Am 13. Oktober dieses Jahres wurden die seit über zwei Monaten eingeschlossenen 33 chilenischen Bergarbeiter befreit. Die Befreiungsaktion, die vor Patriotismus sprühte, war weit entfernt von einer kritischen Betrachtung des Geschehens.
Seit dem Einsturz der Kupfer- und Goldmine San José am 5. August mussten die Kumpel 69 Tage lang bei Temperaturen von 35° in fast 700 Meter Tiefe in einem unterirdischen Schutzraum ausharren. Erst 17 Tage nach dem Unglück kam die Nachricht, dass alle Arbeiter noch am Leben sind: Rettungsbohrungen entdeckten die 33 in der Tiefe Verschütteten, die sich nach dem Einsturz in einen Schutzraum flüchten konnten. Schnell ist bekannt geworden, dass die verschütteten Kumpel noch zwei Tage nach dem Einsturz die Chance auf eine Rettung gehabt hätten, wenn die Sicherheitsvorschriften eingehalten worden wären. Im Rettungsschacht, der später durch weitere Einstürze versperrt wurde, fehlte aber eine Leiter, die die Minenbesitzer aus Nachlässigkeit und Profitgier nicht bereitgestellt haben.
Die Rettungsaktion und der Neoliberalismus
Unter den Augen der Weltöffentlichkeit entschloss man sich nun zu einer einzigartigen Rettungsaktion, bei der drei aktive Bohrer gleichzeitig versuchten, zu den Verschütteten durchzudringen. Nachdem der schnellste Bohrer nach 69 Tagen einen Raum erreicht hatte, zu dem die Verschütteten Zugang hatten, konnte die Bergung des ersten Arbeiters eingeleitet werden. Mit einer Weiterentwicklung der so genannten Dahlbuschbombe konnten innerhalb von 22 Stunden und 54 Minuten alle Kumpel aus dem Stollen herausgeholt werden. Die Dahlbuschbombe ist einer Rettungskapsel, die schon beim Grubenunglück von Lengede in Niedersachsen 1963 eingesetzt wurde. Damals konnten elf verschüttete Bergleute aus 60 Meter Tiefe nach zwei Woche gerettet werden. Das Wunder von Lengede wurde wie das chilenische Unglück als nationales Medienspektakel inszeniert und auch der damalige deutsche Bundeskanzler Ludwig Erhard war schnell vor Ort um aus der Rettung politisches Kapital zu schlagen.
Fast 50 Jahre später hat der neoliberale chilenische Präsident Sebastian Piñera medientechnisch und politisch alles aus dem Unglück der 33 Verschütteten rausgeholt, was möglich war. Die Rettungskosten beliefen sich auf zwischen sieben und 14 Millionen Euro (von denen ein Grossteil die chilenischen SteuerzahlerInnen und somit die chilenische ArbeiterInnenklasse übernimmt) und waren, wie Piñera richtig erkannte, jeden Peso wert, um seine Popularitätswerte zu steigern, die ChilenInnen nationalistisch zu verhetzen und von den eigentlichen Schuldigen abzulenken. Die arbeitgeberfreundliche Politik von Piñera, das von oben legitimierte Ignorieren von Arbeitsrecht und Sicherheitsvorlagen im ökonomischen Schlüsselsektor Bergau führen dazu, dass in privatisierten chilenischen Minen jährlich im Schnitt fast 40 Arbeiter umkommen, Um diese Toten hat sich bisher niemand gekümmert. Die Privatisierungsgesetze stammen nebenbei von Piñeras Bruder José, der sie 1981 als Bergbauminister der Militärdiktatur von Pinochet, eingeführt hat. Derselbe José Piñera zeichnet übrigens auch für die berüchtigte Privatisierung des chilenischen Rentensystems verantwortlich. Unter den Auswirkungen dieser Reform leidet die chilenische ArbeiterInnenklasse besonders stark. Mario Gomez, mit 63 Jahren der älteste unter den Verschütteten, arbeitet seit seinem zwölften Lebensjahr unter Tage und muss noch immer tagtäglich sein Leben in unsicheren Minen riskieren, weil er es sich nach 51 Arbeitsjahren offenbar noch nicht leisten kann in Ruhestand zu gehen.
