Mitte Dezember gab es in Griechenland erneut einen Generalstreik, den siebenten im vergangenen Jahr. Die Regionalwahlen hatten einen deutlichen Linksruck gebracht. Wie kann die Klassenkampfsituation an der Ägäis eingeschätzt werden?
Im ersten Halbjahr 2010 hatten in Griechenland sechs Generalstreiks stattgefunden. Sie richteten sich gegen die beiden ersten Angriffswellen der Regierung, die Erhöhungen der Massensteuern und ein Kahlschlagprogramm im öffentlichen Dienst brachten, wo die Löhne um 20-30% gekürzt wurden. Letztendlich kam die Regierung damit erstmal durch. Die der sozialdemokratischen PASOK-Regierung nahe stehenden Gewerkschaftsdachverbände hatten die Generalstreiks erfolgreich auf eintägige Mobilisierungen zum Dampfablassen beschränkt. Andere Kräfte waren nicht in der Lage, das Heft in die Hand zu nehmen.
Schockzustand
Für nach dem Sommer hatten viele bürgerlichen KommentatorInnen bereits vor einer „Revolution“ gewarnt. Dazu kam es erstmal nicht. Die ArbeiterInnenklasse, das Subproletariat und auch die unteren Mittelschichten befanden sich in einem Schockzustand. Das Leben für die lohnabhängige Bevölkerung wurde immer schwieriger. Es entstand eine Mischung aus depressiven und verzweifelten Stimmungen einerseits und einem weitverbreiteten Zorn andererseits.
Hochrangigen VertreterInnen der PASOK war es in den letzten Monaten kaum mehr möglich, auf den Straßen herumzugehen oder sich in ihrem Wahlkreis in eine Taverne zu setzen, ohne beschimpft, bespuckt oder tätlich angegriffen zu werden. Die durch die internationalen Medien gegangenen Prügel, die der ehemalige Minister der konservativen Nea Dimokratia (ND) während des letzten Generalstreiks bezogen hatte, ist hier nur die Spitze des Eisberges. Viele ParlamentarierInnen tragen mittlerweile im öffentlichen Raum nicht mehr Anzug und Krawatte, damit sie nicht so leicht erkannt werden.
Trotz dieser Wut war die Lage im Herbst lange von einer angespannten Ruhe geprägt. Es gab zwar weiterhin viele Streiks, aber sie waren jeweils auf einzelne Branchen oder Betriebe beschränkt und von einander isoliert. Es gab eine Zeit lang keine Vereinheitlichung in großen Mobilisierungen. Nach den nicht erfolgreichen Generalstreiks im ersten Halbjahr machte sich auch eine gewisse Ratlosigkeit breit, in der breiten Masse der Lohnabhängigen ebenso wie in der organisierten ArbeiterInnenbewegung, der es an Perspektiven mangelte. Die Folge war, dass sich die Aufmerksamkeit auf die Regionalwahlen richtete.
Regionalwahlen
Die Regional- und Lokalwahlen fanden Anfang November statt. Die internationalen Medien haben danach PASOK als relative Siegerin dargestellt, weil sie in der Stichwahl der konservativen ND die Bürgermeisterposten von Athen (also des Zentrums der Vier-Millionen-Stadt Athen) und Thessaloniki abnehmen konnte. Das ist lächerlich. In Wahrheit waren die Regional- und Lokalwahlen eine schallende Ohrfeige für beide Parteien des Establishments.
Die Wahlenthaltung stieg auf 40%, in den Großstädten noch deutlich höher: Athen 58%, Piräus 57%, Thessaloniki 47%. Zusätzlich wählen etwa 10% derjenigen, die zur Wahl gingen, „weiß“ oder ungültig. Darin kommen verschiedene Aspekte zum Ausdruck, neben Apathie und politischem Desinteresse bei einem Teil auch diffuser politischer Protest bei anderen, der durch eine Mischung aus Frustration, Wut und Skepsis geprägt ist. Der Grund für die Enthaltung war sicherlich Ablehnung des Establishments und nicht passive Zustimmung zur Regierungspolitik, wie das PASOK-Funktionäre allen Ernstes zu argumentieren versuchten.
Landesweit verlor die PASOK, gegenüber den Parlamentswahlen von 2009, über eine Million Stimmen und damit ein Drittel ihrer WählerInnen. Allein in Attika, der mit Abstand wichtigsten Region, waren es 400.000, in Piräus die Hälfte ihrer WählerInnen. Für die ND setzte es ein ähnliches Desaster: Gegenüber dem katastrophalen Ergebnis von 2009 verlor sie nochmals 550.000 Stimmen, in Attika die Hälfte ihrer WählerInnen.
