Die Entwicklungen in Irak und in Syrien lassen sich hinlänglich nur im Kontext der Veränderungen im imperialistischen Weltsystem während der letzten Jahrzehnte verstehen. Gleichzeitig sind die politischen Eruptionen von der Ukraine über Syrien/Irak bis nach Ägypten ein Schlüssel zum Verständnis der Weltpolitik.
Vor rund einem Vierteljahrhundert hat der damalige US-Präsident Bush sen. nach dem Zusammenbruch des Stalinismus eine „Neue Weltordnung“ proklamiert. Die Idee war, dass die USA als letzte verbliebene Weltmacht auf der internationalen Bühne nun das uneingeschränkte Sagen haben sollten – wie so oft unter dem Vorwand, „Demokratie“ und Wohlstand in alle Teile der Welt zu bringen. Das weltpolitische Vakuum, das mit 1990/91 entstanden war, sollte offensiv von und im Sinne des US-Imperialismus genutzt werden, um dessen weltweite Vormachtstellung zu demonstrieren und auszubauen.
Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 diente der Afghanistan- und dann vor allem der Irakkrieg genau diesem Zweck; gerade auch auf militärischer Ebene. Die Vorstellung der US-Strategen war es, die Dominanz des US-Imperialismus über eine physische Präsenz in einer geostrategisch zentralen und an Rohstoffen reichen Region abzusichern und auszubauen. Diese Logik war freilich keine neue, doch gewann nun das Element einer direkten und offenen Kontrolle gegenüber der Schaffung von Marionetten-Regimen durch ein Agieren im Hintergrund (finanzielle Unterstützung für wohlgesonnene Gruppen/Machthaber, Geheimdienstoperationen…) an Bedeutung.
Etwas mehr als zehn Jahre nach dem Beginn der Intervention im Irak müssen nun selbst immer mehr neokonservative Kräfte in den USA, die die zentralen Antreiber für die militärisch-offensive Strategie unter Bush jun. waren, das Scheitern dieser eingestehen. Nicht nur, dass die direkte Kontrolle der USA über den „Nahen und Mittleren Osten“, der mit einem US-Sieg im Irak erreicht werden sollte, gescheitert ist. Mehr noch: die militärischen Konflikte in der Region sind in erster Linie überhaupt erst Produkt dieser gescheiterten Intervention. Die Geister, die dadurch gerufen worden sind, spuken wie wild. Viele der in der Region agierenden Kräfte sind aus Widerstandsgruppen gegen den Irakkrieg entstanden und/oder finanzieren sich aus US-Geldern, die an vermeintlich dem US-Imperialismus wohlgesonnene Kräfte geflossen sind, mit der Absicht, so Stabilität zu fördern. (Siehe Fact Sheet im Anhang: „ISIS und das Rebellenbündnis im Irak)
Neue Phase der Weltpolitik
Die heutige Situation kann jedoch nicht alleine durch die „falsche“ Strategie der Bush-Administration erklärt werden. Vielmehr ist sie Ausdruck veränderter Kräfteverhältnisse im imperialistischen Weltsystem und einer neuen Phase. Werfen wir einen kurzen Blick zurück: die Blockkonfrontation im „Kalten Krieg“ hat vor dem Hintergrund einer boomenden und ab den 1970ern sich in einem tendenziellen Abschwung befindenden Weltwirtschaft eine stabilisierende Rolle für die weltweiten Kräfteverhältnisse gespielt. Ab den 1970ern hat sich die Form der US-Hegemonie im Weltsystem gewandelt; real haben die USA an Dominanz verloren, aber waren dennoch die klar tonangebende Kraft. Die heutige Situation kann als Unvermögen der USA verstanden werden, diese Dominanz aktiv auszuüben, abzusichern und auszubauen.
Hintergrund davon ist ein schleichender, aber kontinuierlicher Verlust an ökonomischer Stärke bzw. das zunehmende Gewicht der sogenannten „emerging markets“ in der Weltökonomie. Gerade die aktuelle Weltwirtschaftskrise kann als Ausdruck davon verstanden werden: nicht zufällig stand der Zusammenbruch einer US-Bank am Beginn der Krise (auch wenn dieser nicht der Grund für jene ist). Und das Spezifische an der aktuellen Krise, was sie von vorangegangenen Krisen (etwa der Asienkrise 1996/97 oder diverser Währungskrisen Ende der 1990er) unterscheidet, ist gerade, dass die strukturellen Probleme der Weltökonomie nun auch endgültig in den imperialistischen Zentren durchschlagen.
