In zwölf Thesen setzen wir uns mit den imperialistischen Interessen im Irak und Syrien, dem Erstarken des Islamischen Staats und dem aufflammenden Rassismus gegenüber Muslimen in Europa auseinander.
- Etwas mehr als zehn Jahre nach dem Beginn des Irakkriegs müssen nun selbst immer mehr neokonservative Kräfte in den USA, die die zentralen Antreiber für die militärisch-offensive Strategie unter Bush jun. waren, das Scheitern dieser eingestehen. Nicht nur, dass die direkte Kontrolle der USA über den „Nahen und Mittleren Osten“, der mit einem US-Sieg im Irak erreicht werden sollte, gescheitert ist. Mehr noch: die militärischen Konflikte in der Region sind in erster Linie überhaupt erst Produkt dieser gescheiterten Intervention. Die Geister, die dadurch gerufen worden sind, spuken wie wild. Viele der in der Region agierenden Kräfte sind aus Widerstandsgruppen gegen den Irakkrieg bzw. die US-Besatzung entstanden und/oder finanzieren sich aus US-Geldern, die an vermeintlich dem US-Imperialismus wohlgesonnene Kräfte geflossen sind, mit der Absicht, so Stabilität zu fördern.
- Neben den USA haben auch verschiedene Regionalmächte im Irak und in Syrien ihre Finger im Spiel. Um das unliebsame Regime von Assad zu schwächen lieferte etwa die Türkei (wie auch die USA oder Frankreich) Waffen an die „Freie Syrische Armee“, von denen mittlerweile große Teile zum Islamischen Staat (IS) übergelaufen sind. Wie so oft geht es nicht um Konflikte zwischen Ethnien, Religionen oder Konfessionen, sondern um handfeste ökonomische Interessen. So spricht sich etwa der türkische Premier Erdogan für ein unabhängiges Kurdistan im Irak (nicht aber in der Türkei selbst!) aus, um das ölreiche Gebiet stärker an die Türkei binden zu können. Auch der Iran will Einfluss auf irakisches Öl (welches leichter zu fördern und von höherer Qualität als jenes im Iran oder Saudi-Arabien ist). Die iranische Regierung versucht außerdem, den Konflikt für eine Lockerung des wirtschaftlichen Embargos zu nutzen.Saudi Arabien wiederum ist nicht an einer Eskalation der Lage interessiert, weil im mehrheitlich sunnitischen Saudi Arabien die besten Ölvorkommen in überwiegend schiitisch besiedelten Gebieten liegen.
- Die aktuelle Situation im Irak, insbesondere das Erstarken des IS, ist nicht Folge des Konflikts in Syrien, sondern der US-amerikanischen Besatzung des Irak und muss im Kontext der Ethnisierung und Konfessionalisierung gesehen werden, die seit 2003 gezielt gefördert wurde, um den Widerstand gegen die Besatzungsmächte zu spalten. Die repressive und besonders gegen die sunnitische Bevölkerungsgruppe gerichtete Politik der Regierung des schiitischen Premiers Nuri al-Maliki führte dazu, dass sich immer mehr Sunnit_innen dem IS zuwandten (wobei sich nun einige auch wieder abwenden).
-
Während der Islamische Staat vor einigen Monaten noch wenige tausend Kämpfer umfasste, ist die Organisation mittlerweile auf rund 50.000 angewachsen, da sich ihnen etliche andere Widerstandsgruppen angeschlossen haben. Während im IS Islamisten aus aller Welt, insbesondere aus Europa, Nordafrika (laut tunesischer Regierung kämpfen bis zu 10.000 Tunesier auf Seiten des IS) und vom Kaukasus (Tschetschenien) kämpfen, stammen seine Führungskader mehrheitlich aus dem Irak (viele Offiziere der ehemaligen Armee Saddam Husseins), Syrien und Jordanien. Die Organisation finanziert sich durch den Schwarzhandel mit Erdöl, Schmuggel, Menschenhandel und Lösegeld aus Entführungen – allesamt wenig religiöse Tätigkeiten. Beträchtliches Vermögen kommt auch aus Eroberungen, außerdem dürfte es Geldflüsse aus Saudi-Arabien oder Katar geben.
-
Der Islamische Staat ist kein Staat im eigentlichen Sinne und kontrolliert auch kein durchgängiges Territorium. Eine Verwaltung mit Gerichten, Schulen, Gefängnissen etc. wurde erst in der syrischen 200.000-Einwohner_innen-Stadt Raqqa aufgebaut, welche seit einem Jahr von IS kontrolliert wird. In weiten Teilen ihres Einflussgebiets agieren die IS-Truppen hingegen eher als eine die Bevölkerung terrorisierende Besatzungsmacht.
-
Gegenwärtig findet in den „westlichen“ Medien eine Dämonisierung des Islamischen Staats statt, an der die Organisation allerdings selbst fleißig mitarbeitet. Während in früheren Kriegen von den beteiligten Parteien häufig versucht wurde, Massaker zu verheimlichen (sogar die Nazis versuchten ihre Verbrechen zu vertuschen), ist es integraler Bestandteil der IS-Strategie, die eigenen Gräueltaten publik zu machen. Die Organisation agiert auf diesem Gebiet hochprofessionell und nutzt intensiv soziale Netzwerke wie Twitter oder Facebook um ihre Inhalte zu verbreiten. Damit sollen einerseits Angst erzeugt, andererseits radikalisierte Sympathisant_innen angesprochen werden. Auch wenn in den Medien in den letzten Wochen viel über die Verfolgung von Christ_innen oder Jesid_innen die Rede war, darf nicht vergessen werden, dass bislang die große Mehrheit der Opfer Muslime waren. Erst vor kurzem wurden im Osten Syriens 700 Angehörige eines muslimischen Stammes ermordet, darunter 600 Zivilist_innen.