Die konservativ-rechtsextreme LAOS stagnierte bei etwa 5% und verlor in Attika sogar 56.000 Stimmen. Allerdings erreichte die offene Neonazi-Partei Chrysi Avgi bei den Lokalwahlen in Athen (= Zentrum) 9.700 Stimmen und damit 5.26%. In einigen Bezirken, in denen viele MigrantInnen leben, konnte sie unter kleinbürgerlichen und deklassierten Schichten erfolgreich rassistische Hetze betreiben und erreichte dort teilweise 12-14%. Obwohl Chrysi Avgi landesweit irrelevant ist, stellen diese Ergebnisse doch eine ernste Warnung für die ArbeiterInnenbewegung insgesamt und die MigrantInnen besonders dar – zumal Chrysi Avgi für die guten Beziehungen zur Spezialpolizei MAT bekannt ist.
Linksruck
Das bestimmende Element bei diesen Wahlen war aber ein deutlicher Linksruck. Die stalinistische KKE steigerte ihren Stimmenanteil um 3% auf 10,7% landesweit und auf 14,4% in Attika. Im ganzen Land gewann sie, trotz der gesunkenen Wahlbeteilung, etwa 70.000 Stimmen dazu. Die linksreformistische SYRIZA ging nach einer Abspaltung und massiven internen Konflikten geschwächt in die Wahl und stagnierte bei 4,5%, verlor aber deutlich an Stimmen; in Attika kandidierte der rechte Parteiflügel gemeinsam mit einem PASOK-Dissidenten, die linke Flügel für sich allein.
ANTARSYA, ein Bündnis verschiedener linksradikaler, darunter einige aus dem Trotzkismus kommender Organisationen, erreichte landesweit 1,7% und steigerte damit ihre Stimmen (trotz gesunkener Wahlbeteiligung) von etwa 25.000 bei den Parlamentswahlen auf 95.000. In der Region Attika kam ANTARSYA auf 2,3%, bei den Lokalwahlen von Athen (Zentrum) auf 2,8%, von Piräus auf 2,4%, von Thessaloniki auf 1,7% und von Patras auf 4,5%. Und auch die trotzkistische OKDE (Ergatiki Pali), die in je einem Bezirk von Athen und Thessaloniki eigenständig kandidierte, erreichte dort 1,5% beziehungsweise 2% der Stimmen.
Zusammen kamen KKE, SYRIZA und ANTARSYA landesweit auf etwa 20%, in der Region Attika auf über 25,2% (Athen/Zentrum 22,3%, Piräus 25,1%) und in Patras gar auf 42,3%. Dieses Ergebnis zeigt, zusammen mit der teilweise systemkritischen Wahlenthaltung, das Potential, das die Linke gegenwärtig in Griechenland hat. Allerdings wird die weitere Entwicklung nicht bei Wahlen entschieden werden.
Krise und neue Angriffe
Während sich in Mitteleuropa die Wirtschaft zumindest vorübergehend (auf Kosten anderer Länder) erholt, steckt die griechische Ökonomie tief in der Krise. Das Bruttoinlandsprodukt dürfte 2010 um etwa 4,7% gesunken sein, die Industrieproduktion gar um etwa 8% und die Bauindustrie ist überhaupt kollabiert. Circa eine Million GriechInnen, von etwa 11 Millionen EinwohnerInnen, sind als arbeitslos registriert.
Dass Griechenland die Staatsschulden nicht zurückzahlen kann, ist offensichtlich. Der griechische Staat nimmt jährlich zwischen 50 und 60 Milliarden Euro ein. Und allein in den Jahren 2014/15 soll Griechenland etwa 150 Milliarden zurückzahlen – und zwar ohne EU und IWF, deren 110-Milliarden-Hilfe 2012 auslaufen soll. Selbst wenn in Griechenland selbst nichts ausgegeben würde, kann sich das niemals ausgehen. Die Regierung versucht in Verhandlungen mit Europäischer Zentralbank, EU und IWF eine zeitliche Ausdehnung der Rückzahlung zu erreichen. Dadurch würde aber auch die zu zahlenden Summen weiter steigen.