Anderen Ländern und Regionen von Gewicht – in erster Linie geht es hier um die „emerging markets“ – fehlt es jedoch an ausreichender Stärke, um in dieses Vakuum vorzustoßen und tatsächlich eine eigenständige Position besetzen zu können; zu sehr ist das Weltsystem noch immer von den imperialistischen Zentren geprägt und abhängig. Alleine China schafft es, sich zusehends mehr Raum für ein eigenständiges Agieren in der Weltpolitik und –ökonomie zu schaffen. Wir haben im Weltsystem also eine Umbruchsituation, die jedoch weitaus stärker von Fragezeichen, einem Aushandeln und dem Ausloten von Kräfteverhältnissen geprägt ist als von einer Konsolidierung und der Herausbildung von neuen Strukturen. Derzeit scheint es unrealistisch, dass eine neue Phase von klaren Verhältnissen auf der internationalen Bühne bald erreicht sein könnte. Mit der Weltwirtschaftskrise sind die Karten ein Stück weit neu gemischt worden, aber keine Seite weiß noch so wirklich, was sie tatsächlich für ein Blatt in der Hand hält und welche Strategie angesichts der neuen, unbekannten Situation angemessen ist.
Irak: Unterschiedliche Player und Interessen
Die Situation in Syrien/Irak lässt sich in diesen Kontext einbetten. Im Irak haben verschiedene globale und regionale Mächte ökonomische und politische Interessen: dazu gehören die USA, der Iran, Saudi-Arabien oder die Türkei.
So spricht sich etwa der türkische Premier Erdogan für ein unabhängiges Kurdistan im Irak (nicht aber in der Türkei selbst!) aus, um das ölreiche Gebiet stärker an die Türkei binden zu können. Praktischerweise sind die Kurd_innen im Nordirak auch konservativer als jene in Syrien und der Türkei und stehen der AKP näher als den linken kurdischen Parteien.
Auch der Iran will Einfluss auf irakisches Öl (welches leichter zu fördern und von höherer Qualität als jenes im Iran oder Saudi-Arabien ist). Die iranische Regierung versucht außerdem, den Konflikt für eine Lockerung des wirtschaftlichen Embargos zu nutzen.
Saudi Arabien wiederum ist nicht an einer Eskalation der Lage interessiert, weil im mehrheitlich sunnitischen Saudi Arabien die besten Ölvorkommen in überwiegend schiitisch besiedelten Gebieten liegen.
Die Big Player des kapitalistischen Weltsystems haben darüber hinaus noch geopolitische Interessen. Die USA wollten Einfluss auf die irakischen Ölvorkommen, sind damit aber grandios gescheitert. Ihr derzeitiger Fokus auf das extrem umweltschädliche Fracking ist ein Ausdruck dieses Scheiterns im „Mittleren Osten“. Europäische Konzerne können nur in den boomenden kurdischen Gebieten im Norden investieren. Dass das am Irak-Krieg unbeteiligte China heute der größte Investor im Land ist, darf getrost als Treppenwitz der Geschichte bezeichnet werden.
Syrien, Irak, Ukraine: Mehr als nur regionale Konflikte
Wenn wir auf der Weltkarte noch etwas mehr in die Vogelperspektive zoomen, erweitert sich dieses Bild noch: von der Ukraine über Syrien/Irak bis nach Ägypten (bzw. Arabischer Frühling). Die politischen Verhältnisse sind hier überall gehörig durcheinander gewürfelt worden. Und überall handelt es sich um weit mehr als Konflikte zwischen regionalen Kräften, sondern haben die großen Player der Weltpolitik ihre Finger mit ihm Spiel und verhandeln ihre Beziehungen miteinander.
Das Bild ist jedoch weniger eindeutig, als es in manchen Ausschnitten und Situationen scheint. In der Ukraine konnten wir eine sehr klare und rasante Zuspitzung des Konflikts zwischen USA/EU und Russland sehen. Ging es zunächst der EU (und der USA) darum, die Ukraine in den westlichen Block zu integrieren (etwa über das Assoziierungsabkommen), hat das Putin-Regime seine Chance klar erkannt und mit der Einverleibung der Krim wichtige geopolitische Fakten geschaffen. Die Sicherung militärischer Stützpunkte an der physischen Konfrontationsgrenze zwischen „Ost“ und „West“ war, im Zuge der schrittweisen Zuspitzung der Blockkonfrontation, ein kleiner Etappensieg für zukünftige Konflikte. Besonders daran ist wohl auch, dass wir hier das Umschlagen der Konkurrenz um Macht und Einfluss im Weltsystem auf eine ganz direkte geopolitische Ebene sehen können, von der aus der Schritt zu direkten militärischen Konfrontationen kürzer ist als vorher.
