Der Zusammenbruch der UdSSR hat die Welt nachhaltig und dramatisch verändert. Die Restauration des Kapitalismus ersetzte die nachkapitalistischen Produktions- und Eigentumsverhältnisse. Nach dem Ende der Sowjetunion 1991 setzte die russische Führung in rascher Folge Schritte, an deren Ende ein kapitalistisches Russland stehen sollte. Wie lief dieser Prozess ab und was waren die Konsequenzen?
Der Herbst 1991 war von tiefen politischen Rissen in der Sowjetunion geprägt. Michail Gorbatschow wird bis heute in den imperialistischen Ländern als großer Erfolg angerechnet, dass er 1989 das Ende der deutschen Teilung auf Basis einer Wiedervereinigung auf kapitalistischer Grundlage zugelassen und der Auflösung des Warschauer Paktes keinen Widerstand entgegengesetzt hatte. Weniger „erfolgreich“ agierte die von Gorbatschow geführte „Reformströmung“ der Kommunistischen Partei der Sowjetunion im Inneren.
Der Augustputsch konnte zwar in kurzer Zeit niedergeschlagen werden – aber der Preis war ein hoher: Die Bürokratien der Unionsrepubliken verloren zunehmend die Hoffnung in ein Weiterbestehen der UdSSR und suchten ihre Zukunft in einer Anpassung an bürgerlich-restaurationistische Strömungen. Besonders schnell verlief dieser Prozess in den baltischen Republiken, langsamer in Zentralasien. Zwischen diesen beiden Extremen lag die Entwicklung in Russland. Für uns ist eine Analyse des Prozesses der kapitalistischen Restauration insbesondere in dieser Republik von Interesse, schon allein deswegen, weil die russische Unionsrepublik die UdSSR dominierte. Sie stellte mit einer Fläche von über 17 Millionen Quadratkilometern (von ca. 22 Millionen) und einer Einwohner/innen/zahl von 1990 ca. 147 (und heute immer noch über 140 Millionen) in jeder Hinsicht das Zentrum der Sowjetunion mit 1990 fast 290 Millionen Einwohner/inne/n dar.
Im Juni 1991 war Boris Jelzin bei den ersten Präsidentschaftswahlen in Russland zum Präsidenten der russischen Unionsrepublik, der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik (RSFSR), gewählt worden. Jelzin hatte sich in der Niederschlagung des Augustputsches erfolgreich als neuer starker Mann inszeniert. Im November 1991 ließ Jelzin in einer spektakulären Aktion die KPdSU auf dem Boden Russlands verbieten. Wohl symbolträchtiger konnte die Demontage des sowjetischen Präsidenten und KPdSU-Generalsekretärs Michail Gorbatschow nicht ausfallen: Jelzin unterbrach eine weltweit übertragene Ansprache Gorbatschows vor dem russischen Parlament, um seinem Erlass zum Verbot der KPdSU eine möglichst hohe Aufmerksamkeit zu sichern. Gorbatschow – nicht nur sowjetischer Präsident, sondern auch noch Generalsekretär der gerade für illegal erklärten KPdSU (!) – hatte der Demütigung nichts entgegenzusetzen und musste hilflos diesem Manöver, mit dem der Auflösungsprozess der Sowjetunion entscheidend beschleunigt wurde, zusehen.
Dabei war das Ende der UdSSR natürlich bereits überfällig. Die baltischen Republiken hatten zur Zeit des Augustputsches bereits ihren Austritt aus der Sowjetunion in Kraft gesetzt. Auch die anderen Unionsrepubliken folgten eine nach der anderen, indem sie die Unabhängigkeit zuerst einmal proklamierten, ohne damit einen unmittelbaren Austritt aus der UdSSR zu verbinden. Natürlich konnte dieser Schwebezustand nicht lange andauern.
So hatte sich die Ukraine am 16. Juli 1990 für souverän erklärt und die Unabhängigkeit am 24. August 1991 proklamiert (dieser Tag ist auch der ukrainische Nationalfeiertag). Weißrussland folgte der Ukraine immer mit wenigen Tagen Verspätung: Souveränitätserklärung am 27. Juli 1990, Unabhängigkeit am 25. August 1991. Mit den Repräsentanten dieser beiden Länder, dem ukrainischen Präsidenten Leonid Krawtschuk und dessen weißrussischen Amtskollegen Stanislau Schuschkewitsch, erklärte Jelzin nach einem Treffen am 8. Dezember 1991 die Auflösung der Sowjetunion und deren Umwandlung in die Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS). Am 25. Dezember 1991 schickte sich Gorbatschow ins Unvermeidliche und trat als Präsident der Sowjetunion zurück. Mit dem Inkrafttreten der Vereinbarung zum Jahreswechsel wurde Jelzin zum ersten Präsidenten des unabhängigen Russlands – die Sowjetunion hatte zu existieren aufgehört.
