Es ist endlich wieder Weihnachtszeit und während man sich fragt, wie man denn nun im harten Lockdown noch an lebensnotwendige Geschenke kommt, obwohl doch wirklich alles nun geschlossen hat, nimmt Deutschland die seit März ausgesetzten Abschiebungen nach Afghanistan wieder auf. Wie bitte, was?
Ja, tatsächlich. Am 17. Dezember startete ein Flieger mit 30 abgelehnten Asylbewerbern nach Kabul. Während die Pandemie in der zweiten Welle die Lage in Deutschland und Österreich angespannter denn je gestaltet, werden Menschen in ein Land ausgewiesen, dass schon vor der Pandemie als das schlimmste Kriegsland der Welt galt.
Zu gefährlich?
Aber so genau kann das die deutsche Regierung natürlich nicht wissen. Denn seit dem Anschlag auf die deutsche Botschaft in Kabul im März 2018 halten sich kaum noch Botschaftsmitarbeiter*Innen in Afghanistan auf, wäre ja viel zu gefährlich.
Afghanistan ist also zu gefährlich? Ach so. Die Vokabel „gefährlich“ wird nur ungern verwendet, schildert das doch sehr konkret die Situation, in die sich Menschen, die dorthin zurückkehren sollen, begeben. Stattdessen beschreibt man es lieber zärtlicher. Die Lage ist „instabil“ oder „fragil“, damit klingt es gleich viel netter.
Die 30 abgeschobenen Personen seien fast alle vorbestraft oder sogar Gefährder. In diesem Zusammenhang lohnt sich das Wort Gefahr dann wieder. Welche Vorstrafen die betroffenen Personen haben, dazu wollte das Bundesinnenministerium keine Auskunft geben. Die Anwältin eines Betroffenen aus Berlin teilte mit, dass dieser 2014 als unbegleiteter Minderjähriger nach Deutschland gekommene Geflüchtete schwer traumatisiert sei und sich in der Haft, die er gerade absaß von seiner Drogensucht erholen, sowie eine Ausbildung beginnen konnte.Unabhängig davon, dass es keine Rolle spielen sollte, warum die Person in Haft sitzt, ist selbst diese Geschichte nicht erwärmend genug für die Entscheidungsträger dieser Abschiebung.
Gefährder? Propaganda und Wirklichkeit
Der Deckmantel der Kriminalität oder der Gefährdung der inneren Sicherheit wird immer wieder als Ausrede genommen, Menschen abzuschieben, teilweise sogar in Länder, in denen sie noch nie zuvor waren, weil sie dort gar nicht mehr geboren wurden.
Gefährder – das sollen also Menschen sein, von denen potentiell eine Gefahr für die innere Sicherheit des Landes ausgeht. Natürlich ist man da flexibel, aus welcher Richtung diese Gefahr kommt – links, rechts, religiös, das ist das Schema, für das der Staat sich entschieden hat – wobei man nochmal genauer auf diese Einstufung schauen muss, denn: links, das trifft auf so gut wie niemanden wirklich zu; rechts, da gibt es zwar mehr, als man sieht oder zugibt, aber die kann (und will) man ja nicht abschieben; religiös, nun ja, das meint im Prinzip in dieser Aufzählung erstmal nur islamistisch und da findet man sogar Details über die Herkunft. „Von den 615 Personen, die mit Stand 01. November 2020 als islamistische Gefährder gelten, also Menschen, denen jederzeit schwere Gewalttaten zugetraut werden, befinden sich 279 Ausländer, unter ihnen 89 Syrer, 43 Türken, 31 Russen und 17 Iraker.“ (https://www.tagesschau.de/investigativ/wdr/syrien-abschiebung-islamisten-101.html)
Das sind die Zahlen, mit denen politisch argumentiert wird, wenn es um Abschiebungen geht und die, ob vor oder in der Pandemie, als Rechtfertigung für viele andere herangezogen werden. Dabei ist „Gefährder“ nicht einmal ein legal definierter Begriff, sondern ein polizeilicher Arbeitsbegriff und außer, dass er sich schön in Listen macht, nützt er nichts und macht aus Ursachen wie unter anderem sozialer Ungleichheit eine Kategorie an Menschen, die man im Zweifelsfall, im entscheidenden Moment (beispielsweise die Anschläge in Wien und Berlin) dann doch übersieht.
