In der radikalen Linken herrscht eine gewisse Einheit über die aktuelle politische Lage im Nahen Osten – doch es ist eine trügerische Einheit. Denn sie basiert auf unterschiedlichen Bedeutungen und Werturteilen, die unter nicht genauer definierten Worten zusammenfallen. Um eine Politik zu entwickeln, mit der wir hier auf die Situation, die der „Islamische Staat“ hervorgerufen hat, reagieren können, scheint es deshalb sinnvoll, einen Schritt zurückzutreten und die Frage aus unterschiedlichen Blickwinkeln heraus zu betrachten. Teil 1 eines dreiteiligen Diskussionsbeitrags.
Dabei geht es nicht um eine suggerierte Objektivität oder wissenschaftliche Neutralität. Aber gerade weil wir subjektive Positionen einnehmen, die Situation von uns aus bewerten, müssen wir unsere Worte genau wählen und die Begriffe transparent definieren. Was ist das Projekt des „Islamischen Staates“? Was macht den bürgerlichen Staat aus? Was verstehen wir unter einem „Befreiungskampf“? Klarheit im Verständnis ermöglicht auch eine Klarheit in der Handlung. Wenn wir verstehen, werden wir überhaupt erst handlungsfähig.
Was passiert also momentan im Nahen Osten – und wo stehen wir, als radikale Linke? [1] Wie können wir – mit unseren begrenzten Möglichkeiten – positiv wirken? Wie können wir unsere Ideen und Vorstellung von der Welt verbreiten (ohne deshalb Missionare zu werden) und außerdem eine politische Alternative zur sich beständig wiederholenden Krise aufzeigen?
Zur Ideologie des „Islamischen Staates“
Die Ideologie einer Bewegung ist nicht ihr ganzes Wesen. Dennoch brennen sich vor unser geistiges Auge zuerst die Bilder der Gewalttaten ein – und wir stecken schon von Anfang an in der Ideologie des Islamischen Staates. Doch was ist sie?
Der politische Charakter der Bewegung, die sich jetzt als „Islamischer Staat“ formiert, forderte den Vergleich mit dem historischen Faschismus geradezu heraus. Eine einfache Gleichsetzung kann jedoch auch ein Verständnis erschweren, da sie gegebene Unterschiede zugunsten der Propaganda verwischt. Faschismus ist nicht einfach ein Schlagwort, um alles Reaktionäre, alles Böse durch einen historisch wie moralisch absolut negativ geprägten Begriff zusammenzufassen. Es gibt eine historische Spezifität, die ausgelöscht wird, wenn man statt einem Vergleich eine Gleichsetzung betreibt. Inwiefern wird IS also einer genauen Definition von Faschismus gerecht?
„Hinter jedem Faschismus steht eine gescheiterte Revolution“, wird Walter Benjamin zugeschrieben. Eine Revolution, das ist in diesem Zusammenhang die wirkliche sozial-politische Befreiung von der Entfremdung und Ausbeutung. Die Revolution die ausblieb, und das scheint unmittelbar einleuchtend, ist der Arabische Frühling, dessen Scheitern hier verzerrt Wege an die Oberfläche sucht.
Eric Hobsbawns Aussage über den historischen Faschismus behält deshalb ihre volle Kraft, auch wenn wir es auf die Bewegung des „Islamischen Staates“ beziehen: „Die Faschisten waren die Revolutionäre der Konterrevolution: in ihrer Rhetorik; mit ihrer Anziehungskraft auf jene, die sich als Opfer der Gesellschaft empfanden; bei ihrem Ruf nach totaler Transformation der Gesellschaft.“[2]
Der Faschismus gibt sich entschieden revolutionär oder befreiend – an Stelle der Revolution die er verhindert und auf deren Ausbleiben er zugleich eine Antwort ist. Bezogen auf die aktuellen Ereignisse, können wir eine solche Befreiung nur als die Befreiung von der neo-kolonialen Realität des Nahe Ostens verstehen. IS muss diese Haltung einnehmen, um all die (bisher enttäuschten) Hoffnungen bündeln zu können und eine wirkliche politische Alternative zu verkörpern, die einen Einfluss auf Massen ausüben kann. Dieser Massencharakter ist ebenso wie der des Faschismus im Dritten Reich eine elementar wichtige Eigenschaft. Sie unterscheidet den Faschismus von, beispielsweise, einem Coup d‘Etat durch das Militär.[3]
Der Massencharakter ist deshalb wichtig, weil er in großen Teilen der Bevölkerung, ob im Kleinbürger_innentum im klassischen Sinne, dem Proletariat oder den verarmten Massen, eine Verbreitung findet. Zwar geschieht dies in unterschiedlichem Maße. Aber es ist gerade die extrem krisenhafte Tatsache, dass der Faschismus auch in die Arbeiter_innenklasse „einbricht“, wenn es keinerlei politische Hoffnung oder Lösung gibt. Diese politische Realität muss man anerkennen und politische Antworten formulieren, die natürlich anders sind, als würde man auf den Sturz der Regierung durch das Militär antworten.
