Buchbesprechung zu –„Empört Euch!–“

Mit der Streitschrift „Empört Euch!“ landete der 93-jährige Widerstandskämpfer Stephan Hessel einen Bestsellererfolg. Felix Fischer nimmt das Buch, das über eine Million mal verkauft wurde, unter die Lupe.

Gerade einmal 21 Seiten hat das kleine Buch, das wochenlang die französischen Verkaufslisten dominierte. „Empört Euch!“ ist der Titel der von Stephan Hessel im Oktober 2010 veröffentlichen Streitschrift, in welcher er die Jugend aufruft, gegen Ungerechtigkeit und Unterdrückung aktiv zu werden. Das mediale Echo auf das Werk des 93 jährigen Résistancekämpfers und KZ-Überlebenden war beachtlich. „Empört Euch!“ wurde nicht nur über eine Million mal verkauft, sondern der Autor auch zu Interviews bei vielen großen Zeitungen eingeladen, so z.B. beim Wochenmagazin „Der Spiegel“.

Doch was will Stephan Hessel eigentlich? Wir wollen uns hier mit seinen Forderungen auseinander setzen und „Empört Euch!“ aus marxistischer Sicht beurteilen.

Der Autor

Geboren wurde Stephan Hessel 1917 in Berlin als Sohn einer Journalistin und eines Schriftstellers. 1924 zog er mit seinen Eltern nach Paris, wo er 1939 die französische Staatsbürgerschaft bekam. Nach dem Angriff Nazideutschlands auf Frankreich kämpfte Hessel in der Résistance gegen die faschistischen Invasoren. Seine Deportation ins KZ Buchenwald überlebte er durch eine falsche Identität. Nach dem zweiten Weltkrieg war der Autor Vertreter Frankreichs bei den Vereinten Nationen, wo er sich vor allem für Menschenrechte einsetzte. Stephan Hessel war Mitautor und 1948 auch Mitunterzeichner der Charta der Menschenrechte. 1962 gründete er die „Vereinigung für die Ausbildung von afrikanischen und madagassischen Arbeitnehmern“, um sich in Frankreich für die Rechte von afrikanischen ArbeiterInnen einzusetzen. Später widmete er sich dem Schreiben und veröffentlichte mehrere Werke. Auch heute noch besucht Hessel Schulen und Unis und versucht, die Jugend von den Grundsätzen der Résistance und der Notwendigkeit von politischer Aktivität zu überzeugen.

Die Résistance

Die Résistance und deren Grundsätze sind für Hessel nach wie vor das Fundament seiner politischen Weltanschauung. Das Programm des Nationalen Widerstandsrates, mit welchem „Empört Euch!“ eingeleitet wird, beinhaltet u.a. folgende zentrale Punkte: soziale Sicherheit für Alle, Verstaatlichung der Grundversorgung und Großbanken, gerechte Verteilung des Reichtums, freie Presse und schließlich „…die Errichtung einer echten wirtschaftlichen und sozialen Demokratie…“.

Diese Ziele der Résistance sieht Hessel heute in großer Gefahr. Ungerechtigkeiten würden immer größer, die Armen immer ärmer und die Reichen immer reicher werden. Hessel klagt den Lobbyismus bis in die „höchsten Ränge des Staates“ genauso an wie ungezügelte Geldgier der „Bonibanker“ und „Gewinnmaximierer“.

Die Ungerechtigkeiten, die hier angeklagt werden, sind aber bei weitem nicht die einzigen Dinge, die den ehemaligen Résistancekämpfer empören.

Der Palästina-Konflikt

Auch die jahrzehntelange Unterdrückung der PalästinenserInnen durch den israelischen Staat wird von Stephan Hessel angeklagt. Er selbst war seit 2002 einige Male in Gaza, im Westjordanland und in palästinensischen Flüchtlingslagern. Die Erfahrungen über die Lebenssituation der PalästinenserInnen stellen für Hessel seitdem einen wichtigen Bezugspunkt dar. Er bezeichnet den Gaza-Streifen (vollkommen zurecht) „für anderthalb Millionen Palästinenser (als) ein Gefängnis unter freiem Himmel…“. Auch die Folgen der Operation „Gegossenes Blei“ werden in „Empört Euch!“ beschrieben: Neben massiven materiellen Zerstörungen wurden 1400 PalästinenserInnen getötet.

