden). Als Folge finden die Proteste der SchülerInnen kaum UnterstützterInnen in den Reihen der herrschenden Klasse. Die Berichterstattung der Medien führt somit zu einer Spaltung der Bildungsstreikbewegung zwischen Schule und Uni, auch wenn diese Spaltung wohl eher ein Nebeneffekt als Hauptmotiv der bürgerlichen Presse ist.
Obwohl die Probleme an Schulen und Universitäten so offensichtlich zusammenhängen, scheint es nur bei sehr wenigen Beteiligten das Bewusstsein zu geben, dass die Kämpfe gemeinsam geführt werden müssen, um erfolgreich zu sein. Vielmehr scheint das Bewusstsein vorherrschend zu sein: „Was geht mich das denn an?!“.
Es bleibt also eine zentrale Aufgabe für die Zukunft der Bildungsstreikbewegung, SchülerInnen und StudentInnen in ein Boot zu holen und gemeinsam den Kampf aufzunehmen.
Alles SchulschwänzerInnen!?
Nicht selten bekommen AktivistInnen der Bildungsproteste zu hören, dass die Streikenden alles SchulschwänzerInnen ohne Perspektive seien, die nur keine Lust auf Schule hätten und denen eigentlich alles egal sei, solange ein paar Stunden Schule ausfielen. Die Wirklichkeit sieht anders aus.
Die Bewegung an den Schulen stützt sich fast ausschließlich auf Gymnasien – viel zu selten werden Real- und HauptschülerInnen einbezogen. Meist sind die „Leistungsstarken“ des Schulsystems die TrägerInnen der Schulstreiks und nicht die SchwänzerInnen. Die Barriere zwischen Studierenden und SchülerInnen im Allgemeinen scheint einen ähnlichen Charakter zu haben, wie die zwischen Gymnasien und Real- und Hauptschulen. So wird z.B. von vielen SchülerInnen auf Gymnasien das gemeinsame Lernen mit HauptschülerInnen abgelehnt, sich also gegen Gemeinschaftsschulen ausgesprochen. Die Bildungsproteste haben daher regelmäßig einen leicht elitären Beigeschmack. Diesen zu überwinden waren die Streiks der letzten Jahre nicht in der Lage. Auch dieses Problem gilt es in Zukunft zu lösen.
Wir haben also gesehen, dass die Proteste vorwiegend von SchülerInnen der Gymnasien getragen werden, während StudentInnen den Protesten weit weniger regelmäßig und Haupt- und RealschülerInnen fast gar nicht beiwohnen.Die nächste Frage die es zu klären gilt, ist die nach der Organisierung.
Dezentrale Bündnisarbeit als Schlüssel zum Erfolg?
Die organisatorischen Träger der Streiks sind in fast allen Städten Bündnisse aus politischen Gruppen/Parteien und aus engagierten Einzelpersonen. In großen Städten wie Berlin existierten teilweise gleich mehrere Bündnisse nebeneinander. Zudem entstehen immer wieder Streikkomitees an Schulen, in denen SchülerInnen sich an der jeweiligen Schule zusammenschließen, um die Proteste dort zu organisieren. Während dieses System der Organisierung auf den ersten Blick recht sympathisch, offen und mobilisierungsfähig scheint, birgt es dennoch Probleme und Schwierigkeiten in sich.
Die regionalen Bündnisse sind meist nur schlecht vernetzt, auch wenn immer wieder Versuche unternommen werden, dies zu überwinden. Das führt dazu, dass die Forderungen sehr unterschiedlich sind, es also keine gemeinsamen Forderungen gibt, die mit einer einheitlichen Stimme formuliert werden. Auch fehlt es diesen Bündnissen an Kontinuität, denn die losen Bündnisse sind vor allem durch AktivistInnen-Wechsel und auch -Verschleiß gekennzeichnet.
Da die Forderungen der Bündnisse oft diffus sind, gelingt es kaum, den Protesten eine gemeinsame Perspektive zu geben. Auch deswegen haben die Bildungsstreiks einen Eventcharakter, bleiben also auch immer nur auf einen Tag beschränkt, vor und nach dem alles so weitergeht, wie zuvor. Während die Streikkomitees selbst an den Schulen (und Unis) sehr wichtig sind, scheinen die dezentralen Bündnisse nicht nur vorteilhaft. Hier wäre eine zumindest teilweise zentralisierte Organisation der Proteste notwendig, um die Demonstrierenden mit einer Stimme sprechen zu lassen und so den Druck auf die Herrschenden etwas zu erhöhen.