Diese Realität zeigt aber auch die massive Gefahr, die der Faschismus als Vernichtungspotenzial aufbaut. Die Dringlichkeit, dieser menschenverachtenden Gesellschaftsordnung Einhalt zu gebieten.
Eine gewichtige ideologische Stoßrichtung teilt IS mit den faschistischen Bewegungen: Einen extrem autoritären Führerkult und absolute Autoritätshörigkeit (das Kalifat oder die Führernation), die Zurichtung der Bevölkerung durch massiven staatlichen Zugriff (Verkauf von Frauen, Sklaverei, körperliche Bestrafungen, willkürlicher Mord), die Ästhetisierung von Gewalt als ruchlos-entschlossener Kultur-„Nation“, usw. Auch Antisemitismus und Minderheitenverfolgung sind elementare Teile beider ideologischer Projekte. Wobei dies im italienischen Faschismus keine derartige Rolle spielte, und in diesem Zusammenhang auch unterschiedliche Gründe hat.
Grundlegend teilen sie sich diese Tendenzen auch mit allen anderen bürgerlichen Regimen, von Militärdiktatur bis bürgerlicher Demokratie,[4] da sie ursächlich aus dem Profitstreben des Kapitalismus und seinen Werten erwachsen.
Doch in einem Aspekt der Ideologie unterscheidet sich der „Islamische Staat“ deutlich vom säkularistischen Faschismus des Dritten Reiches. Zwar teilen sie die möglichst barbarischste Auslegung ihrer jeweiligen ideologischen Grundlagen. Doch für IS ist das der politische Islam, während es für das Dritte Reich die Nation, die Industrieproduktion und das (nationalen) Eigentum waren – Werte der Aufklärung und des Kapitals. Diese anderen ideologischen Grundwerte machen deutlich, dass der IS aus einer sozial-historisch völlig anderen Realität entstanden ist, als der Faschismus des Nationalsozialismus.
Dennoch haben diese unterschiedlichen Ideologien einen gemeinsamen Hintergrund: Beide entstehen als Reaktion auf einen ent-personalisierten Kapitalismus, der beständig eine Masse von Individuen seinen Interessen unterordnet. Die Bedrohungen eines unpersönlichen Kapitalismus für die Menschen, ob nun die Wirtschaftskrise in Deutschland oder die koloniale Politik des Imperialismus, [5] werden durch eine Sicherheit und Naturalisierung der eigenen Herrschaft ausgeglichen – religiös-fundamental hier, rassen-biologisch dort.
Das führt natürlich wieder auf die Tatsache der (derzeit) verlorengegangenen Revolution des Arabischen Frühlings zurück, der auf diese Bedrohungen für Menschen keine Antworten durchsetzen, sondern nur andeuten konnte.
Es macht außerdem den Antisemitismus verständlich, der in dieser Form vom Dritten Reich in den Nahen Osten exportiert wurde. Für den IS fallen Antisemitismus, anti-westlicher „Anti-Kapitalismus“, Anti-Modernität und der – durchaus reale – regionale Konflikt mit Israel um Macht und Kontrolle zusammen. Diese psychologisch-ideologischen Faktoren haben ihre Ursachen, haben Bedeutung – auch für den Massencharakter. Sie zeigen auf, welche Fragen sich für diejenigen stellen, die sich schon in der Jugend dem „Islamischen Staat“ anschließen.
Denn mag auch die soziale Herkunft dieser Regime konkret unterschiedlich sein: Die globale Ausbreitung des Kapitalismus über die letzten Jahrzehnte hat dafür gesorgt, dass eine reaktive Anti-Fortschrittlichkeit, wie sie der Faschismus in den Industriegesellschaften verkörpert, überall auf der Welt auftreten kann. Die massive Verschlechterung der Lebensbedingungen der Bevölkerung und die Entmenschlichung durch die Profit- und Kolonialherrschaft schaffen ein reaktionäres Potenzial mit globalem Massencharakter, wie ihn erstmalig der IS offen zutage bringt.