Terroranschläge, wie unlängst in Wien oder Paris, befeuern diese Prozesse von Ausweisung und Verschärfung extrem. Auch die französische und österreichische Regierung liefern sich ein Wetteifern im Abschieben, ein neues Hobby der jüngst gegründeten Kurz-Macron-Achse, das dynamische Duo. So wurden auch aus Wien am 15. Dezember zehn Personen nach Afghanistan abgeschoben und Frankreich plante schon seit Oktober die Ausweisung von über 200 Menschen, die als Gefährder eingestuft wurden. Außerdem plant die österreichische Regierung als Folge des Anschlags vom 02.11.2020 eine Präventivhaft für Gefährder einzuführen, in Bayern gibt es schon ein ähnliches Modell. Hier werden Menschen nach geringfügigen Verstößen wochenlang inhaftiert und das bedeutet für Personen ohne gesicherten Aufenthaltsstatus in der EU meist sehr sicher die Abschiebung in das Herkunftsland. Ebenso ist aus Bayern bekannt, dass die meisten betroffenen keinen Zugang zu Rechtsbeistand hätten. Unterbindungsgewahrsam oder Präventivhaft ist für bis zu 35 Tage in ganz Deutschland gestattet, muss aber in der Regel alle 14 Tage von einer Richter:In überprüft werden. Aus einer Statistik zum Bayrischen Polizeiaufgabengesetz ging hervor, dass von 23 zu diesem Zeitpunkt betroffenen Personen 19 ohne deutschen Pass waren. In Österreich träumt sich Kanzler Kurz und Konsorten eine Präventivhaft zusammen, am besten sogar mit Option auf lebenslängliche Haft, von der schon nach kurzer Zeit zwei Dinge klar waren – erstens ist sie nicht verfassungsrechtlich so umsetzbar und zweitens hätte sie zumindest den Anschlag in Wien nicht verhindert, da diese Verwahrung wirklich ausschließlich für Menschen ohne Vorstrafen gelten soll. Richterliche Verfügungen sollen dann nachträglich geprüft werden träumt weiter Walter Rosenkranz, FPÖ-Klubobmann, so tönt er auch:“Keine Sorge, es bleibt alles rechtsstaatlich. Es droht kein Demokratieabbau oder Ähnliches“. Tun wir uns vielleicht fürs Erste den Gefallen und denken gar nicht nach, was diese Gestalt mit „oder Ähnliches“ meinen könnte. Fest steht auf jeden Fall, dass diese Haftmaßnahmen nichts verhindert hätten oder werden können. Sie fördert Misstrauen, gesellschaftlichen Ausschluss und antimuslimischen Rassismus in Deutschland und Österreich.
Sicheres Syrien?
Natürlich ist man bei den Ländern, in die abgeschoben wird, nicht wählerisch. Da die Liste dieser Länder, die trotz unwürdiger Lebensbedingungen, als sicher gelten für die InnenministerInnen von Bund und Ländern anscheinend noch nicht umfangreich genug ist, hat man sich entschieden, auch den Abschiebestopp für Syrien zum Jahresende 2020 auslaufen zu lassen.
Syrien? Ach ja, Syrien, das Land in dem seit 2011 Bürgerkrieg herrscht und für das es seit 2012 nicht mehr erlaubt war, Abschiebungen vorzunehmen. Auch dahin kann man jetzt wohl wieder ausgewiesen werden und die Begründung dafür liegt auf der Hand: Die Innenministerkonferenz konnte keine Einigung zur Verlängerung des Abschiebestopps erlangen. Damit soll es nun wieder möglich sein, nach Einzelfallprüfungen, Menschen nach Syrien auszuweisen – da aber die Fluganbindung schlecht ist, und auch die diplomatischen Beziehungen zur syrischen Regierung stocken, wirkt dieser Schritt einstweilen noch recht populistisch. Aber es ist auch ein stiller Weg, diesen Schritt zu gehen, bevor noch ein Jahr ins Land zieht, in dem man nicht nach Syrien abschieben kann und fatalerweise findet der Wille manchmal auch einen Weg, so absurd er aktuell auch scheint. Natürlich gab es den auch schon vor 2021.
Es gibt dafür in schönstem Bürokraten-Deutsch den Begriff „kontrollierte Ausreise“. Man versucht, ganz freundlich, die Leute einfach davon zu überzeugen, das Land wenigstens in Richtung eines anderen zu verlassen, frei nach dem Motto „Scheiß bitte in einen anderen Vorgarten“, falls man das so sagen kann. So zahlt man den Leuten, die übrigens dann schon ganz oben auf der Liste der Gefährder stehen, den Flug und gibt noch ein bisschen was drauf, das so genannte „Handgeld“ und setzt sie in einen Flieger. Wenn es denn klappt und das gewünschte Reiseland nicht schon das Visum verweigert hat.
