„Werkplatz Schweiz“ gegen „Finanzplatz Schweiz“. Nationalbankpräsident gegen UBS. Eine neuerliche Debatte um das Verhältnis zur EU. Was bedeuten diese Konflikte in der herrschenden Klasse? Ein Diskussionsbeitrag.
Im Juli veröffentlichte AvenirSuisse, die (neo-) liberale und von den Schweizer Konzernen finanzierte Denkfabrik, ein mit einer Studie gestütztes Papier, in dem der Weg der bilateralen Abkommen zwischen Schweiz und EU als Sackgasse analysiert wird. Als Auswege werden als erste Priorität ein „EWR light“ beziehungsweise ein EU-Beitritt ohne Euro formuliert.
AvenirSuisse ist nicht irgendwer, sondern der führende Think Tank der Schweizer KapitalistInnenklasse. Dementsprechend hat AvenirSuisse auch ein Naheverhältnis zur FDP, der Hauptpartei der Schweizer Bourgeoisie. Beim aktuellen Vorstoss in der Frage des Verhältnisses zur EU hat AvenirSuisse die offene Unterstützung von Teilen der FDP, etwa vom Bundesrat Didier Burkhalter. Dass vor einem Jahr gerade der von der SVP als „Euro-Turbo“ taxierte Burkhalter in die Regierung befördert worden ist, lässt sich übrigens in diesem Zusammenhang als ziemlich klares Indiz dafür sehen, dass die hier angesprochenen Fragen unterhalb der medialen Oberfläche schon länger brodeln.
Während die Sozialdemokratische Partei (SPS) ohnehin seit längerem für einen EU-Kurs eintritt, haben sich die katholisch-konservative CVP und die rechtsextreme SVP sofort gegen die Vorstoss von AvenirSuisse gestellt und pochen auf die nationale Eigenständigkeit der Schweiz. Bedeutend ist auch, dass Gerold Bührer für Economiesuisse, den politischen Dachverband des Schweizer Kapitals, die Vorschläge in Richtung EU sofort zurückgewiesen und sich für eine Fortsetzung der bilateralen Abkommen ausgesprochen hat.
Jedenfalls zeigen die unterschiedlichen Positionierungen und die kontroverse öffentliche Debatte doch gewisse Unsicherheit in der KapitalistInnenklasse der Schweiz. Diese Unsicherheit ist kein Zufall, sondern hat ihre Wurzeln in der sich verändernden Situation des Schweizer Kapitalismus.
Hintergründe
An erster Stelle zu nennen sind hier Veränderungen für den „Finanzplatz Schweiz“. Die Aushöhlung/Abschaffung des Bankgeheimnisses für Bankeinlagen aus dem Ausland ist ein Bruch mit der jahrzehntelangen Tradition, die Gelder von GroßunternehmerInnen, SpekulantInnen, Dikatoren, WaffenhändlerInnen und gewöhnlichen Kriminellen verlässlich vor jedem Zugriff zu schützen. Dieser Bruch kam zustande auf Druck der USA, Großbritannien und Deutschlands (die natürlich damit ihre eigenen Interessen verfolgen, nämlich Steuereinnahmen im eigenen Land und Protegierung der eigenen Off-Shore-Bankplätze).
Dass die Schweiz in dieser Frage dem Druck von USA und EU nachgegeben hat, liegt wohl auch am entsprechenden Drängen der VertreterInnen des „Werkplatzes Schweiz“, insbesondere von Swissmem, dem Verband der Schweizerischen Maschinen-, Elektro- und Metallindustrie, der bedeutendsten Exportbranche. Der Swissmem-Präsident und führende FDP-Politiker Johann Schneider-Amann, neuerdings übrigens Bundesratskandidat als Nachfolger des bekannt bankenfreundlichen Hans Rudolf Merz, kritisierte in der Finanzkrise der letzten beiden Jahre wiederholt etwa die Boni der BankmanagerInnen und generell das Verhalten der Banken, in dem er eine Schädigung der „Marke Schweiz“ sieht. Er dachte sogar öffentlich über eine Zerschlagung der Großbanken nach, sodass es keine „systemrelevante“ (= unverzichtbare) Bank mehr gäbe. In diesen Kreisen hat man es denn auch nicht ungern gesehen, dass sich die Banken im sogenannten Steuerstreit mit den USA und der EU geeinigt haben, um Nachteile für die eigenen Exporte abzuwenden hat.
Konflikte zwischen den Interessen des Finanzplatzes und des Werkplatzes gab es auch schon vor der Finanzkrise seit 2008. So hatte Swissmem im ersten Halbjahr 2006 den Austritt aus Economiesuisse angekündigt, da sie sich von deren ultraliberaler Politik, die vor allem den Banken und der Chemieindustrie zugute komme, nicht mehr vertreten fühlte. Dieser Schritt wurde dann nicht getan, die Ankündigung war aber bereits ein Hinweis auf Kontroversen. Mit der Finanzkrise sind sie deutlicher geworden.