Wir sollten diese Bedeutung nicht unterschätzen. Globale Mobilisierungsfähigkeit, die auch rassistisch Unterdrückte einbezieht (die hier gleichzeitig auch durch ihren Status als Lohnunterdrückte und Verarmte definiert sind), zeigt gerade das Fortschreiten der Kapitalwerdung des gesamten Planeten. Wo Menschen und Natur durch den inhärenten Raubbau[6] des Kapitalismus zu Objekten degradiert und verbraucht werden.
Das ist die Ursache dafür, dass auch junge Muslime aus Europa der Anziehungskraft des IS erliegen. Der Grund dafür, dass eine derartig reaktionäre Ideologie gegenüber der Vernichtung durch das Kapital bevorzugt wird.
Die ideologisch starke Ähnlichkeit des Islamischen Staates mit dem Faschismus Mussolinis oder des Dritten Reiches bedeutet jedoch keineswegs zwangsläufig eine Wesensverwandtschaft dieser Regime. Schon die industrielle Stärke ist radikal verschieden. Denn während der Faschismus dem Deutschen Reich eine wirkliche Welteroberung (und Weltenvernichtung, um es klar zu sagen) ermöglicht hätte, stehen die Chancen des IS-Regime dabei weitaus geringer. Auch die aktuellen Waffensysteme und die Unterstützung der Türkei können daran nichts ändern.
Tatsächlich entstand der IS ja nicht in einem Gebiet, indem eine voll entfaltete Industriegesellschaft die Lebensbedingungen großer Teile der Bevölkerung (durch eine Krise) radikal verschlechterte. Im Gebiet Syriens und Iraks wird nicht eine Mittelklasse zwischen dem Konflikt Arbeit-Kapital zerrieben, wie das in der Weimarer Republik geschah.
In vielen Gebieten herrschte vielmehr seit Jahrzehnten eine kapitalistische Gesellschaft, in der halb-feudale Strukturen neben einem Industrieproletariat existierten. Diese mussten beide Jahrzehnte von militärischer Besatzung und Zerstörung, sowie verelendete Arbeitsbedingungen durch die Politik der kapitalistischen Staaten hinnehmen. Die permanente ethnische Aufsplitterung sowie die weite Verbreitung von tribalistischen Herrschaftsstrukturen sind ebenso ein Ergebnis dieser Politik.
Einheit, Religion und Ethnisierung
In diesem Zusammenhang ist ein wesentliches Unterscheidungsmerkmal zwischen dem klassischen Faschismus und der Bewegung des „Islamischen Staates“ von maßgeblicher Bedeutung. Denn die Verfolgung von religiösen und ethnischen Minderheiten durch IS ist zwar rigoros und brutal. Gleichzeitig gibt es aber die Möglichkeit, zu konvertieren, und Teil dieser Bewegung zu werden, indem man sich ihr unterordnet.
Auch eine Duldung durch Strafsteuer ist möglich. Allerdings sprechen die Berichte von Übergriffen und die Flüchtlingszahlen eher dagegen, dass man dieser „Duldung“ wirklich vertrauen sollte. Denn mag dieses Versprechen auch ausgesprochen sein, so mobilisiert der IS doch ein enorm hohes psychisches und physisches Zerstörungspotenzial, welches seine eigenen ideologischen Grenzen überschreitet. Die Massenmorde, Massenvergewaltigungen, ethnischen Säuberungen haben einen enormen psychologischen Wert für die Ausführenden selbst. Ihre Opfer sind die Minderheiten. Die ideologische Suggestion von Einheit ist dieser Zerstörung untergeordnet.
Warum sind die Konvertierungsmöglichkeit und das Versprechen von „Duldung“ dennoch so relevant, auch wenn es verständlicherweise keine Option für einen großen Teil der Bevölkerung ist? Deshalb, weil der IS auf diese Art und Weise (noch mehr auf internationaler Ebene) glaubhaft machen kann, dass er eine wirkliche Einheit von Unterdrückten verkörpert. Hier wird die Einheit der Menschen suggeriert, die sowohl in der westlichen Welt wie im Nahen Osten der rassistischen Unterdrückung und Herrschaft ausgesetzt sind – und auf diese Einheit soll der Kampf für das Kalifat folgen.
