Wem gehört Mandelas Erbe?

Man kann nicht über den Tod Mandelas reden, ohne den Rassismus zu diskutieren. Die Art und Weise diese Fragen zu diskutieren, nimmt allerdings im westlichen Raum – und auch in der Linken – schnell problematische Züge an. Ein offener Diskussionsbeitrag zu kolonialen Denkstrukturen in der Betrachtung Nelson Mandelas. Dieser Beitrag entspricht aktuell nicht der mehrheitlichen Position der RSO.

 Kaum haben Persönlichkeiten der Geschichte ihr Leben gelassen, beginnt das große Ringen um das Urteil über sie. Da sie nicht mehr für sich sprechen können, können sie bereitwillig instrumentalisiert werden. Insbesondere bei einer so bedeutenden Persönlichkeit wie Nelson Mandela sind die Versuche zahlreich.

Die eine Seite versucht seine Taten zu verwässern und ihnen den radikalen Aspekt zu nehmen – damit Mandela ein nützliches Werkzeug wird um das gesellschaftliche Elend zu rechtfertigen und zu beschützen. Für sie ist es der quasi gottgleiche Mandela, der seine schützende Hand über „alle Menschen“ erhebt. Für sie ist Mandela eine Figur des Pazifismus und des Friedens.

Wieder andere werden versuchen Mandela als ihren Genossen darzustellen, wenn kein verkappter Kommunist, dann doch wenigstens einer, der auf „unserer Seite“ für die Befreiung der Menschen gekämpft hat. Jegliche Differenzen verwischend, um sich besonders als Gegner der nationalen Unterdrückung zu profilieren.

Weitere scheinen Mandela gerade die Darstellung der Herrschenden vorwerfen zu wollen: Dass er nichts erreicht habe, dass sich nichts am Rassismus geändert habe. Sie werfen Mandela vor, sich mit Pazifismus an die Weißen verkauft zu haben, das Leben der schwarzen Bevölkerung nicht verändert – und überhaupt die soziale Lage nicht verbessert zu haben.

Diese Versuche gleichen sich an einem Punkt: Sie vereinfachen die widersprüchliche Geschichte Nelson Mandelas, seines politischen Tuns und Wirkens – und damit das, was ihn zur Symbolpersönlichkeit gemacht hat – damit er ihren politischen Zwecken dient. Insbesondere im anti-rassistischen bzw. anti-kolonialen Kontext scheint jedoch gerade diese Instrumentalisierung besonders problematisch.

Denn genau wie sein Wirken komplex war, so war es auch seine Persönlichkeit – und so komplex war und ist auch das Verhältnis von Afrikaner_innen zu ihm – ob in Südafrika, dem afrikanischen Kontinent oder in der afrikanischen Diaspora. Die Instrumentalisierung und die damit einhergehende Vereinfachung von Personen des anti-kolonialen Kampfes sind dagegen, und man kann es nicht anders sagen, ein typisches Phänomen der rassistischen Gesellschaft.

Es ist der Rassismus, mit dem sich die weiße Bevölkerung privilegiert fühlt, nach Belieben Aspekte der unterdrückten Kulturen für sich in Anspruch zu nehmen, umzudeuten, zu verzerren – und dann zu bewerten. Es ist auch der Rassismus, der dazu führt, dass nicht die unterdrückten Nationen und „Rassen“ ihre Befreiung durchführen sollen, sondern über sie gesprochen wird. Es ist der Rassismus, der – ob westliche Presse oder linksradikale Kleingruppe – ins uns* das Gefühl hervorruft, dass es unsere Entscheidung ist, wie wir Mandela historisch einordnen und darstellen. Dass es unsere Entscheidung wäre, ob er ein illegitimer Führer des Befreiungskampfes war oder eben nicht. Jetzt wo Mandela tot ist, kann man umso leichter über ihn sprechen, ihn nach Belieben zerteilen, verzerren – um dann umso härter das Urteil des Kolonialherren zu fällen.

Wir tragen als Linke, Linksradikale, Internationalist_innen und Revolutionär_Innen die Verantwortung, diese Realität anzuerkennen. Solange wir nicht dazu in der Lage sind den Kapitalismus und mit ihm den Rassismus zu überwinden, solange ist der Rassismus in uns eine Realität. Wer über Nelson Mandela reden will, der sollte über die rassistische Realität, über das noch immer bestehende koloniale Verhältnis zu unterdrückten Kulturen bis hin zu den südafrikanischen Townships nicht schweigen.

Symbol für wen?