„Wir waren 33, also bedeuteten 16 plus eine Stimme eine Mehrheit“
Auch wenn die neoliberale chilenische Regierung von der Rettungsaktion profitiert und der ganze Ablauf als patriotisches Spektakel inszeniert wurde, ist die Freude über die Rettung der 33 Kumpel nachvollziehbar und richtig. Die Bergarbeiter mussten die ersten 17 Tage mit ihrem baldigen Tod rechnen. Nachdem sie gefunden wurden war auch nicht klar, wie lange sie noch in ihrem unterirdischen Gefängnis aushalten müssen und ob die Bergung überhaupt gelingt. Auch wenn viele von ihnen in dieser Extremsituation verständlicherweise zu Beten begonnen haben, ist ihre Rettung einzig und allein den technischen Errungenschaften sowie dem solidarischen und demokratischen Verhalten der Gruppe zuzuschreiben. So ließ Luis Urzúa , der als Schichtleiter unter Tage die Führung übernommen hat, über alle Entscheidungen wie Essenrationierung, Schlafplatzverteilung etc. abstimmen. Er organisierte auch ein Beschäftigungsprogramm um den Kumpeln einen Tages- und Nachtrhythmus zu simulieren.
Es ist höchstwahrscheinlich nicht zuletzt diesem besonnenen und solidarischen Verhalten der Betroffenen zu verdanken, dass die Gruppe vor allem die erste unsichere Zeit mehr oder weniger stabil überstanden hat. Urzúas Vater und Stiefvater sind beide der Diktatur von Pinochet zum Opfer gefallen. Sein Vater war Mitglied der kommunistischen Partei und sein Stiefvater der Vorsitzende der Kupferbergarbeitergewerkschaft.
Es ist ein offensichtlicher Widerspruch, den Staat und seine RepräsentantInnen für diese Rettungsaktion zu bejubeln während derselbe Staat gleichzeitig dafür sorgt, dass unsichere Minen aus Profitgier nicht sicher gemacht werden und dadurch Arbeiterleben eiskalt aufs Spiel setzt. Auch den Geretteten und ihren Angehörigen und Freunden ist dieser Widerspruch nicht klar wie die patriotische Inszenierung bei der Bergung sichtbar machte.
Aber dennoch wissen die Geretteten intuitiv sehr wohl, wo man ansetzten muss. Mario Sepúlveda, der als zweiter Arbeiter nach oben gebracht wurde, hat unmittelbar nach seiner Bergung – nach diversen Danksagungen an Regierung und Gott – den Kampf für bessere Arbeitsbedingungen in den Minen angesprochen.
Wiedereröffnung der Mine und Reaktion der Regierung
Wie notwendig dieser Kampf ist zeigt der Umstand, dass die Mine 2007 aufgrund zahlreicher Sicherheitsmängel und mehreren Arbeitsunfällen (unter anderem ein Arbeiter, der wegen einem Steinrutsch sein Bein verlor) und nach einem Todesfall geschlossen wurde. Dennoch unterschrieb die Aufsichtsbehörde ein Jahr später die Wiedereröffnung des Betriebes mit guten Erwartungen an die Betreiberfirma San Esteban.
Bereits am 10. August 2010 wurden der Abteilungsleiter für Bergbau der Bergbehörde, dessen Direktor und der Leiter des involvierten regionalen Bergamtes vom chilenischen Präsidenten entlassen. 20 Tage später trat der zuständige regionale Vertreter des Gesundheitsministeriums zurück, der die Wiedereröffnung der sicherheitsgefährdenden Mine mit unterschrieben hatte. Des Weiteren hat die Bergbehörde 18 Bergwerken die Genehmigung zur weiteren Abbauarbeit entzogen, weil sie alle den gesetzlichen Standards nicht genügten. Angekündigt ist auch eine neue Aufsichtsbehörde, da diese bisher nur 18 Fachkräfte umfasste, die die Sicherheitslage bzw. Einhaltung der gegebenen Standards überprüfen sollten.
Die beiden Leiter des Werks, Alejandro Bohn und Marcelo Kemeny, haben noch mit Folgen zu rechnen, da der oben erwähnte Arbeiter, der sein Bein verloren hat, das Unternehmen wegen schwerer Körperverletzung verklagt hat. Außerdem ist das Vermögen des Minenunternehmens, das sich auf umgerechnet 7,2 Millionen Euro beläuft, bis auf weiteres eingefroren um. Ob es tatsächlich, wie von der Regierung gefordert, für die entstandenen Kosten der Bergungsarbeit eingesetzt wird, ist fraglich.
Nachwirkungen
Die Bergleute mussten sich während ihrer Gefangenschaft nicht nur um ihre Befreiung sorgen, sondern auch noch um ihre Löhne. Ende August lehnte die Regierung nämlich die Forderung der Gewerkschaften, dass die Regierung die Lohnkosten bis zur Befreiung der Bergleute übernehmen solle, ab. Die Regierung sagte lediglich zu, bei der Suche nach einem neuen Arbeitsplatz zu helfen, da die Mine voraussichtlich nach der Befreiung der Arbeiter geschlossen wird und diese folglich keine Arbeit mehr haben werden. Die 33 Verschütteten erhielten schliesslich Lohnersatzzahlungen aus einem Notfallfonds für Arbeitsunfälle. Ihre Kollegen allerdings müssen seit dem Unglück ohne Löhne auskommen.