JedeR kann Teil des IS werden. Wenn IS die Menschen in sein Herrschaftsregime einverleibt und diesem unterordnet, bietet sich jedem, der als Muslim auf dieser Welt unterdrückt wird, die Möglichkeit gegen seinen Unterdrücker_innen zu kämpfen.
Das mag eine scheinbare Befreiung sein, eine Unterordnung unter ein brutales Regime – aber der Ausschluss aus der weißen-westlichen-bürgerlichen Welt ruft diese gefühlte Bedrohung, die Entfremdung und die Suche nach kollektiver Identität erst hervor. Der IS bietet auf diese Entmenschlichung im Kapitalismus eine reaktionäre und menschenverachtende Antwort. Aber es ist eine Antwort, die jedem und jeder eine Rolle zuordnet, eine Integration in ein historisch-gesellschaftliche Projekt, eine Bestätigung der eigenen Existenz – und sei es nur, sich für den Kampf gegen diese fremdartige Bedrohung und Entfremdung des Kapitalismus zu opfern.
Zur sozio-politischen Zusammensetzung
In diesem Zusammenhang sollten einige relevante Einschränkungen gemacht werden. Denn der IS ist natürlich nicht ein rein anti-koloniales Basis-Projekt. Viele ehemalige Mitglieder der Ba’ath Partei sind nun wichtige Führungskräfte. Sie waren bereits unter Saddam Hussein in einer ebenso korrupten Herrschaftsposition und ihre Interessen decken sich heute schlicht nicht mehr mit denen der USA oder der EU. Auch die wahrscheinliche Finanzierung aus Staaten wie Qatar hat nichts mit einem anti-kolonialen Befreiungskrieg durch die Basis gemein. Hier geht es um handfeste wirtschafts-politische Interessen. Wie auch für die Türkei ist der „Islamische Staat“ für diese Staaten und Personen nur ein Vehikel der Macht.
Diese Finanzierung und Unterstützung hat ihre Konsequenzen. Denn dadurch wird die wirkliche Unterstützung, die IS zufällt, stark verfälscht: Die Herrschaft kann und wird nicht nur mit sondern gleichzeitig auch gegen die Bevölkerung der Region durchgesetzt. Gegen die Teile, die die Herrschaft des „Islamischen Staates“ ablehnen – die oft mehr kulturell als religiös muslimisch sind. Das IS Regime hängt auch von der Passivität, Angst, Einschüchterung, fehlenden Organisation, usw. dieser Menschen ab. Die Unterstützung aus dem Ausland ist dabei eine wichtige Stütze.
Wie viele Menschen und welche sozialen Schichten tatsächlich IS unterstützen ist dabei von hier aus schwer abzuschätzen. Aber nicht nur bildungsferne Menschen, sondern auch Student_innen sind von der kolonialen Realität betroffen. Wir können nur festhalten, dass IS diese Herrschaft durchsetzen kann, und der wirkliche Wille der Bevölkerung nicht die entscheidende Rolle spielt. Es kann außerdem festgehalten werden, dass die Tatsache, dass Menschen aus dieser Region davon sprechen, dass „IS endlich etwas macht“ nicht nur analog zur Legitimation des Führers funktioniert, sondern überhaupt nur durch den Willen, endlich die koloniale Unterdrückung zu beenden, erklärbar wird.
Die Einheit des arabischen Raums
Wesentliches Merkmal des IS ist deshalb die Propagierung der politisch-staatliche Einheit des als muslimisch verstandenen Gebietes. Dies ist natürlich eine Einheit unter der Kalifats-Herrschaft. Doch die Zusammenführung des Gebietes des ehemaligen Osmanischen Reiches ist im Wortsinne tatsächlich anti-imperialistisch.[7] Denn die Aufteilung Syriens und Iraks bzw. dieser gesamten willkürlich gezogenen Grenzlinien, die beständig zerfallen und sich verändern, fand ja wirklich durch westliche Staaten statt (Frankreich und England in diesem Fall), die damit ihre politisch-historischen Interessen aushandelten. Was IS propagiert ist nichts weiter als die staatliche Einheit eines Gebiets, welches der Westen über Jahrzehnte zersplittert hat.
