Eskalierende Demonstration in Albanien

Drei Tote und mehrere Dutzend Verletzte sind die vorläufige Bilanz einer Demonstration, die am Freitag, 21.1.2011, in Tirana, der Hauptstadt Albaniens, außer Kontrolle geraten war. Julia Masetovic kommentiert die Vorgänge in dem kleinen Balkanland.

Zu der Manifestation vom 21. Januar hatte der Vorsitzende der Sozialistischen Partei, Edi Rama, aufgerufen, um gegen die von Sali Berisha geführte Regierungskoalition zu demonstrieren. Etwa 20.000 Anhänger/innen der Opposition hatten sich am Nachmittag im Zentrum der albanischen Hauptstadt zu Protesten gegen die jüngsten Korruptionsfälle in der Regierung versammelt. Am späteren Nachmittag setzten sich mehrere hundert Demonstrant/inn/en von der Versammlung ab und versuchten einen Sturm auf das Regierungsgebäude am zentralen Bulevard Deshmoret e Kombit, am „Boulevard der nationalen Helden“. Die Polizei setzte daraufhin Wasserwerfer und Tränengas ein, über die Köpfe der Demonstrant/inn/en hinweg wurden Warnschüsse mit scharfer Munition abgegeben.

Vor der „Pyramide“, dem direkt neben dem Amtsgebäude von Premierminister Sali Berisha gelegenen und ursprünglich für den 1984 verstorbenen Führer des stalinistischen Albanien Enver Hoxha errichteten Baues, wurden unter anderem Autos in Brand gesetzt. Die Polizei wurde mit Steinen und Molotow-Cocktails beworfen, ein Nebeneingang des Regierungsgebäudes wurde demoliert. Allerdings scheiterte der Sturm auf das Regierungsgebäude, bei dem am späten Nachmittag gegen 16 Uhr schließlich sogar zur Durchbrechung der Absperrungen als Rammbock ein Mercedes verwendet wurde. Unter zurzeit noch nicht völlig geklärten Umständen dürften in der Folge mindestens drei Menschen, von denen am Abend erst von zwei die Identität festgestellt werden konnte, von der Spezialpolizei erschossen worden sein.

Dass die Demonstration eskalierte, ist hierbei kein Zufall, sondern letztlich das Ergebnis von mehreren miteinander verbundenen Faktoren: Erstens ist das politische Klima seit den Wahlen von 2009 in Albanien alles andere als entspannt: Traditionell wird in den letzten 20 Jahren die Politik des Landes von zwei Parteien bestimmt – der Demokratischen Partei und der Sozialistischen Partei. Zurzeit regiert die Demokratischen Partei in einer Koalition mit der von den SP abgespaltenen LSI, der von Ilir Meta geführten Sozialistischen Integrationsbewegung. Von der Sozialistischen Partei werden der Regierung und insbesondere der regierenden Demokratischen Partei von Berisha Wahlfälschungen vorgeworfen.

Die Sozialistische Partei boykottierte die Parlamentsarbeit, mehrere Parlamentarier traten ebenso wie etwa 200 SP-Sympathisant/inn/en in den Hungerstreik. Erst im Mai 2010 entschied sich die SP auf Druck seitens der Europäischen Union für eine Beendigung des parlamentarischen Boykotts. Ende Dezember 2010 lehnte das Parlament die von der Sozialistischen Partei geforderte Untersuchungskommission ab. Schon wenige Tage später wurde von der Zentralen Wahlkommission entschieden, dass die Wahlurnen nicht mehr geöffnet werden sollten – eine Neuauszählung wurde endgültig abgelehnt, mit der Verbrennung der Wahlzettel begonnen.