Auch wenn zukünftige Klagen der Betroffen – vorausgesetzt das Interesse an ihrem Schicksal hält an – eventuell erfolgreich sein könnten, ist damit noch lange nicht gesagt, dass etwaige Entschädigungen von den schuldigen Unternehmern beglichen werden müssen. In der Regel können die es sich nämlich richten, besonders wenn sie so gute Kontakte mit der Regierung pflegen wie in Chile. Es kann daher gut möglich sein, dass für zukünfte Zahlungen der Staat und damit die SteuerzahlerInnen zur Kasse gebeten werden.
Heuchlerische Inszenierung
Viele BeobachterInnen wunderten sich, warum Menschen, die zwei Monate in einem Schacht verbracht haben wie aus dem Ei gepellt an die Oberfläche gelangen können. Das liegt daran, dass den Bergarbeitern kurz vor der Rettungsaktion Hygiene-Artikel und Rasierzeug hinunter gegeben wurden. Darüber hinaus erhielten die Kumpel sogar eine Medienschulung (!), um gebührend auf den TV-„Event“ Rettungsaktion vorbereitet zu sein. Klar, die bürgerlichen Medien brauchen Helden, brauchen einzelne Opfer, die im Rampenlicht stehen (angeblich sah eine Milliarde Menschen im Fernsehen zu) – während laut UNICEF jeden Tag rund 24.000 Kinder an Hunger und längst heilbaren Krankheiten sterben. Völlig unbeobachtet vom Rest der Welt. Laut Schätzungen des internationalen Verbands der Bergbaugewerkschaften kommen jedes Jahr 12.000 Kumpel bei Grubenunglücken ums Leben. Wo ist hier das herzzereissende Mitleid des globalen Establishments, von Apple-Chef Steve Jobs über Papst Ratzinger bis hin zu US-Präsident Obama?
Angesichts des Leides der Bergarbeiter und deren Angehörigen, schlagen nun auch die Herzen der profitgierigen Medien und Hollywood-Produzenten höher: das reale Drama der chilenischen Arbeiter soll medial ausgeschlachtet und auch verfilmt werden, um damit Millionen Zuschauer ins Kino locken. Man kann nur hoffen, dass die Kumpel angesichts des medialen Interesses auch nach ihrer Rettung zusammenhalten, um angemessene Entschädigungen für alle (inklusive ihrer nicht verschütteten Kollegen) zu bekommen, sich dafür aber nicht in entwürdigender Weise durch die Medien zerren lassen zu müssen. Ansätze davon konnten leider schon beobachtet werden, wie beispielsweise ein medial inszenierter Unterwäsche-Einkauf mit der Frau eines Verschütteten kurz vor der Bergung ihres Mannes zeigte. In den meisten Fällen sind solche Auswüchse nicht die Schuld der Betroffenen – eine Bergarbeiterfrau kann sich wahrscheinlich nur schwer gegen den aggressiven medialen Andrang weheren. Die Fernsehkanäle und Zeitungen wiederum kennen keine Pietät und Rücksichtsnahme wenn es um Profit und Sensation geht..
Was wir daraus schließen
Das ganze Geschehen ist mal wieder ein gutes Beispiel dafür, dass im Kapitalismus der Profit für die Unternehmen weit über dem Menschen steht. In dieser Konkurrenzgesellschaft, in der es darum geht mehr Gewinn zu machen als die Konkurrenz (folglich: die Belegschaft mehr auszubeuten als die Konkurrenz es tut) scheint es den ChefInnen der Unternehmen lieber zu sein, das Risiko einzugehen, dass ihre Arbeiterschaft in einem den Sicherheitsansprüchen nicht genügendem Bergwerk verschüttet wird, als vorher Geld für die Sanierung des Betriebes abzudrücken.
Da die Regierung es jetzt plötzlich, da die Umstände in die Öffentlichkeit gerückt sind, für nötig hält, Maßnahmen wegen fehlenden Sicherheitsvorkehrungen zu ergreifen, haben weitere 300 Menschen ihren Arbeitsplatz in einem der 18 Bergwerke verloren, denen die Genehmigung zum weiteren Abbau entzogen wurde. Die Versprechen von Präsident Piñera, künftig mehr auf die Arbeitssicherheit in Chiles Gruben zu achten, sind nichts als leere Worte und darüber hinaus zweischneidig, wenn nicht ein gleichzeitiger Erhalt der Arbeitsplätze garantiert wird.