- Islamistische Kräfte wie der Islamische Staat sind nicht nur rabiater Feind von Religionsfreiheit, Frauenbefreiung oder Rechten von Homosexuellen sondern auch von Arbeiter_innenbewegung und Sozialismus. Die bei manchen Linken verbreitete Sympathie für angeblich antiimperialistische islamistische Kräfte nach dem Motto „der Feind meines Feindes ist mein Freund“ weisen wir zurück.
-
Nachdem die US-Regierung zum Schluss gekommen war, dass das selbst kreierte Monster außer Kontrolle geraten war und außerdem die ölreichen Regionen im kurdischen Nordirak in Gefahr war, begann die US-Armee mit Luftangriffen auf Stellungen des IS. Nicht wenige linke und liberal gesinnte Menschen begrüßen nun diese Luftschläge, da sie von den islamistischen Gräueltaten verständlicherweise angewidert sind. Es sollte jedoch bedacht werden, dass die Stellungen des IS vielfach in Gebieten liegen, die von „gewöhnlichen“ Sunnit_innen bewohnt werden. Wie die letzten Jahre gezeigt haben, ist nicht einmal die modernste Luftwaffe der Welt dazu imstande, Bombenangriffe ohne massenhaft zivile Opfer zu führen. Solche Luftschläge können also mit hoher Wahrscheinlich dazu führen, die lokale Bevölkerung wieder mit den IS-Kämpfern zusammen zu schweißen.
-
Eine weitere Strategie, die momentan viel diskutiert und auch zum Teil bereits umgesetzt wird, ist die Bewaffnung kurdischer Kämpfer im Nordirak, der sogenannten Peshmerga. In den „westlichen“ Medien wird in der Regel stark vereinfacht bloß von „den Kurden“ gesprochen. Hier muss allerdings differenziert werden. Die unter der Kontrolle der konservativen KDP (Kurdische Demokratische Partei) stehenden Peshmerga haben sich in den letzten Jahren einen Ruf aufgebaut, der viel besser ist als ihr reales Agieren. So wird ihnen von linkeren Kräften unter anderem vorgeworfen, sowohl Jesid_innen als auch Turkmen_innen in Stich gelassen zu haben, als diese vom Islamismus bedroht wurden. Stattdessen fungierten sie mehr als Repressionsorgan nach innen in der kurdischen Autonomiezone. Die KDP pflegt auch gute Beziehungen zur AKP und somit zur türkischen Regierung.
-
Mit einer ähnlichen Unterstützung durch den US-Imperialismus können die von der linken Partei der demokratische Union (PYD) geführten kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG), in den übrigens, im Gegensatz zu allen anderen Armeen der Region, auch viele Frauen kämpfen, in Syrien nicht rechnen. Dabei waren sie es, die, gemeinsam mit Kämpfer_innen der PKK aus der Türkei für die Rettung tausender jesidischer Zivilist_innen aus der Region Sengal verantwortlich sind. Und während der IS scheinbar ungehindert vom Territorium des NATO-Staats Türkei aus operieren kann, wird die PKK weiterhin im „Westen“ als Terrororganisation eingestuft. Die in den Wirren des Kriegs entstandene und von „Volksräten“ regierte Region Rojava in Syrien (wo mehrere Ethnien friedlich zusammenleben) ist weiterhin vom IS und dem wirtschaftlichen Embargo der Türkei bedroht.
-
In den kommenden Wochen und Monaten werden wir mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Zunahme des Rassismus gegen Muslime erleben, ähnlich wie nach den Anschlägen auf das World Trade Center 2001. Bereits jetzt geifern immer mehr auch „liberale“ Kommentator_innen gegen den Islam, gegen seine „Rückständigkeit“, gegen den „Unfähigkeit der Muslime zur Selbstkritik“ und so weiter. Permanent werden Muslime zu immer weiteren Distanzierungen genötigt – so als müssten sie die Verantwortung für die Taten von Al Quaida und IS übernehmen. Diese pauschalisierenden Vorwürfe kommen scheinbar aufgeklärt und wissenschaftlich daher und sind letztendlich doch zumeist nichts anderes als rassistischer Müll. Die europäische Linke und Arbeiter_innenbewegung sollte diesen antimuslimischen Rassismus scharf zurückweisen. Natürlich stehen wir als Marxist_innen jeder Religion äußerst kritisch gegenüber. Doch genauso wie im Irak und Syrien geht es hier nicht um Religion, sondern um Hetze und das Auseinanderdividieren von Bevölkerungsgruppen.
-
Zweifelsohne ist die islamistische Radikalisierung eines kleinen Teils der in Europa lebenden Muslime, insbesondere von Jugendlichen und jungen Erwachsenen, ein ernstes Problem. Die Lösung für diese Problematik liegt jedoch nicht in anti-muslimischer Hetze, Ausgrenzung und staatlicher Repression (diese verstärken die Radikalisierung nur noch), sondern in Zukunftsperspektiven für junge Menschen. Da das krisenhafte kapitalistische System diese Perspektiven aber immer weniger bieten kann, müsste die Linke bzw. Arbeiter_innenbewegung in die Bresche springen. Politische Arbeit unter migrantischen Jugendlichen wurde von dieser lange Zeit vernachlässigt und kann auch nicht von einem Tag auf anderen anderen herbei gezaubert werden. Schließlich geht sie Hand in Hand mit einer, von vielen Linken leider aufgegebenen, Orientierung auf proletarische Bevölkerungsschichten.
Zum Weiterlesen:
Antikriegsbewegung und Islamismus