Denn Nelson Mandela ist nicht unsere Symbolfigur. Er ist nicht unser Führer gewesen und es ist auch nicht unser Erbe. Er ist es nicht für eine abstrakte Menschheit, die pazifistisch den Frieden sucht. Er ist es aber auch nicht für eine marxistisch-revolutionäre Befreiung. Schon gar nicht ist es aber der kluge Schwarze, der uns Weiße über den Rassismus aufklärt – mit dem wir uns gut fühlen können, dass wir zusammen finden. Er war vor allem kein einfaches Abziehbild ohne Widersprüche – sondern ein menschliches Wesen. Gerade aber die Entmenschlichung, die Instrumentalisierung, ist integraler Teil des Rassismus.

Zweifelsohne war Nelson Mandela aber eine Führungsfigur für den Befreiungskampf der Schwarzen. Er war ihre Führungspersönlichkeit. Und wie ihr Kampf widersprüchlich und nicht linear war, so war es auch sein Kampf nicht. Zu sagen, dass Mandela für ein Ende des Apartheid-Regime kämpfte, ist daher nur die eine, oberflächlichste Seite seiner Person.

Gerade die westlichen Medien, aber auch die Politiker_innen und Chef-Ideologen dieses Systems versuchen sich jetzt darin zu überbieten, Mandela von dem politischen und auch militärischen Kampf der schwarzen Bevölkerung in Südafrika abzutrennen. Ginge es nach ihnen hätte Mandela rein durch seine Wirkungsmacht aus dem Gefängnis heraus die Apartheid beendet. Als ob es die Rebellion der Townships, die monatelangen Streiks der Schüler_innen und Arbeiter_innen, den Guerilla-Kampf (den Mandela mit vorbereitet hat) nie gegeben hätte. Als ob das Ende der Apartheid ohne einen großen und auch brutalen anti-kolonialen Kampf auch nur vorstellbar gewesen wäre.

Sie versuchen sowohl zur Stärkung der Unterdrückung generell, aber insbesondere der Schwarzen, eben diese notwendige Gewalt, die den friedlichen politischen Kampf begleitet und ergänzt hat, zu vertuschen. Ähnlich zum Schwarzen-Befreiungskampf in den USA, so war auch in Südafrika das Verhältnis zwischen friedlichem und gewalttätigem Protest nicht einfach getrennt, sondern verwoben, widersprüchlich und sich gegenseitig ergänzend und bedingend. Die politischen Erfahrungen radikalisierten, aber sie förderten auch (terroristische) Verzweiflungstaten. Der Kampf um Befreiung erforderte eine ständige Diskussion und auch Weiterentwicklung. Mandela und der African National Congress (ANC) standen bis 2008 auf der US-Terror Liste – und er war teils als marxistischer Terrorist verschrien.

Aber auch wenn Mandela mit einigen marxistischen Ideen sympathisierte, war er eben nicht Mitglied der Communist Party, war er eben kein sozialistischer Revolutionär – er war ein Kämpfer für die Schwarzen-Befreiung. Genauso wie der Versuch, Mandela als klaren Pazifisten darzustellen, eine historische Lüge ist, so ist es auch die Behauptung, dass Mandelas Kampf „ein universal menschlicher“ und nicht ein spezifisch anti-rassistischer gewesen sei. Ebenso wie Malcom X, wenn auch nicht komplett gleich, sah er die Nützlichkeit jeglicher politischen Theorie aus diesem Blickwinkel der Befreiung der Schwarzen. Ist es denn verwunderlich?

Auch wenn wir einen Klassenstandpunkt einnehmen, müssen wir diese Realität anerkennen. Angesichts der rassistischen Gesellschaft, müssen wir anerkennen, dass nicht wir es sind, die die Führer_innen der anti-kolonialen Befreiung auswählen. Unser Urteil ist aus ihrer Sicht gar nicht gefragt. Für den Kampf der schwarzen Befreiung interessiert nicht, ob die Weißen die Methoden richtig finden. Dies zu beurteilen kann am Schluss nur die Aufgabe der unterdrückten Schwarzen selbst sein.

Heißt das, dass wir nichts über den geschichtlichen Prozess in Südafrika zu sagen haben? Natürlich nicht. Es geht nicht darum, dass Weiße in dieser Debatte schweigen, sondern darum, dass sie ihre eigene Position innerhalb dieser Debatte reflektieren müssen. Das heißt vor allem, dass wir die Bedeutung Mandelas auch aus dem Blickwinkel der Unterdrückten selbst suchen müssen. Denn ohne sie wäre Mandela als Symbolfigur nicht denkbar.