Unmittelbarer Anlass der Proteste war, dass zweitens in der auf die Aufdeckung von Skandalen spezialisierten und äußerst populären TV-Sendung Fiks Fare vor kurzer Zeit ein Video auftauchte. Es zeigte den Vizepremier Ilir Meta in einem geheim mitgefilmten Gespräch bei dem, was ohnehin allgemein bei allen Regierenden vermutet wird: Offen wurde über die Höhe von Bestechungsgeldern im Falle eines Projektes für ein neues Wasserkraftwerkes verhandelt. Ilir Meta ist inzwischen zurückgetreten, nachdem seine Versuche, die Bänder als manipuliert zu bezeichnen, als gescheitert betrachtet werden mussten. Trotzdem ist dies nur die Spitze eines Eisberges: Korruption ist alltäglich in Albanien, Bestechungsgelder und Gefälligkeiten für an sich kostenlose Dienstleistungen sind üblich. Das beginnt bei der Behandlung im Krankenhaus und endet eben bei der politischen Verwaltung des Landes. Der von der SP organisierte Protest richtete sich vordergründig gegen diese allgegenwärtigen Praktiken, die bis in die höchsten Regierungskreise reichen.

Dazu kommen drittens die Auswirkungen der Wirtschaftskrise, die mit einiger Verzögerung 2010 auch Albanien erreicht haben. Nicht so sehr wegen der direkten Auswirkungen auf die albanische Industrie – diese ist ohnehin kaum konkurrenzfähig. Das spiegeln auch die Zahlen für Ausfuhren und Einfuhren wieder: 2009 exportierte Albanien nur Waren für nicht ganz 1.1 Milliarden US-Dollar, die Importe beliefen sich hingegen auf fast 4.3 Milliarden Dollar. Das Handelsdefizit entspricht mit 3.2 Milliarden US-Dollar mehr als einem Viertel des Bruttoinlandsprodukts.

Die Lücke wurde und wird geschlossen mit den Überweisungen der Auslandsalbaner/innen. Etwa ein Drittel der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter ist inzwischen vor Armut und Perspektivlosigkeit ins Ausland emigriert – ganze Dörfer sind inzwischen von der Bevölkerung verlassen worden. Durch die Wirtschaftskrise verloren nun viele Albaner/innen im Ausland ihre Jobs und mussten zurückkehren. Viele Zehntausend Albaner/innen hat dieses Schicksal inzwischen vor allem in Griechenland (in dem allein mehrere hunderttausend Albaner/innen leben), aber auch in Italien getroffen.

Gerade in den letzten Monaten ist daher die Frustration im Land kontinuierlich gestiegen. Zwar sind die Horrorszenarien von Hunderttausenden zusätzlichen Emigrant/inn/en nach Wegfall der Visapflicht für den Schengenraum im Dezember 2010 ausgeblieben, aber die Perspektiven sind nach wie vor für große Bevölkerungsschichten äußerst schlecht – und die offizielle Arbeitslosenstatistik von etwa 13 % Arbeitslosigkeit (aus der die landwirtschaftlich Erwerbstätigen – immer noch fast 60 % aller albanischen Erwerbstätigen ! – ohnehin schon herausgerechnet sind) spiegelt die Realität nicht einmal annähernd wieder: Viele Jugendliche, die die Hochschulen verlassen, bekommen keine Jobs – unzählige Kellner auch in kleinen Bars verfügen über einen Uni-Abschluss –, und der offizielle Durchschnittslohn von etwas über 200 Euro (bei Preisen, die für viele Produkte höher liegen als in der EU, immerhin muss ein großer Teil des Bedarfs außer Grundnahrungsmitteln nach wie vor importiert werden) deckt sicher nicht das, was zu einem ordentlichen Leben notwendig wäre.