Pandemie und weitere Gefahren
Was eine Rückkehr nach Syrien, Afghanistan oder eines der anderen Länder konkret für die Menschen bedeutet, kann man sich zwar ausmalen, möchte man angesichts der Lage aber eigentlich nicht.
Bei Afghanistan spricht man von den drei C: conflict, climate change und Covid-19 (Konflikt, Klimawandel und Covid-19), für Syrien spricht das Auswärtige Amt von „massiven Menschenrechtsverletzungen durch verschiedene Akteure in allen Landesteilen“ und es herrsche weiter „weitreichende systematische Willkür bis hin zu vollständiger Rechtlosigkeit“ – das trifft auch auf andere Staaten zu und es liegt doch eigentlich auf der Hand, dass sich 2020 die Lage nicht stabilisiert haben kann.
Das schien es zumindest im ersten Lockdown auch noch – für zahlreiche Länder (u.a. Afghanistan) wurden die Abschiebungen ab Ende März ausgesetzt, um sie jetzt, inmitten des Moments, in dem die Pandemie überall neue Höhen erreicht, wieder zu beginnen. Warum? Muss Seehofer noch auf seine Statistiken kommen oder hatte sein Team noch kein Weihnachtsgeschenk für ihn? (Man erinnert sich mit Übelkeit an den „lustigen Zufall“ der 69 abgeschobenen Geflüchteten just an seinem 69. Geburtstag)
Es wäre eine Freude, wäre die Antwort nicht so leicht und primitiv. Man lässt sich den Spaß nämlich richtig was kosten, zwar nicht erst seit diesem Monat, denn die Abkommen der EU und auch der deutschen Regierung waren immer an Entwicklungshilfen gekoppelt, die natürlich aber auch wiederum die Infrastruktur für erfolgreiche und reibungslosere Abschiebungen ermöglichen sollten. Im Oktober noch verweigerte Afghanistan die Wiederaufnahme der Abschiebungen, im November dann wurden auf der internationalen Geberkonferenz 10,1 Milliarden Euro für den Wiederaufbau des Landes bewilligt, anscheinend aber auch daran gekoppelt, dass zwei Wochen später die Flieger nach Kabul wieder starten durften.
Es sollte klar sein, dass es nicht darum geht, Anschläge zu relativieren, doch bekämpfen die Abschiebungen offensichtlich weder die Ursache noch verhindern sie diese. Eigentlich eher im Gegenteil, wir können ziemlich sicher sein, dass häufig ein Großteil der Radikalisierung in Deutschland oder Österreich selbst stattfindet, teilweise sogar in den Haftanstalten selbst, wie Anschläge in Wien oder Dresden zeigen. Zudem scheint es eine menschenrechtlich schwierige Argumentation zu sein, dass einem nicht in Deutschland geborenen Menschen quasi die Todesstrafe durch Rückkehr in diese Regionen droht, anstelle der Haftstrafe in Deutschland, so werden die Probleme ziemlich sicher ohne die Aussicht auf Resozialisierungsmöglichkeit nach Afghanistan verschoben, denn ein Anschlag im Ausland ist für einen Innenminister logischerweise gar nicht mehr so schlimm.
So wie die Kategorie „Gefährder“ von den Regierungen verwendet wird und der vermeintlichen Kriminalität, die abgeschobenen Personen oft unterstellt wird, werden rassistische Vorurteile gefestigt und so wird die gesellschaftliche Spaltung vertieft.
Zudem werden Fluchtgründe so für nichtig erklärt und die Auswahl der Abschiebungen nimmt an Willkür zu. Ebenso verschwindet von der Bildfläche, dass gerade auch der europäische Imperialismus die Gründe, die viele Menschen zur Flucht bewegt, selbst hervorgerufen hat – Armut, Hungersnöte und Kriege, deren Ursachen in der Ausbeutung und der Umweltzerstörung durch kapitalistische Großmächte liegen. Hinter den Stellvertreterkriegen, die in der Region wüten, stecken deren handfeste wirtschaftlichen und politische Interessen. Herzlichen Glückwunsch dazu also und frohe christlich-abendländliche Weihnachten, Horst.