Wenn sich auch heute diejenigen in Lob überschlagen, die teils direkt an der Fortführung der Apartheid beteiligt waren (oder deren politische Nachfolger_innen) – oder sie ihn im Gegenteil verteufeln: Für diese schwarze Bevölkerung bleibt das Verhältnis zu Mandela komplexer – und seine politischen Entscheidungen werden natürlich nicht automatisch für richtig gehalten.

Die Wirkung der Dekolonisierung

Denn es ist offensichtlich, dass der Rassismus in Südafrika nicht beendet ist. Es ist offensichtlich, dass sich die soziale Lage kaum geändert hat – bis auf für wenige Schwarze, die in die Mittel- und Oberschicht aufsteigen konnten. Das ist nicht abzustreiten. Doch das Ende des Rassismus zu erreichen, war nicht allein Mandelas Aufgabe.

Entscheidender ist viel mehr, dass Mandela einen politischen Kampf repräsentierte, eine Idee des konsequenten Kampfes. Mandela war nicht wirkmächtig für die schwarze Bevölkerung, in ihrem Namen, sondern er war es durch sie. Wenn er für sie kämpfte, dann als Symbol, dass sie alle kämpfen müssen, dass sie alle eine Verantwortung haben – und vor allem keine Wahl. Mandela ist nicht als Einzelfigur denkbar, sondern nur in der kollektiven Befreiung.

Es geht daher auch nicht darum, ob Mandela den Rassismus beendet hat. Das hat die schwarze Community auf der Welt nie von ihm erwartet. Es geht nicht einmal um die faktischen Ereignisse der Verhandlungen, um die Papiere und das formelle Ende des Apartheid-Regimes. Es geht um den ersten Schritt der Dekolonisierung. Die Beendigung des Apartheid-Regimes bedeutet nicht das Ende des Rassismus, aber es bedeutet dennoch eine demokratische Revolution. Die formale Gleichstellung in Südafrika war für den gesamten afrikanischen Kontinent und die afrikanische Diaspora von enormer politischer Bedeutung. Sie bedeutet, dass zumindest vor dem Gesetz die Schwarzen Menschen geworden waren.

Dies ist keine philosophische Floskel, sondern es ist die Eroberung politischer Gleichstellung, die grundlegende Erfüllung bürgerlich-demokratischer Ideen von Gleichheit und Brüderlichkeit. Diese Gleichstellung ist nicht das Ende des Rassismus, aber sie muss zweifellos am Beginn jeder sozialen Befreiung liegen. Mandela hat genau diesen Wunsch der schwarzen Bevölkerung Südafrikas ausgedrückt. Er war ihr Führer, weil sie ihn gewählt haben, weil er der Ausdruck ihrer unmittelbaren Bedürfnisse war: Der Dekolonisierung. Wie können wir (und selbst als Revolutionär_innen bleiben wir Weiße) ihnen das Recht darauf absprechen, sich ihre Ziele selbst zu setzen und die dafür angemessenen Führer_innen zu wählen?

Doch natürlich hört mit dem Ende der Apartheid der Kampf nicht auf. Nicht nur, weil der Rassismus nicht besiegt ist. Sondern vor allem, weil die Kolonisierten plötzlich ihre ganze Kraft und Macht als Menschen spüren; als Individuen, die aktiv tätig sind. Ebenso wie die Gewalt gegen den Kolonialherren eine befreiende Gewalt ist, weil sie aus einem Kolonisierten einen aktiven Menschen macht, so ist es auch die Dekolonisierung als solche, die befreiend und ermächtigend wirkt.

Für die bürgerliche (weiße) Geschichtsschreibung agieren einzelne (meist weiße) Persönlichkeiten zum Besten einer bestimmten Gruppe für und über sie hinweg. Aber die Dekolonisierung ist ein Akt der Massen. Sie hören auf Objekte der Kolonisierer_innen zu werden, und werden zu Subjekten. Sie hören auf Sklav_innen zu sein und lernen, dass sie die eigenen Herrscher_innen über ihre Geschichte sind – oder es zumindest sein können.

Mit dem Ende der Apartheid hat die Dekolonisierung nur begonnen, und ihre Weiterführung ist der Kampf gegen die soziale Ungleichheit, gegen die Unterentwicklung, gegen die fehlende Bildung, gegen die wirtschaftliche Ausbeutung der westlichen Nationen und der Konzerne. Es ist eben ein kolonialer Blick, wenn man den Kämpfer_innen der schwarzen Befreiung gar nicht erst zutraut, selbst diesen Schluss aus den bisherigen Erfahrungen zu ziehen.