Natürlich ist der Unmut, der zu den Zusammenstößen vom 21. Januar geführt hat, verständlich. Allerdings bietet auch die Sozialistische Partei keine grundsätzliche Alternative. Sie ist eine durch und durch bürgerliche Partei, die sich mit der Demokratischen Partei seit 1990 in der Regierung abgewechselt hat. Die Sozialistische Partei wird einen Teil des Unmuts für ihre Anti-Regierungs-Proteste auf ihre eigenen Fahnen lenken können, sie wird aber ebenfalls nicht in der Lage sein, die grundlegenden Probleme des Landes zu lösen. Sie ist nichts anderes als das etwas linkere Spiegelbild der zurzeit regierenden Demokratischen Partei; Edi Rama, der charismatische Bürgermeister von Tirana, würde auch nicht wesentlich anders regieren als der „demokratische“ Sali Berisha. Nicht zufällig hat Edi Rama in einer dramatischen Pressekonferenz am Abend des 21. Februar zwar das unverhältnismäßige Vorgehen der Polizei angeprangert, aber auch bereits zur Mäßigung aufgerufen.

Das Interesse der SP geht dahin, die Proteste auf einen parlamentarischen Weg zu kanalisieren und ihre Anhänger/innen auf einen „demokratischen Machtwechsel“ einzuschwören, Demonstrationen sind in diesem Szenario nichts anderes als kleine Nadelstiche, die den Druck auf die Regierung erhöhen sollen. Diese Strategie geht sicher auch auf den Druck der Europäischen Union zurück, die für die herrschende Elite Albaniens, nennt sie sich nun sozialistisch oder demokratisch, unverzichtbar ist und nicht zur Disposition steht.

Das, was allerdings Interesse an der Demonstration vom 21. Januar beansprucht, sind die für Albanien neuen Protestformen. Seit den unruhigen Jahren um 1997, als das Land nach dem Zusammenbruch der Pyramidengesellschaften in Chaos versank, waren Demos in Albanien weitgehend friedlich verlaufen. Nach Jahren bürgerkriegsähnlicher Unruhen war die Periode seit etwa 2000 von einem fragilen, aber doch über Jahre aufrecht erhaltenen relativen inneren Frieden gekennzeichnet. Für viele war daher der Ausbruch an Wut überraschend, der sich am Nachmittag des 21. Januar in umgestürzten Polizeiautos und unzähligen Steinwürfen gegen die Symbole der politischen Macht ausdrückte.

Die Polizei hat dies auch recht gut verstanden und machte am Abend Jagd auf „jugendliche Randalierer“ im Zentrum von Tirana. Diese relativ friedlichen Zeiten der letzten Jahre könnten also dem Ende entgegen gehen. Allerdings gibt es keine Kraft der Linken, die in der Lage wäre, diesen Protest zu organisieren. Die politische Landschaft Albaniens gleicht vor allem auf der Linken auch noch 20 Jahre nach dem Ende des isolationistischen Hoxha-Regimes einer Wüste. So steht zu befürchten, dass sich das politische Karussell nur eine Runde weiter dreht, ohne dass sich Albanien aus der Umklammerung der beiden Großparteien, die das Land seit zwei Jahrzehnten im Würgegriff halten, befreien könnte. Die politischen Alternativen wie die Bewegung „Mjaft!“ („Genug!“) setzen auf „zivilgesellschaftlichen Protest“ und „alternative Protestformen“, die in der sterilen politischen Landschaft Albaniens seltsam fremdartig wirken. Die Gewerkschaften sind kaum existent und streng in sozialistische und demokratische Syndikate, die weitgehend ohne Anhang im luftleeren Raum agieren, aufgeteilt. Was fehlt, ist eine den Frust organisierende radikale Kraft. Sie hätte auch die Aufgabe, die Proteste aus der Hauptstadt Tirana hinauszutragen und im Lande zu verallgemeinern. Zwei der drei Toten sind zwar vom Land, aus dem ostalbanischen Diber und dem südalbanischen Gjirokaster, aber außerhalb von Tirana ist es bis dato völlig ruhig geblieben. Noch ist es zu früh, um die längerfristige Dynamik, die vielleicht durch die Demo ausgelöst worden ist, einzuschätzen. Eines ist aber klar: Ohne eine organisierende linke Kraft, zu der heute der Grundstein gelegt werden müsste, wird der Zorn und die Wut über die drei Polizeimorde verpuffen müssen.