Bedeutung
Die Aushöhlung/Aufhebung des Schweizer Bankgeheimnisses bedeutet eine Abschwächung der bisherigen Sonderrolle des Schweizer Kapitalismus und des „Finanzplatzes Schweiz“. Auch wenn das bisher in der Schweiz angelegte Vermögen durch die neue Regelung nicht angegriffen wird, so wird der Zufluss von neuem Steuerhinterziehungs-, Korruptions- und Mafiakapital in Zukunft wohl tendenziell zurück gehen. Wie weit die geplante Gegenstrategie des Schweizer Bankkapitals, nämlich statt auf Vermögensverwaltung auf Investmentbanking zu setzen, aufgeht, muss sich erst zeigen; immerhin ist dieser Markt international bereits gut besetzt. Jedenfalls ist eine Tendenz zu einer gewissen „Normalisierung“ des Schweizer Kapitalismus, also eine Schwächung der Bedeutung des bisher völlig überdimensionierten Sektors der Vermögensverwaltung, wahrscheinlich.
Unstimmigkeiten im Schweizer Finanzkapital zeigten sich schließlich auch im Konflikt zwischen der Nationalbank (SNB) und den Großbanken, allen voran der UBS und der Credit Suisse. Während die Nationalbank größere Eurosummen hält als die EU-Zentralbank (EZB) haben UBS und Credit Suisse munter auf den Fall des Euro spekuliert und seine Schwächung mitbetrieben. SNB-Präsident Philipp Hildebrand war dementsprechend fuchsteufelswild und die Exportindustrie über die gleichzeitige Aufwertung des Franken verärgert. Er verlangt auch eine stärkere Regulierung der Banken, um der so genannten „too-big-to-fail“-Problematik zu entkommen und zu verhindern, dass staatliche Rettungsaktionen wie für die UBS erneut nötig werden. UBS und Credit Suisse wollen davon natürlich nichts wissen. Ein UBS-Verwaltungsrat soll über Hildebrand bereits gesagt haben, „der wird nie mehr einen anderen Job in der Schweiz finden“. Jedenfalls haben die geretteten Großbanker noch oder wieder genug Selbstbewusstsein und Einfluss, um ihre Interessen zu verteidigen. Weitere Konflikte sind auch in diesem Bereich durchaus realistisch.
Folgen
Die Schweizer Bourgeoisie, ihre politischen VertreterInnen und ihre TheoretikerInnen denken über die Veränderungen des Schweizer Kapitalismus und entsprechende Konsequenzen nach. Sie sind sich dabei keineswegs einig. Das ist auch kein Zufall, denn es kommen nicht nur unterschiedliche (Teil-) Interessen zum Ausdruck, sondern viele Entwicklungen sind noch im Fluss und auch für die herrschende Klasse nicht in der ganzen Tragweite abzuschätzen.
Die Konflikte zwischen „Finanzplatz“ und „Werkplatz“ und die Kontroversen um die Bankenregulierung werden sicherlich weitergehen. Was das Verhältnis der Schweiz zur EU betrifft, so ist ein Beitritt wohl auf absehbare Zeit politisch nicht durchsetzbar. Bisher ist das Schweizer Kapital mit den bilateralen Abkommen gut gefahren. Man musste kaum nennenswerte Konzessionen machen und hat trotzdem von so ziemlich allen Vorteilen des Binnenmarktes profitiert, Zölle sind minimal und auch an gemeinsamen europäischen protektionistischen Maßnahmen wie beispielsweise dem Projekt REACH (Registration, Evaluation and Authorisation of Chemicals) zur Normierung aller chemischen Substanzen ist die Schweiz auch ohne EU-Beitritt mit dabei.
Dass das auf Dauer nicht wie bisher weitergehen kann, ist wohl den meisten bürgerlichen PolitikerInnen und auch Economiesuisse klar. Das Argument von EU-BeitrittsbefürworterInnen (etwa von der SP), dass „wir“ auch mitbestimmen sollen, wenn „wir“ schon alle Regelungen der EU nachvollziehen, ist natürlich bestenfalls drittrangig – es wäre ja auch reichlich naiv zu glauben, dass die realen wichtigen Entscheidungen in den politischen Gremien der EU (oder auch der Schweiz) fallen. Relevantere Gründe für ein stärkeres Andocken an die EU sind andere: Einerseits, dass die Schweiz von Abkommen der EU mit Dritten (in Lateinamerika oder Asien) stärker mitprofitieren könnte (bisher wickelte die Schweiz den Großteil solcher Abkommen über die weit schwächere EFTA ab). Andererseits, dass die Schweiz – angesichts der Veränderungen für den „Finanzplatz“ und der raueren See in der Weltwirtschaft und der internationalen Beziehungen angesichts der Krise – stärker auf den schützenden Rahmen eines internationalen Blocks angewiesen sein könnte.