Heute jedoch ist dieses Recht noch immer in weiter Ferne und der Kampf gegen die Unterdrückung und Ausbeutung ist nicht beendet. Es ist daher angebracht andere Methoden zu wählen. Es ist nötig konsequenter zu kämpfen – und konsequentere Führer_innen aus den eigenen Reihen zu bilden.

Denn das Mandela mit dem Ende der Apartheid die Führung eben des Staates übernommen hat, in dem – ohne Apartheid – die soziale (und damit rassistische) Ungleichheit weiter eskalierte, dass er eine Politik zusammen mit den Konzernen machte, ist ebenso Teil seiner politischen Praxis, wie die Befreiung vom Apartheid-Regime.

Der Rassismus besteht nicht mehr in Gesetzestexten – und die Schwarzen in Südafrika, sie wissen es. Ebenso wie sie wissen, dass sie noch nicht befreit sind. Und sie werden erneut ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen müssen und selbst Entscheidungen treffen. Das ist ihre Verantwortung.

Der Kampf gegen den Rassismus

Dennoch liegt die Verantwortung zur Beendigung des Rassismus nicht bei ihnen allein. Auch wenn die Befreiung der Schwarzen nur ihr Werk sein kann, nur sie ihre Rechte durchsetzen werden, so können sie dennoch den Rassismus nicht allein besiegen. Wir, als Weiße, haben eine historische Verantwortung, den tief in unsere gesellschaftlichen Strukturen eingebundenen Rassismus zu bekämpfen. Das rassistische Denken in uns allen zu bekämpfen. Wir profitieren noch heute davon und müssen endlich (wirtschaftliche wie politische) Schritte in eine andere Richtung setzen.

Dies heißt auch, die anti-rassistischen Unterdrückung nicht einfach für den Klassenkampf zu instrumentalisieren. Es heißt, die Kämpfe der rassistisch Unterdrückten nicht nebenbei als wissenschaftliches Argument für den Kommunismus zu benutzen. Wer das Ende des Apartheid Staates stets dadurch zu entwerten sucht, dass dieser Kampf nicht die soziale Revolution brachte, trägt erneut zur völligen Entwertung der schwarzen Erfahrung und Befreiung in all ihrer Widersprüchlichkeit bei. Der spricht erneut über eine unterdrückte Gruppe als beherrschte Objekte.

Der rassistischen Unterdrückung zu begegnen heißt natürlich die politischen Rahmenbedingungen zu verstehen und die notwendigen politischen Schlüsse daraus zu ziehen. Für uns ist dies zweifelsohne die soziale Revolution. Ohne die kapitalistische Ausbeutung, die vom strukturellen und wirtschaftlichen Rassismus weltweit profitiert, wäre auch der Rassismus nicht möglich. Wir brauchen eigentlich nicht zu erwähnen, dass es auch nicht-weiße Kapitalist_innen (und Handlanger) gibt. Das Beispiel des Post-Apartheid Afrikas zeigt es ja selbst. Aber dabei darf nicht vergessen werden, dass die wirklich mächtigen Konzerne in westlich-weißer Hand liegen und auch ein schwarzer Präsident daran nichts ändert.

Doch die politische Lösung, die wir vorschlagen, können wir nicht von oben aufdrücken. Sie muss das Ergebnis eines Bewusstwerdungsprozesses sein. Dieser kann nicht einfach durch Aufklärung erreicht werden, sondern muss anhand praktischer Erfahrungen – und damit auch Kämpfen – erlebt werden. Wir müssen daher auch die kollektive Identität um einen kämpferischen Anti-Rassismus, den Nelson Mandela repräsentierte, anerkennen. Wenn er ein Symbol für die widersprüchliche Befreiung der Schwarzen war und ist, so war er selbst es auch.

Der Kampf ist eben kein linearer Sieg. Im Gegenteil, gilt doch für die revolutionäre schwarze Befreiung dasselbe, was Marx über die proletarischen Revolutionen sagte – denn sie bedingen sich gegenseitig:

„Proletarische Revolutionen dagegen […] kritisieren beständig sich selbst, unterbrechen sich fortwährend in ihrem eignen Lauf, kommen auf das scheinbar Vollbrachte zurück, um es wieder von neuem anzufangen, verhöhnen grausam-gründlich die Halbheiten, Schwächen und Erbärmlichkeiten ihrer ersten Versuche, scheinen ihren Gegner nur niederzuwerfen, damit er neue Kräfte aus der Erde sauge und sich riesenhafter ihnen gegenüber wieder aufrichte, schrecken stets von neuem zurück vor der unbestimmten Ungeheuerlichkeit ihrer eigenen Zwecke, bis die Situation geschaffen ist, die jede Umkehr unmöglich macht, und die Verhältnisse selbst rufen

Hic Rhodus, hic salta!