Die Zusammensetzung der Streik-Bündnisse ist dabei bundesweit sehr unterschiedlich. In Großstädten wie Berlin oder Hamburg spielen oftmals linke und linksradikale Organisationen eine wichtige Rolle; dabei fehlt es zum Teil an einer realen Basis innerhalb der SchülerInnen bzw. StudentInnen und so hat sich der Bildungsstreik daher teilweise zu einer Art "Szene-Demo" entwickelt. Demgegenüber, sind die Bündnisse in kleineren Städten und ländlichen Regionen viel öfter von unorganisierten und unerfahrenen SchülerInnen und StudentInnen getragen. Die Organisierung der Bildungsstreiks erfolgt also in vielen großen Städten von schon organisierten AktivistInnen der Linken, und nicht von aktiv gewordenen SchülerInnen und StudentInnen selbst. Gerade deshalb ist es fraglich, ob die Bildungsstreik"bewegung" wirklich eine Bewegung ist. Hier muss deutlich zwischen verschiedenen Regionen und Städten unterschieden werden. Hier werden zwei Dinge deutlich: einerseits, dass Organisationen eine fehlende Dynamik innerhalb der SchülerInnen und StudentInnen nicht ersetzen oder auslösen können; andererseits, dass es oftmals an politischen und organisatorischen Erfahrungen, über die junge, gerade aktiv gewordene AktivistInnen freilich nicht verfügen können, mangelt, d.h. dass also letztlich eine politische Organisation fehlt.
„Ohne Bildung werd’ ich Terrorist!“
Dieser Sprechchor war immer wieder auf Demonstrationen und Kundgebungen zu hören. Nur aus Spaß oder ist das Zeichen einer zunehmenden Radikalisierung?
Fakt ist, dass sich zumindest Teile der Bewegung in den letzten Jahren radikalisiert haben. Vor allem in Großstädten wird das zunehmend offensichtlich. Diese Entwicklung hat vor allem zwei Ursachen: Erstens die fehlende Perspektive, denn keine der vielen Forderungen konnte durchgesetzt werden. Und zweitens die Einsicht, dass die Bewegung einen gesamtgesellschaftlichen Kontext erreichen muss.
So wurden sowohl 2009 als auch 2010 Gleise und Bahnhöfe blockiert, Banken besetzt und Kreuzungen durch Blockaden zeitweise gesperrt. Auch die Uni- und Schulbesetzungen von 2009 sind Ausdruck dieser Entwicklung. Nach der Bildungsstreikdemo in Berlin 2010 sollte zudem das rechts-konservative Verlagshaus Axel Springer gestürmt werden, was nur durch massives Eingreifen der Polizei verhindert wurde.
Auffällig hierbei ist jedoch, dass nur die (radikale) Linke an diesen Aktionen teilnimmt. So geht ein Großteil der unorganisierten DemonstrantInnen schon, während wenige organisierte Linke noch versuchten, radikalere Aktionsformen auf die Tagesordnung zu setzen. Bisher zumindest ist es kaum gelungen, in größerem Umfang unorganisierte und neupolitisierte SchülerInnen und StudentInnen bei diesen Aktionen einzubinden. Auch das zeigt einerseits, wie isoliert die radikale Linke momentan nicht nur in der Gesellschaft allgemein, sondern selbst in den rebellischsten Schichten ist. Andererseits wirft es allerdings auch die Frage auf, inwiefern die von Teilen der radikalen Linken favorisierten Aktionsformen nicht der realen Bewegung zwei Schrittevoraus sind.
Die Versuche, die Bildungsproteste in einen gesamtgesellschaftlichen Kontext zu stellen und den Druck auf Zugeständnisse durch radikalere Aktionsformen zu erhöhen, gelang in der Vergangenheit jedenfalls kaum.
Wir lernen fürs Leben…
Nicht selten werden SchülerInnen von ihren LehrerInnen belehrt, dass sie ja "freiwillig in der Schule seien" und dass sie dort "für das Leben lernen würden". Deshalb müsse mensch fleißig sein, Hausaufgaben machen und pünktlich kommen. Mit der Realität hat das nichts gemein.
Bildung und Ausbildung sind im Kapitalismus von den Bedürfnissen der Wirtschaft abhängig. Das hat zur Folge, dass wir in der Schule zu möglichst gut verwertbaren LohnarbeiterInnen erzogen werden sollen. Da die Wirtschaft aber kaum allen Menschen einen Arbeitsplatz, geschweige denn einen gutbezahlten, anbieten kann, wird ein Teil der SchülerInnen schon nach der Grundschule aussortiert und in Hauptschulen auf das spätere Leben in Perspektivlosigkeit "vorbereitet". Auf der anderen Seite wird die Elitenförderung seit Jahren ausgebaut, sei es durch Privatschulen oder Elitestipendien, um eine kleine, gut ausgebildete Schicht von neuen VerwalterInnen, Bossen und ManagerInnen heranzuziehen. Die Bedürfnisse der Wirtschaft und damit unsere Probleme spiegeln sich also deutlich im Bildungsbereich wider.