Zu diesem Zeitpunkt hatte die überwältigende Mehrheit der Arbeiter/innen schon lange das Vertrauen in die Zukunft der Sowjetunion verloren. Keine Fraktion der zentralen Sowjetbürokratie genoss noch Vertrauen, dass sie die Fähigkeiten zur Überwindung der Krise hätte. So konnte die Auflösung der Sowjetunion ohne große Anteilnahme der arbeitenden Massen als von oben inszenierte Politshow ablaufen – die Regie führten die Bürokratien der Unionsrepubliken. Die breiten Massen sahen keine Alternative zu dem Kurs, der nun eingeschlagen werden sollte.
„Harte, aber notwendige Maßnahmen“
Mit Herbst 1991 begann eine Periode, die von einer Politik der bewussten Restauration des Kapitalismus charakterisiert war. Die politischen und ökonomischen Reformen – unter den Schlagworten „Glasnost“ und „Perestroika“ zusammengefasst – wurden bis dahin vom Versuch bestimmt, die Planwirtschaft durch Marktelemente anzureichern und dessen „Defizite“ durch Marktmechanismen zu korrigieren. Natürlich waren diese unbestreitbaren Defizite und Fehler, die die Ökonomie der UdSSR so belasteten, nicht das Ergebnis der Planwirtschaft an sich. Sie waren vielmehr die Konsequenz von mehreren Jahrzehnten einer bürokratischen Misswirtschaft und der Knebelung der proletarischen Demokratie durch das Eigeninteresse einer von den breiten Massen durch Privilegien abgesonderten bürokratischen Kaste.
Die „Reformpolitik“ Gorbatschows war also trotz aller Zugeständnisse an die Marktkräfte und obwohl diese natürlich wichtige Schritte in Richtung Restauration darstellten, subjektiv als Versuch zu bewerten, die Produktionsverhältnisse aufrechtzuerhalten, unter denen die Bürokratie bis dahin ihre Herrschaft ausgeübt hatte. Und das waren immer noch nachkapitalistische Produktionsverhältnisse, die allerdings durch die verschiedenen „Reformprogramme“ bereits immer stärker in Frage gestellt wurden. Der im September 1990 veröffentlichte sogenannte Schatalin-Plan war schon auf eine Schocktherapie, den radikalen Übergang zur Marktwirtschaft in „500 Tagen“, hinausgelaufen. Ihm gegenübergestellt wurde das Programm des damaligen Ministerpräsidenten Ryschkow, dessen Plan einen Übergang zu einer „regulierten Marktwirtschaft“ vorsah. Dazu kamen Wirtschaftspläne wie des Obersten Alksnis, der sich am Wirtschaftmodell des chilenischen Diktators Pinochet orientierte, oder der von der Harvard-Universität inspirierte Jawlinski-Plan vom Juni 1991 zur Gesundung der Sowjetwirtschaft. Der von der Strömung um Gorbatschow favorisierte Pawlow-Plan von April 1991 und der modifizierte Gorbatschow-Plan, den dieser in London im Juli 1991 als Verschnitt des Pawlow- und Jawlinski-Planes präsentierte, waren dabei im Grunde nichts mehr als eine Weiterführung der erfolglosen Methoden der „Perestroika“ und führten nur zu einer Prolongierung des herrschenden Chaos‘.