In dieser misslichen Lage bleiben der griechischen KapitalistInnenklasse und ihren Regierungen nur verschärfte Angriffe auf die Lohnabhängigen. Diese wurden im Dezember gestartet und bestehen aus zwei großen Bereichen: Erstens sollen die Kollektiv-/Tarifverträge de facto abgeschafft werden, nämlich für die Bosse nicht mehr bindend sein. Es können dann von den KapitalistInnen Verträge auf Betriebsebene oder auch Einzelverträge abgeschlossen werden. Das würde auch im Privatsektor eine massive Verschlechterung bei Löhnen und Arbeitsbedingungen bringen. Zweitens richten sich die Angriffe auf die Beschäftigten in den halbstaatlichen Sektoren, wo die Regierung die verbliebenen Errungenschaften zerstören und die Löhne und die Anzahl der Jobs massiv kürzen will. Besonders betroffen sind davon die ArbeiterInnen in der Elektrizitätsbranche, bei der Eisenbahn und bei den Bussen
Streikwelle
Diese neue, dritte Angriffswelle führte zu einem neuen Anstieg der Klassenkämpfe. EisenbahnerInnen und BusfahrerInnen streikten Mitte Dezember eine ganze Woche. Die Hauptgeschäftsstelle der Bahn wurde besetzt und sogar die bislang PASOK-loyale Bahngewerkschaft distanzierte sich von der Regierung. Die SchiffsarbeiterInnen streikten sieben Tage, die Beschäftigten der lokalen Behörden für fünf Tage. Längere Streiks gab es auch bei den Banken, im öffentlichen Gesundheitswesen, bei TV/Radio/Zeitungen und bei der Müllabfuhr.
Der Generalstreik am 15. Dezember war der zweitgrößte im Jahr 2010. Lediglich Anfang Mai waren noch mehr Menschen beteiligt. Im ganzen Land stand die Arbeit still. Die öffentlichen Verkehrsmittel streikten nahezu vollständig – Metro und Busse fuhren nur, um die Streikenden zu den Demos zu bringen. Die Eisenbahn stand still, alle Flüge wurden gestrichen. Keine Fähre war unterwegs – die SchiffsarbeiterInnen waren ebenso zu 100% im Streik wie die Hafen- und WerftarbeiterInnen. Das gleiche galt für die Stahlindustrie und etliche private Konzerne wie etwa Coca Cola. Auch im Energiesektor, bei den Wasserwerken, bei Post, Telekom und den Banken war die Beteiligung extrem hoch. Dazu kamen viele andere Berufsgruppen. Auffällig war, dass diesmal die Teilnahme des privaten Sektors viel stärker war als bei früheren Generalstreiks. In Athen waren nach verschiedenen Angaben 80-100.000 Menschen auf den Demos und das bei starkem Regen und Kälte. Dazu kamen Zehntausende in anderen Städten.
Eine wichtige Entwicklung, die bei diesem Generalstreik deutlich sichtbar wurde, ist die Verschiebung der Kräfteverhältnisse innerhalb der ArbeiterInnenbewegung, die sich beiden Regionalwahlen bereits angedeutet hatte. Waren die Mobilisierungen bei den ersten Generalstreiks 2010 noch von der Bürokratie der beiden Gewerkschaftsdachverbände GSEE (privater Sektor) und ADEDY (öffentlicher Sektor) dominiert, so hat sich das stark verändert. Die Arbeitsniederlegungen wurden zu guten Teilen von unten aus organisiert. Die beiden großen Kontingente stellten bei diesem Generalstreik einerseits die PAME, die Gewerkschaftsfront der KKE, und andererseits das Bündnis der Basisgewerkschaften, in dem diverse linksradikale und antikapitalistische Kräfte zusammengeschlossen sind. Der Block der Gewerkschaftsbürokratie ist nur noch eine kleine Minderheit; die BürokratInnen trauten sich diesmal gar nicht bis zum Ende der Demo mitzugehen, weil sie Angst hatten von aufgebrachten ArbeiterInnen attackiert zu werden.
Perspektiven
Der Einflussverlust der PASOK-GewerkschaftsbürokratInnen ist natürlich kein Zufall. Sie haben den Lohnabhängigen nichts anzubieten und werden zu Recht als HandlangerInnen der Regierung wahrgenommen. Selbst für ihre Politik der letzten 20 Jahre, nämlich der Abfederung von Verschlechterungen, lässt die Krise des griechischen Kapitalismus keinen Spielraum mehr. Die Krise des Systems ist auch eine Krise des (sozialdemokratischen) Reformismus. Die herrschende Klasse lässt die Angriffe vorerst einmal von PASOK durchführen, sie diskutiert aber auch bereits über eine mögliche „Expertenregierung“, die mit Notverordnungen agieren soll.
Es ist offensichtlich, dass in der aktuellen Krise für die ArbeiterInnenbewegung ein defensives Programm nicht annähernd ausreichend ist. Auch ein Sturz der aktuellen Regierung ist nicht ausreichend, denn was kommt dann… die nächste Regierung, die das Geschäft des Kapitals besorgt. Es braucht tatsächlich eine Lösung dieser Krise – und diese Lösung wird entweder eine kapitalistische auf dem Rücken der Lohnabhängigen sein, oder sie wird das System in Frage stellen müssen. Letztlich kann der Mechanismus der Erpressungen durch die Finanzmärkte, des Schuldendienst, der Betriebsschließungen, der Subventionen fürs Kapital und der Steuerhinterziehung und Steuerflucht nur zerschlagen werden, wenn die Schulden gestrichen und die Banken und Konzerne entschädigungslos enteignet und verstaatlicht werden – und zwar unter der Kontrolle der Beschäftigten und der ArbeiterInnenbewegung insgesamt.