Wenn aber die Probleme im Bildungsbereich von gesamtgesellschaftlichen Faktoren bedingt sind, kann es nur eine logische Konsequenz geben:
Vom Bildungsstreik zum Generalstreik!
Die Kämpfe müssen ausgeweitet werden und eine gesamtgesellschaftliche Reichweite erlangen. Dazu ist es notwendig, die Proteste von SchülerInnen und Studierenden mit denen von Millionen ArbeiterInnen und Arbeitslosen, von Auszubildenden und Angestellten zu verbinden. Der einzige Weg, wirklich Druck auf die Herrschenden auszuüben, um so Zugeständnisse erzwingen zu können, sind Streiks in der Wirtschaft, vor allem in der Industrie und Infrastruktur. Solche Streiks, die die KapitalistInnen und ihren bürgerlichen Staat da treffen, wo es ihnen weh tut – nämlich am Profit. Dazu, sind nur die ArbeiterInnen in der Lage, indem sie massenhaft für ein besseres Leben und gegen Unterdrückung und Ausbeutung streiken.
Dieser gerade erläuterten Notwendigkeit werden die Bildungsstreiks der letzten Jahre kaum gerecht. Nur sehr selten kommt es zur Beiteiligung von proletarischen Schichten. Auch wenn es in der Vergangenheit einige Bemühungen in diese Richtung gab, gelang es nicht wirklich, hier Fortschritte zu erzielen.
Diese Problematik bleibt die zentrale Frage für die Zukunft. Gelingt es, die isolierten Kämpfe zu verbinden, eröffnet sich den Bildungsstreiks eine ganz neue, gesamtgesellschaftliche Perspektive, die auch zu einem zahlenmäßigen Anwachsen der Proteste führen könnte. Gelingt dies jedoch nicht, wird die Bildungsstreikbewegung wohl auch in Zukunft kaum dazu in der Lage sein, Forderungen durchzusetzen und folglich auch immer weniger attraktiv erscheinen. Erste Anzeichen dafür lassen sich schon jetzt bei vielen SchülerInnen finden, die auf die Ankündigung eines neuen Streiks nur noch mit der Frage: "Schon wieder Schulstreik?" reagieren.
Was also wirklich notwendig ist, um Forderungen von SchülerInnen und Studierenden durchzusetzen, ist eine Ausweitung der Proteste nicht nur auf dem gesamten Bildungsbereich, sondern auf die gesamte Wirtschaft und Gesellschaft!
Es liegt an uns…
Obwohl die Bildungsstreikbewegung, wie oben gezeigt, viele Schwächen hat und unter Perspektivlosigkeit leidet, ist sie nicht zu unterschätzen. Jährlich werden tausende junge Menschen politisiert, organisieren sich in Streikkomitees, kommen mit klassenkämpferischen Perspektiven in Kontakt und sind, mal mehr und mal weniger, von Repression betroffen. Es gibt kaum Demonstrationen, bei denen so viele junge, offene und gerade erst politisierte Menschen zusammenkommen. Nicht zuletzt deshalb bietet der Bildungsstreik für revolutionäre Kräfte ein gutes Interventionsfeld.
Die wirtschaftlichen Probleme verschmälern den Raum für Zugeständnisse; die neoliberale Politik verspricht weitere Kürzungen. Es werden also auch in Zukunft genug Gründe vorhanden sein, welche den Bildungsstreiks als Grundlage dienen können.
Es liegt letztlich an revolutionären Kräften, ob sie es schaffen, die Kämpfe von SchülerInnen und Studierenden mit denen der ArbeiterInnen zu verbinden, der Bewegung eine klassenkämpferische Perspektive zu geben und die gesellschaftliche Isolation der radikalen Linken zu durchbrechen. Eine solche Verbindung wird jedoch nicht von heute auf morgen entstehen, sondern bedarf einer grundsätzlichen Orientierung auf die ArbeiterInnenklasse und einer permanenten Arbeit in ihren Reihen. Deswegen ist es auch notwendig sich gemeinsam zu organisieren und nicht nur isoliert in der Schule oder auf der Uni aktiv zu sein.
Es liegt an uns, für eine Bildungsstreikbewegung zu kämpfen, die sich einreiht in den Klassenkampf von unten!