Die Unterdrückung und die extrem schlechten Lebensbedingungen der PalästinenserInnen sind also einer der wichtigsten Gründe für Hessels Empörung. Aber was soll jetzt passieren?

Hessel bleibt hier jeglichen Vorschlag schuldig. Er ist zutiefst empört, hat aber selbst keine Perspektive für ein friedliches und gerechtes Palästina ohne Unterdrückung. Er bleibt bei einem Appell zur Empörung ohne konkrete Handlungsperspektive.

Der Weg der Gewaltlosigkeit

Auch wenn Hessel scheinbar oftmals nicht weiß, wie er Ungerechtigkeiten bekämpfen will (er also bei abstrakten Appellen bleibt), steht für ihn fest, dass der Weg der Gewaltlosigkeit der einzig richtige ist. Gewaltlosigkeit sei das beste Mittel gegen Gewalt. Und „Gewalt wirkt nicht.“, so Hessel. Es stimmt sicherlich, dass in vielen Situationen Gewalt nicht sinnvoll und hilfreich ist und friedlicher Protest besser geeignet ist, um politische Positionen vorzubringen und andere Menschen zu überzeugen. Trotzdem muss uns immer klar sein, dass die KapitalistInnen ihre Privilegien und ihren Reichtum nicht einfach so hergeben werden. Die Geschichte zeigt, dass immer, wenn eine Bewegung versucht hat, die Eigentumsverhältnisse in einem Land fundamental zu verändern, die Besitzenden alle Hebel in Bewegung gesetzt haben, um dies zu verhindern. Auf diese Gewalt der Herrschenden muss sich die Linke – wohl oder übel – einstellen und entsprechend vorbereiten.

Hessel schreibt: „Wenn es gelingt, dass Unterdrücker und Unterdrückte über das Ende der Unterdrückung verhandeln, wird keine terroristische Gewalt mehr erforderliche sein.“ Mit den Herrschenden über eine klassenlose Gesellschaft verhandeln? Auch wenn die PolitikerInnen der Regierungen von Menschenrechten und Demokratie schwafeln, haben sie am Ende des Tages doch den Erhalt der Klassengesellschaft im Kopf. Sie setzten die Interessen der Reichen schon immer mit der dazu notwendigen Gewalt durch. Eine aufgerüstete und zur „Aufstandsbekämpfung“ trainierte Polizei und eine Armee, die weltweit eingesetzt wird um Profitinteressen zu verteidigen sind nur die Hauptpfeiler der alltäglichen staatlichen Gewalt. Mit diesen werden wir uns auseinander setzten müssen, ob wir wollen oder nicht. Wer für seine/ihre Freiheit kämpfen will, muss damit rechnen, auch Gewalt anzuwenden zu müssen.

Letztendlich ist es auch ein wenig verwunderlich, dass ein ehemaliger Kämpfer der Résistance eine derart pazifistische Position einnimmt. Uns ist nicht bekannt, dass die Résistance mit den Nazi-Unterdrückern „über das Ende der Unterdrückung“ verhandelt hätte. Allerdings gibt es viele Berichte über Bombenanschläge auf Eisenbahntunnel, Maschinengewehrattacken auf deutsche Einheiten im französischen Gebirge oder Überfälle auf Armeelastwägen.

Die gierigen BankerInnen…

Vor allem mit seiner Kritik an den ungezügelten Finanzmärkten hat Hessel den Geist der Zeit getroffen. Nachdem die Regierungen der europäischen Staaten die Banken mit unvorstellbaren Summen vor dem Untergang gerettet haben, war die Empörung über dreiste und gierige BankerInnen natürlich groß. Selbst PolitikerInnen aus SPD und CDU/CSU versuchten sich durch Brandreden gegen die Finanzmärkte beliebt zu machen. Doch so erfolgreich wie Hessel hat das wohl noch keinE PolitikerIn geschafft. „Frieden und Demokratie“ seien in Gefahr, da sich die Verantwortlichen der Finanzwelt „keinen Deut ums Gemeinwohl scheren“ würden. Auch als Ergebnis dessen sei der Unterschied zwischen arm und reich heute größer denn je.