Weiter noch: Die gesamte Geschichte des Nahen Ostens ist seit dem Beginn des Kolonialismus bis heute von diesen Interventionen geprägt. Welches Regime steht, welches fällt, dass hängt untrennbar mit den Interessen industriell und politisch mächtiger Staaten zusammen. Schlimmer noch: Welche Massaker verhindert werden und welche nicht, dass bestimmt in der derzeitigen weltpolitischen Realität das politische Interesse dieser Nationen. Diese (fremde) Macht über das eigene Schicksal abzuschütteln ist ein unglaublich wichtiger Aspekt des anti-kolonialen Appeals des IS.[8]
Denn das koloniale Gewicht ist real fühlbar. Es ist nicht nur eine abstrakte Gewalt, die in ihrer Entmenschlichung durch den Drohnen-Terror am Himmel symbolisch auf den Punkt gebracht wird. Es ist das konkrete Erleben, dass das Menschsein maßgeblich von dieser Macht abhängt, welches das Denken der „Kolonisierten“[9] bestimmt.
Mit dieser Feindschaft zum Kolonialismus wird auch die Abkehr von den westlichen Werten und Vorstellungen verständlich. Sie erklärt die religiös-fundamentalistische Ideologie des IS, die eine Hinwendung zu tradierten Vorstellungen, eine Flucht in kulturelle Sicherheit, ist. Sie ist aber auch eine Selbst-Ermächtigung gegenüber denjenigen, die mit ihren westlichen Werten (ihrer „humanitärer Intervention“) ihre Ausbeutungs- und Zerstörungs-Regime rechtfertigen. Rechtmäßig, als Mensch, die eigenen Werte aufnehmen ist bereits eine erste Auflehnung gegen diese „westliche Welt“[10] – auch wenn es in die autoritäre Herrschaft des IS führt.
Teil 2 Zur Kolonial- und Staatsfrage
[1] Dieser Begriff soll hier in seiner Nebulösität verbleiben – Angesprochen sind all diejenigen, die sich aus ihrem politischen Selbstverständnis heraus als radikale Linke definieren. Menschen, die an einer grundlegenden Veränderung der gesellschaftlichen Strukturen interessiert sind, mit und trotz der unterschiedlichen Positionen die innerhalb dieses Spektrums diskutiert werden, welches wir „links“ nennen.
Die politischen Methoden und das politische Ziel sollen hier aus der konkreten Realität gezogen werden, anstatt abstrakte Labels und Tools aus dem marxistischen Werkzeugkasten zu benutzen.
[3] Auch wenn der Faschismus sich nach der Machtübernahme von einer Massenbewegung in einer klassischen Militärdiktatur verwandelt. Die ideologische Mobilisierung und Einbindung der Bevölkerung findet natürlich weiterhin statt.
[4] Auch in den USA kam es zu Zwangssterilisierungen von weiblichen (afro-amerikanischen) Gefangenen.
http://www.aljazeera.com/programmes/faultlines/2013/09/women-behind-bars-201393010326721994.html
Diese Praktiken wurden zwar nachträglich untersagt, zeigen aber die ideologische Kraft in Richtung Bevölkerungskontrolle, die in den USA gerade im Prison Industrial Complex auftritt, auf. Abtreibungsverbote fallen ebenso unter die Idee der Bevölkerungskontrolle und sind natürlich gleichzeitig sexistische Machtinstrumente. Diese Dinge sind qualitativ wohl kaum mit Sklaverei gleichzusetzen, haben aber dennoch eine ideologische Gemeinsamkeit, die der patriarchalen und kapitalistischen Gesellschaft entspringt.
[5] Imperialismus soll hier vor allem als historisches Zeitalter des Kapitalismus verstanden werden, in dem die Aufteilung der Welt abgeschlossen ist und nur eine (politische und/oder militärische) Neuverteilung bereits bestehender Einflussgebiete möglich ist. Dabei soll der Imperialismus nicht als monolithisches Interessenbündel der westlichen Staaten verstanden werden. Auch die Politik der Türkei findet als Regionalmacht im Zeitalter des Imperialismus statt: Ein Kampf um Neuverteilung, Ressourcen, Kapital. Die Definition von Staaten als imperialistisch ist hier von untergeordneter Bedeutung und wird deshalb ausgespart.