Wir können hier eine sehr direkte und überraschend schnelle Zuspitzung zwischen USA/EU und Russland sehen. Teilweise wurde sogar von einem neuen Kalten Krieg gesprochen (ein Vergleich, der so eindeutig zu kurz greift, aber dennoch die reale Zuspitzung reflektiert).
Gerade die Entwicklungen in Syrien/Irak haben jedoch klar gemacht, dass es sich hier um keine lineare Zuspitzung handelt, sondern eine schrittweise Zunahme der eskalativen Dynamik. Plötzlich gab es Gespräche zwischen dem Iran und den USA, wie man auf die prekäre Lage im Irak am besten reagieren solle. Plötzlich diskutieren sowohl die USA als auch Russland darüber, Kampfflugzeuge in den Irak zu schicken – beide, um die ISIS-Gruppen zu schwächen. Klarerweise geht es jedem dieser Länder in erster Linie um die Wahrung der eigenen Interessen. Deswegen wäre es auch zu kurz gegriffen, hier sofort die Bildung von neuen Allianzen zwischen den in (zunehmendem) Konflikt stehenden Seiten USA/EU und Russland/Iran zu erblicken.
Dennoch ist das eine Situation, die, angesichts der Nachrichtenmeldungen der letzten Jahre und Monate (Atom-Konflikt um den Iran, Ukraine-Krise), zunächst doch einmal etwas Verwunderung auslöst.
Niemand fühlt sich stark genug
Neu an dieser Entwicklung und bezeichnend für die aktuelle Lage im imperialistischen Weltsystem ist, dass niemand sich stark genug fühlt (und wohl tatsächlich ist), den Ton anzugeben und direkt seine Interessen durchzusetzen. Vielmehr stellt die Angst, dass das Pulverfass im Nahen und Mittleren Osten in die Luft fliegen und zu weiteren Destabilisierungen in der Weltpolitik beitragen könnte, einen kleinsten gemeinsamen Nenner dar; eine Situation, die beide Seiten verhindern wollen.
Selbst den US-Strategen dürfte immer klarer werden, dass die Phase der relativen US-Hegemonie endgültig an gewisse Grenzen stößt. Die klassische Antwort, um die eigene Dominanz gegenüber anderen zu behaupten, wie es gerade der Irakkrieg war, ist gescheitert und hat den Hegemonie-Verlust unterm Strich noch weiter befördert. Die Alternative dazu sehen wir jetzt: das Ausloten von Kräfteverhältnissen und neuen/alten Allianzen. Doch auch bei den anderen Playern steht das Element von ökonomischer Schwäche und Abhängigkeit im Vordergrund – eine offensive Stärke lässt sich kaum ausmachen (am ehesten noch bei China).
Die Situation ist damit eine durchaus widersprüchliche: wir können sowohl Elemente einer Zunahme und Zuspitzung einer Blockkonfrontation sehen, aber gleichzeitig auch eine pragmatische Zusammenarbeit, wenn es um die eigenen Interessen geht. Wir erleben hier wohl den langwierigen Prozess der tatsächlichen Aushandlung einer neuen Weltordnung – wobei der Aushandlungsprozess wohl ein relativ dauerhafter sein dürfte und „Lösungen“ eher vorübergehender und brüchiger Natur. Nicht zuletzt, weil die Weltwirtschaftskrise von genau diesem Charakter ist.