Und so ruft der ehemalige Widerstandskämpfer die „Verantwortlichen in Politik und Wirtschaft“ dazu auf, sich „…nicht kleinmachen und kleinkriegen zu lassen von der internationalen Diktatur der Finanzmärkte…“.

Antikapitalismus?

Wie so viele andere auch klagt Hessel in seinem Buch also nicht den Kapitalismus, das Privateigentum an Produktionsmitteln an sich an, sondern nur die „Auswüchse“ dessen. Genau deswegen kommt Hessel auch zu dem Schluss, dass die „Verantwortlichen in Politik und Wirtschaft“ etwas gegen die Barbarei der Finanzmärkte tun könnten und müssten.

Doch es ist kein Wunder, dass die Spekulation an den Märkten heute genauso weitergeht wie vor der Krise. Die PolitikerInnen in der Regierung sind ja schließlich dazu da, die Interessen der KapitalistInnen durchzusetzen.

Der Staat ist kein unabhängiger Schiedsrichter über der Gesellschaft, sondern Vertreter der Interessen des Kapitals. PolitikerInnen und Parteien sind in vielerlei Hinsicht mit dem Kapital verbunden und auch davon abhängig. So zum Beispiel über Parteispenden oder über Schulden, die die Regierenden bei privaten Banken machen, um ihre Programme zu finanzieren. Auch können KapitalistInnen Druck auf regierende PolitikerInnen ausüben, indem sie mit einer Verlagerung von Investitionen drohen. Eine unabhängige Politik ist im Rahmen dieses Systems und seiner „Sachzwänge“ nicht möglich.

Und weil das ganze angehäufte Kapital nun mal profitabel investiert werden muss, sind zu strenge Regeln an den Finanzmärkten unerwünscht, würden sie doch die Traumrenditen der Banken und Investmentfonds schmälern.

Es sind also nicht die „Auswüchse“ des Systems, die es zu bekämpfen gilt, sondern das System an sich muss gestürzt werden. Hessel jedoch schreibt nichts vom Sturz des Systems, sondern hofft u.a. auf die genannten „Verantwortlichen in Politik und Wirtschaft“.

Deutlich wird seine Position zu Staat und Kapital in folgendem Zitat: “Die Geschichte der Gesellschaften schreitet voran, bis am Ende der Mensch seine vollständige Freiheit erlangt hat und damit der demokratische Staat in seiner idealen Form entstanden ist.“

Wir hingegen denken, dass der Staat nicht in seiner idealen Form entstehen oder geschaffen werden, sondern durch die ArbeiterInnenklasse zerschlagen werden und durch eigene Verwaltungsstrukturen ersetzt werden muss. Mit dem Fortschreiten von revolutionären Entwicklungen, mit der weltweiten Durchsetzung der Planwirtschaft und der Selbstverwaltung der Menschen brauchen wir irgendwann keine repressiven Organe, keinen Staat mehr. Erst wenn jeglicher Staat abgestorben ist, können wir wirklich frei sein.

Klassenkampf von unten!

Unser Ziel einer klassenlosen Gesellschaft werden wir nicht innerhalb des bürgerlichen Staates oder innerhalb des Kapitalismus erreichen. Wir werden es auch nicht erreichen, wenn wir mit den Mächtigen in Politik und Wirtschaft zusammenarbeiten. Um unsere Interessen durchzusetzen müssen wir den Klassenkampf von unten führen – mit allen dazu nötigen Mitteln.

Und genau da ist der große Unterschied zwischen der Sichtweise Hessels und den Standpunkten des revolutionären Marxismus. Natürlich empören wir uns jeden Tag über all die Ungerechtigkeiten, mit denen wir jeden Tag konfrontiert sind. Und natürlich rufen auch wir alle dazu auf, sich gegen Ausbeutung, Ungerechtigkeit und Unterdrückung zu engagieren. Wir dürfen aber nicht bei oberflächlichen Aufrufen und allgemeinen Phrasen stehen bleiben, sondern müssen die Welt, in der wir leben, analysieren und verstehen, um sie erfolgreich bekämpfen zu können.