[6] Karl Marx, Das Kapital Band I:
„Von einer täglich bedrohlicher anschwellenden Arbeiterbewegung abgesehn, war die Beschränkung der Fabrikarbeit diktiert durch dieselbe Notwendigkeit, welche den Guano auf die englischen Felder ausgoß. Dieselbe blinde Raubgier, die in dem einen Fall die Erde erschöpft, hatte in dem andren die Lebenskraft der Nation an der Wurzel ergriffen. […] Aber in seinem maßlos blinden Trieb, seinem Werwolfs-Heißhunger nach Mehrarbeit, überrennt das Kapital nicht nur die moralischen, sondern auch die rein physischen Maximal schranken des Arbeitstags. […] Es erreicht dies Ziel durch Verkürzung der Dauer der Arbeitskraft, wie ein habgieriger Landwirt gesteigerten Bodenertrag durch Beraubung der Bodenfruchtbarkeit erreicht.“
[7] Was auch die politische Unklarheit dieses Begriffes deutlich macht.
[8] Wie an der Reaktion der Bevölkerung auf den Fall der syrisch-irakischen Grenze genau zu sehen ist.
[9] Dieser Begriff folgt der Definition Frantz Fanons wie sie in „Die Verdammten dieser Erde“ ausgearbeitet wird:
„Für ein kolonisiertes Volk ist der essentiellste Wert, weil er der konkreteste ist, zuerst und am allermeisten das Land: Das Land, welches ihnen Brot und, vor allem, Würde geben wird. Aber diese Würde hat nichts gemeinsam mit der Würde des menschlichen Individuums, weil dieses menschliche Individuum davon noch nie gehört hat. Alles, was der Native [Ureinwohner] in seinem Land gesehen hat, ist, dass sie ihn einfach festnehmen, verprügeln und verhungern lassen können: und kein Ethikprofessor oder Priester kam irgendwann einmal um sich seiner statt prügeln zu lassen, oder sein Brot mit ihm zu teilen. Was den Native betrifft, ist Moral etwas sehr konkretes; es ist, die Missachtung des Settlers [Siedler] zum Schweigen zu bringen, seine protzende Gewalt zu brechen – mit einem Wort, ihn aus dem Weg zu schaffen. Das weltbekannte Prinzip, dass alle Menschen gleich sind wird in den Kolonien von dem Moment an illustriert, in dem der Native für sich beansprucht gleich mit dem Settler zu sein Noch einen Schritt, und er ist bereit darum zu kämpfen mehr zu sein als der Settler. Tatsächlich, er hat sich bereits entschieden ihn rauszuwerfen und seinen Platz einzunehmen; so wie wir es sehen, ist es ein ganzes materielles und moralisches Universum, welches auseinanderbricht.“
—
“For a colonized people the most essential value, because the most concrete, is first and foremost the land: the land which will bring them bread and, above all, dignity. But this dignity has nothing to do with the dignity of the human individual: for that human individual has never heard tell of it. All that the native has seen in his country is that they can freely arrest him, beat him, starve him: and no professor of ethics, no priest has ever come to be beaten in his place, nor to share their bread with him. As far as the native is concerned, morality is very concrete; it is to silence the settler’s defiance, to break his flaunting violence–in a word, to put him out of the picture. The wellknown principle that all men are equal will be illustrated in the colonies from the moment that the native claims that he is the equal of the settler. One step more, and he is ready to fight to be more than the settler. In fact, he has already decided to eject him and to take his place; as we see it, it is a whole material and moral universe which is breaking up.”
[10] Frantz Fanon:
“Die Gewalt, mit der die Vormacht der weißen Werte durchgesetzt, und die Agressivität, welche den Sieg dieser Werte über die Lebensweise und Gedanken des Natives durchdrungen hat, bedeuten, dass der Native, aus Rache, in höhnisches Lachen ausbricht, wenn die westlichen Werte vor ihm erwähnt werden. Im kolonialen Kontext beendet der Settler seine Arbeit den Native zu brechen erst dann, wenn Letzterer laut und verständlich die Vormacht der weißen Werte verkündet. In der Periode der Dekolonisierung, verhöhnen, beleidigen und erbrechen die kolonisierten Massen eben diese Werte.“
—
“The violence with which the supremacy of white values is affirmed and the aggressiveness which has permeated the victory of these values over the ways of life and of thought of the native mean that, in revenge, the native laughs in mockery when Western values are mentioned in front of him. In the colonial context the settler only ends his work of breaking in the native when the latter admits loudly and intelligibly the supremacy of the white man’s values. In the period of decolonization, the colonized masses mock at these very values, insult them, and vomit them up.”