Der Hauptgrund ist aber sicherlich der Druck der EU, die mit dem Bilateralismus immer unzufriedener wird. 120 Abkommen gibt es mit der Schweiz, jedes anders strukturiert und mit riesigen Aufwand verbunden. Es gibt keine gerichtliche Instanz, die in Streitfällen entscheiden kann. In den Bereichen der Abkommen driften die Rechtsräume der Schweiz und der EU auseinander, was Rechtsunsicherheit und Ungleichbehandlung zur Folge hat. Bei den kantonalen Steuerregimen, welche die EU seit Jahren kritisiert, ist weiterhin keine Lösung in Sicht. Und besonders die neuen EU-Staaten haben kein Verständnis für die Sonderwünsche der Schweiz. Dies hat zur Folge, dass bei den laufenden Verhandlungen (zu den Fragen Landwirtschaft, Strommarkt, Lebensmittelsicherheit, Chemievorschriften) seit zwei Jahren kaum mehr Fortschritte zu verzeichnen sind. Die wesentliche Forderung der EU lautet, dass die Abkommen „dynamisiert“ werden, das heisst, dass die Schweiz in Zukunft in den Bereichen der Abkommen auch neu entstehendes EU-Recht fast automatisch übernehmen müsste. Dann wäre es mit der geheiligten Schweizer Souveränität nicht mehr weit her.
Bilanz
Wenn Economiesuisse auf die neue Debatte sofort mit einem trotzigen Beschwören des Bilateralismus reagiert hat, dann ist das nur ein erster Reflex – teilweise zur Beruhigung des Publikums auf den billigen Plätzen und teilweise auch, um die Debatte herunterzukochen. Real wird die Frage des Verhältnisses zur EU das Schweizer Establishment in Wirtschaft und Politik auch weiter beschäftigen. Irgendwelche Sonderkonzepte für die Schweiz wie „EWR light“ oder ähnliches sind dabei, zumindest wenn man darin mehr als provisorische Lösungen sehen wollte, unwahrscheinlich (die EU ist zwar an einem weiteren Nettozahler-Land durchaus interessiert, wird aber dafür wohl nur beschränkt Konzessionen machen – andernfalls wäre dies ja eine Weiterführung der Rosinenpickerei des bilateralen Wegs unter neuem Titel)
Tatsächlich gibt es drei Möglichkeiten: Erstens ein EU-Beitritt, der in der Bevölkerung unpopulär ist, von guten Teilen der herrschenden Klasse zum gegenwärtigen Zeitpunkt abgelehnt wird und deshalb höchstens eine längerfristige Option darstellt. Zweitens eine Fortsetzung des Bilateralismus, die für die nächste Zukunft am wahrscheinlichsten ist; allerdings wird dieser Weg immer steiniger werden, die Schweizer Bourgeoisie wird immer mehr Konzessionen machen müssen und die mystifizierte „Eigenständigkeit“ der Schweiz wird auch damit in kaum mehr kaschierbarer Weise in Frage gestellt werden. Drittens ein Beitritt zum EWR, der wohl unmittelbar noch nicht auf der Tagesordnung steht, aber mittelfristig – wenn der Bilateralismus immer mehr holpert – zu einer Option werden könnte (und durch die gegenwärtigen Debatten wohl als solche ideologisch vorbereitet werden soll).
Vieles hängt natürlich auch von der internationalen ökonomischen und politischen Entwicklung ab, insbesondere von der Situation der EU im Weltsystem. Auf absehbare Weise wird die Debatte um das Verhältnis zur EU in der Schweizer Bourgeoisie ebenso eine schwelende Kontroverse bleiben wie die Konflikte zwischen Werk- und Finanzplatz und um die Regulierung des Banksystems.
Welche Haltung sollten nun die antikapitalistische Linke und die ArbeiterInnenbewegung zu diesen Fragen einnehmen? In Konflikten zwischen Bank- und IndustriekapitalistInnen stehen wir auf keiner Seite. Wir lehnen die Unterscheidung in (gutes) produktives und (böses) spekulatives Kapital ab – beide haben nur ihren Profit und die Ausbeutung der ArbeiterInnenklasse im Sinne. Diese Grundhaltung schließt nicht aus, dass wir in der einen oder anderen Detailfragen um mehr oder weniger Regulierung, die auch unmittelbar die Arbeitsbedingungen die Lohnabhängigen betrifft, aus anderen Motiven zur selben Position gelangen wie eine Kapitalfraktion. Wir würden aber deshalb nie auf ein Bündnis mit der jeweiligen Kapitalfraktion setzen, sondern immer auf die Mobilisierung der Klasse der Lohnabhängigen.
In der Frage des Verhältnisses der Schweiz zur EU stehen wir ebenfalls auf keiner der beiden Seiten. Denn sowohl EU/EWR als auch der Sonderweg der „Marke Schweiz“ sind durch und durch kapitalistische Projekte, die wir grundsätzlich ablehnen. Wir stellen beiden Projekten den internationalen Klassenkampf entgegen, den gemeinsamen Kampf der ArbeiterInnen in der Schweiz mit denen in der EU und darüber hinaus.