Die Eskalation in Syrien/Irak dürfte als Schreckensszenario eines unkontrollierbaren “Nahen und Mittleren Ostens” und als Grundlage einer weiteren Zuspitzung in der Region die Angst vor dem Machtverlust beider „Seiten“ und einer neuen, völlig ungewissen Situation im Weltsystem derart befördern, dass hier die gemeinsamen Interessen höher stehen. Man braucht jedoch nicht zu glauben, dass sich der grundsätzliche Konflikt zwischen den großen Playern damit erledigt hätte. Ihr Agieren fußt weit mehr in einer relativen und strukturellen Schwäche, als einer tonangebenden Dominanz. Dass sich das schnell radikal ändert, scheint unrealistisch zu sein. Die Umbruchphase im Weltsystem, wie in der Weltökonomie, mit ihrem Ausloten und Aushandeln von Kräfteverhältnissen, dem Entstehen neuer Konflikte und eher kurzfristiger, brüchiger „Lösungen“, wird uns die nächsten Jahre, wenn nicht Jahrzehnte, begleiten. Die relative Schwäche beteiligter Konfliktparteien heißt jedoch nicht, dass ihr Kampf weniger mörderische Folgen hat. Gerade solche Situationen können eskalieren, da noch mehr in die Defensive zu geraten einfach nicht drin ist. Die Leidtragenden sind Milliarden Menschen weltweit, die unfreiwillige Opfer dieses Ringens um Macht und Stärke sind.
Fact sheet: ISIS und das Rebellenbündnis im Irak
In den letzten Wochen waren die Medien voll von Berichten über den spektakulären Eroberungsfeldzug der islamistischen Organisation ISIS im Irak und in Syrien. Bilder von Massenexekutionen kursierten im Internet. Wer sind die Kräfte, die momentan gegen die irakische Regierung kämpfen?
ISIS (Islamischer Staat, vorher Islamischer Staat im Irak und der Levante) ist als irakischer Ableger von Al-Qaida im Widerstand gegen die US-Besatzung entstanden und hat sich im syrischen BürgerInnenkrieg erheblich stärken können. Als radikale„Pan-Islamisten“ treten sie für einen islamischen Staat in Großsyrien ein – ein Gebiet, welches sich über den Irak, Syrien, den Libanon, Teile von Israel/Palästina und Teile Jordaniens erstreckt.
ISIS setzt auf spektakuläre Aktionen und versucht sich damit ein Prestige unter Anhänger_innen eines besonders radikalen Islamismus aufzubauen. Ihre Pressearbeit ist hochprofessionell, soziale Medien wie Twitter werden intensiv genutzt. Zulauf erhält die Organisation auch, weil sie Territorien kontrolliert. Zahlenmäßig ist ISIS nicht besonders groß, sie dürfte ungefähr 2000 Kämpfer unter ihrem Banner vereinen. Allerdings hat die Organisation große Geldmittel erobert und dadurch die Möglichkeit erhalten, sich Waffen sowie lokale Stammesführer zu „kaufen“ oder Söldner zu bezahlen.
In den Mainstream-Medien wird der Eindruck vermittelt, als würde im Irak gegenwärtig nur ISIS gegen die Regierung des schiitischen Premiers Nuri al-Maliki kämpfen. Dabei ist ISIS nur Teil eines Bündnisses, welches unter anderem Teile der alten irakischen Armee (eher baathistisch, also an der Ideologie der Baath-Partei Saddam Husseins orientiert) umfasst. Viele der ISIS zugerechneten militärischen Erfolge wurden eigentlich von anderen Teilen dieses Bündnisses erreicht.
Zusammengeschweißt wurden die verschiedenen Gruppen durch die Politik der aktuellen irakischen Regierung. Ideologisch ist das Bündnis sehr heterogen, außerdem gibt es unterschiedliche politische und ökonomische Interessen. Es handelt sich daher um eine sehr brüchige Zusammenarbeit ohne längerfristige Perspektiven. So soll es vor kurzem in der Region der Stadt Hawija in der Provinz Kirkuk zu Kämpfen zwischen ISIS und der Armee der Männer des Naqshbandi-Ordens gekommen sein, einer von ehemaligen baathistischen Offizieren geführten, sufistisch orientierten Gruppierung (der Sufismus ist eine mystische Auslegung des sunnitischen Islams). Beide Gruppen galten bislang noch als Verbündete.
Die aktuelle Situation, insbesondere das Erstarken von ISIS, ist nicht Folge des Konflikts in Syrien, sondern der US-amerikanischen Besatzung des Irak und muss im Kontext der Ethnisierung und Konfessionalisierung gesehen werden, die seit 2003 gezielt gefördert wurde, um den Widerstand gegen die Besatzungsmächte zu spalten. Die repressive Politik der Regierung Maliki trägt das ihre dazu bei, den Vormarsch der rebellischen Militärs zu ermöglichen, die von vielen als Befreier gesehen, oder zumindest neutral betrachtet werden.