Hier ist die Rose, hier tanze!“

In diesem Prozess der Befreiung war Mandela ein Schritt, ein Versuch – war er der Ausdruck der politischen Gefühlswelt der unterdrückten Schwarzen. Mit dem Ende der Apartheid kam es nicht zum proletarischen Umsturz. Aber wer Mandela nur als denjenigen sieht, der die Ideale verkauft hat, der übersieht, dass er sehr wohl einen wichtigen Schritt in diesem Befreiungskampf mit ihnen gegangen ist. Er war für sie im Gefängnis, für sie hat er Verfolgung, Anfeindung und Gewalt ertragen und weiter gekämpft. Er hat es vor allem mit ihnen. Dies ist etwas, was wir ihm und allen anderen Schwarzen nicht nehmen dürfen – aber auch nie nehmen können.

Wir haben in dieser Frage nicht das Urteil zu fällen. Das müssen diejenigen tun, deren Führer er war. Diejenigen, die jetzt trauern, weil ihr Kampf eine Symbolfigur verloren hat. Doch er wird auch im Tod für sie ein Symbol des Kampfes sein. Was sie nicht verloren haben, das ist die Erfahrung, dass sie erfolgreich kämpfen können. Dass sie sich nehmen können, was ihnen zusteht: Ihr Recht menschliche Wesen zu sein. Dieses Recht steht für die Schwarzen und die Arbeiter_innenklasse weiter aus.

Sie selbst müssen die Mittel dafür wählen und es ist unsere Verantwortung sie dabei zu unterstützen, und nicht, sie zu instrumentalisieren. Aber natürlich müssen wir versuchen, die gemeinsamen Interessen zu finden. Denn auch wir wollen Menschen sein. Wir wollen frei sein; frei von Ausbeutung und Unterdrückung. Zweifellos, unsere Unterdrückung ist eine andere als die rassistische Unterdrückung – und für People of Color gehört oft genug beides zusammen. Aber in der Ablehnung finden wir zusammen, haben wir ein gemeinsames Ziel. Die Aufhebung unserer Unfreiheit heißt die Aufhebung jeder Unfreiheit. Und wenn dabei die rassistisch Unterdrückten einen anderen Weg gehen, so liegt es nicht an uns, ihnen eine „bessere“ Entscheidung aufzuzwingen. Sondern es liegt in unserer Verantwortung, sie in ihrem Recht unterstützen, ihre eigenen Entscheidungen zu treffen.

Nur so können wir erste Schritte dahin setzen, die jahrhundertelang zugefügten Wunden im kollektiven Gedächtnis der schwarzen Bevölkerung heilen zu lassen. Nur so können wir wieder Vertrauen gewinnen und schließlich zusammen kämpfen. Nur diejenigen (weißen) Revolutionär_innen, die beweisen, dass sie den Unterdrückten als Menschen begegnen, und nicht als Instrumente ihrer Macht, können ihnen gegenüber politisch wirkmächtig sein. Nur eine weiße Arbeiter_innenklasse, die ihre Privilegien-Status kritisiert und bewusst bekämpft, kann wirklich offen für den sozialen Befreiungskampf der Schwarzen sein. Und nur wenn wir die wirklichen Bedürfnisse verstehen, wenn wir also ihnen als menschliche Subjekte zuhören, können wir unsere Ideen der allgemeinen sozialen Befreiung mit dem anti-kolonialen Kampf verbinden.

Sollen die heutigen Massen entscheiden, wer ihre Führer_innen sind. Sollen sie entscheiden, ob die bürgerlichen Reformen ausreichen, oder ob sie einen revolutionären Kampf beginnen. Wir können und wollen es nicht für sie tun. Um Menschen zu werden, müssen sie ihr Haupt selbst erheben.

 

* Wenn in diesem Artikel von „wir“ gesprochen wird sind damit einerseits weiße Menschen generell gemeint, aber auch die linken bis links-radikalen Gruppen, die sich in einem vorrangig weißen und westlichen Kontext bewegen. Das gilt wohl für die allermeisten linksradikalen Gruppen hier in Deutschland. Dabei soll natürlich nicht ignoriert werden, dass sich in diesen Organisationen auch PoC finden. Aber sie bewegen sich natürlich auch dort als Marginalisierte.