Das kann natürlich nur gegen die Bourgeoisie, ihren Staat und ihre Parteien durchgesetzt werden. Eine solche Perspektive kann sich nur auf eine breite Klassenkampfbewegung der Lohnabhängigen stützen, die dazu Streikkomitees braucht und auch Verteidigungsstrukturen (letztlich ArbeiterInnenmilizen), um sich gegen die verstärkte staatliche Repression, die in Griechenland bereits läuft und über die die herrschende Klasse verstärkt nachdenkt, und gegen faschistische Schlägertrupps durchsetzen zu können. Letztlich würde eine solche Dynamik auf eine ArbeiterInnenregierung hinauslaufen.
Ein zentraler Aspekt in der gegenwärtigen Situation ist auch Internationalismus. Die griechische KapitalistInnenklasse wird Rückendeckung von der europäischen Bourgeoisie bekommen, die eine antikapitalistische Entwicklung in Griechenland ökonomisch, politisch und womöglich militärisch zu erdrosseln versuchen wird. Deshalb ist es für die griechische ArbeiterInnenbewegung von Anfang an sehr wichtig, Verbindungen mit den Kämpfen in anderen europäischen Ländern aufzubauen und womöglich gemeinsam zu agieren. Umgekehrt ist es in den anderen Ländern – besonders in Deutschland und Österreich, wo es eine massive antigriechische Hetze gab/gibt – heute eine wesentliche Aufgabe, Solidarität mit dem Kampf der griechischen KollegInnen zu entwickeln. Wir dürfen nicht übersehen: Griechenland ist ein Laboratorium. Das, was nun in Griechenland passiert, kann wegweisend sein für andere Länder. Das gilt für bevorstehende Angriffe bei einer Vertiefung der Krise, aber bei einer positiven Entwicklung kann Griechenland auch zum Fanal für den Klassenkampf in Europa werden.
Kräfteverhältnisse
Schuldenstreichung, Enteignung, Verstaatlichung, ArbeiterInnenkontrolle, Streikkomitees, ArbeiterInnenregierung, Internationalismus – all das wird nicht mit den Gewerkschaftsführungen und den linksreformistischen Parlamentsparteien KKE und SYRIZA zu machen sein. KKE steht letztlich für klassenübergreifende „Volksfront“-Bündnisse und für eine ausgesprochen sektiererische Abschottungspolitik gegenüber der restlichen Linken, die die Bewegung immer wieder spaltet. SYRIZA ist zerrissen zwischen einem sozialdemokratischen Flügel und verschiedenen linkeren Kräften; sie ist weder eine proletarische Massenorganisation mit traditionellen Wurzeln in der Klasse noch eine neue ArbeiterInnenpartei, sondern ein heterogener Haufen, der durch den Test des Klassenkampfes in immer weitere Spaltungen getrieben wird.
Die Stimmung unter den griechischen Lohnabhängigen ist momentan an der Kippe: Frustration und Ratlosigkeit auf der einen Seite, zornige und revolutionäre Stimmungen auf der anderen. Eine griechische Genossin meinte kürzlich zum Autor, „es riecht nach Pulver“. Es wird an den Kräften mit antikapitalistischem und revolutionärem Anspruch liegen, ob die Linksentwicklung in Griechenland eine positive Perspektive finden kann. Wahlprojekte sind dabei nicht entscheidend. Die zentralen Schlachten werden in den Großbetrieben und auf der Straße geschlagen werden. Das Bündnis der Basisgewerkschaften ist ein Schritt in die richtige Richtung, es war allerdings bisher zu lose, um selbst die Initiative in die Hand zu bekommen.
Dabei ist es sicherlich eine Gratwanderung, einerseits Kooperationen zu vertiefen und andererseits weder in kleinliche Dominanzmanöver zu verfallen noch politisch unausgewiesene „Fusionen“ einzugehen, die rasch wieder zerbrechen. Die zentrale Aufgabe sind heute auch nicht Bündnisschachereien, sondern die Verankerung der revolutionären Kräfte in den großen Betrieben. Nur in der ArbeiterInnenklasse und ihren Kämpfen kann die so dringend notwendige revolutionäre Partei aufgebaut und damit die Führungskrise der griechischen ArbeiterInnenklasse überwunden werden.
Zum Weiterlesen:
Griechenland, Deutschland und die EU
OKDE und RSO: Vereinigen wir die Kämpfe in ganz Europa –
RSO-Buch: Revolution und Konterrevolution in Griechenland