Nun jedoch wurden schnell auch die Phrasen von einer sozialistischen Marktwirtschaft abgelegt und die neuen Ziele ungeschminkt und offen formuliert. Es ging ganz explizit um eine Restauration des Kapitalismus. So stimmte Jelzin in einer großen Rede auf dem fünften Kongress der Volksdeputierten am 28. Oktober 1991 die Massen auf die kommende Periode ein. Der Übergang zum Kapitalismus werde zwar schwer werden, aber innerhalb weniger Monate werde die „Schocktherapie“ greifen und sich das Leben wieder spürbar verbessern: „Der sofortige Übergang zu Marktpreisen ist eine harte, aber notwendige Maßnahme. Das Leben wird für alle ungefähr ein halbes Jahr lang schwieriger und schlechter werden. Aber dann werden die Preise fallen, die Konsumbedürfnisse werden reichlich befriedigt werden. Im Herbst 1992 wird sich die Wirtschaft stabilisieren und der Lebensstandard der Menschen wird sich allmählich verbessern.“
Die Realität sah doch einigermaßen anders aus. Zuerst ist festzuhalten, dass sich die Gruppierung um den russischen Präsidenten an der polnischen Variante der kapitalistischen Restauration zu orientieren beabsichtigte. Wie in Polen sollte durch einen „Big Bang“ ein radikales Reformprogramm durchgezogen werden, das auf den Vorstellungen der Wirtschaftsberatung von Jeffrey Sachs beruhte und mit dem auf einen Schlag alle Subventionen und Preisregulierungen abgeschafft werden sollten. Symbolträchtig wurde der zweite Jahrestag der Verkündung des polnischen Big Bang, der 2. Januar 1992, als Beginn der Schocktherapie verkündet. Jelzins Programm sah eine sofortige Freigabe der Preise für die meisten Güter und die Herstellung eines Budgetgleichgewichts durch den Wegfall der ausufernden Subventionen für die Staatsfirmen vor, deren Schicksal den Marktkräften überantwortet werden sollte. Gleichzeitig war ein weit reichendes Privatisierungsprogramm, das ebenfalls 1992 starten sollte, vorgesehen.
Der russischen Regierung waren die Probleme, die sich als Folge eines Big Bang einstellen würden, natürlich bekannt: Mit einer Schocktherapie war die Gefahr des Ruins weiter Teile der russischen Wirtschaft verbunden. Auch die Warnungen von Weltbank, Weltwährungsfonds und OECD gingen in diese Richtung: Das ineffiziente sowjetische System der Produktion und Verteilung dürfe nicht abgeschafft werden, ohne dass genügend Zeit für eine Anpassung und Ersetzung gegeben wäre. Denn ein funktionierender Kapitalismus benötigt nicht nur soziale Subjekte, die die Gesellschaft tragen, sondern auch Gesetze und Spielregeln, die weitgehend unumstritten sein müssen.
Die restaurationistischen Kräfte konnten sich zwar auf einen Staatsapparat stützen, den sie von der jahrzehntelangen Herrschaft einer stalinistischen Bürokratie geerbt hatten. Aber die neuen sozialen Kräfte mussten sich erst stabilisieren und den schon bestehenden bürgerlichen Staatsapparat entsprechend den Bedürfnissen einer unmittelbar anstehenden Rückkehr zum Kapitalismus mit neuen Vorschriften und neuen Regeln für die wirtschaftlichen Abläufe füllen.
Am 2. Januar 1992 wurden auf einen Schlag 90 Prozent der Preise für Konsumgüter und 80 Prozent der Preise für Industrieprodukte freigegeben. Und auch die Preise, die nach wie vor staatlich geregelt blieben, wurden auf das Drei- bis Vierfache erhöht. Die Konsequenz war der Beginn einer dramatischen, jetzt nicht mehr wie in der Endphase der UdSSR versteckten Inflation, die noch im Januar 1992 auf 300 bis 500 Prozent anstieg. Mit April 1992 erreichte der offizielle Preisindex bereits 740 Prozent, Ende Dezember 1992 wurden 2.300 Prozent erreicht.
Mit der Freigabe der Preise und dem Beginn einer Inflationsspirale war der Aufstieg des Schwarzmarktes und einer russischen „Mafia“ verbunden. Diese machte einen Prozess der ursprünglichen Akkumulation von Kapital durch, indem sie flexibel auf regionale Verknappungen von Gütern reagierte und sich vorwiegend auf in den Betrieben „organisierte“ oder billig aufgekaufte und mit zeitlicher Verzögerung weiterverkaufte Produkte spezialisierte. Dieser Prozess hatte bereits in den 1980er Jahren erhebliche Ausmaße angenommen, lief aber jetzt weit ungenierter und offener als bis dahin ab.
Privatisierung
Gleichzeitig zur „Schocktherapie“ mit der Freigabe der Preise und dem radikalen Abbau der Subventionen stand nun auch die Privatisierung der Staatsbetriebe auf der Agenda. Die Regierung Jelzin hatte sich bereits in der zweiten Jahreshälfte 1991 als über den widerstreitenden Fraktionen stehend profilieren wollen. Nun stand sie vor der Frage, welche Form der Privatisierung zu wählen wäre. Von einer Gruppe der Bürokratie um Jawlinski und den früheren Finanzminister Fedorow wurde vorgeschlagen, die Firmen an den Höchstbietenden zu verkaufen. Das würde finanzkräftige Investor/inn/en anziehen. Ihnen gegenüber standen jene, die darin – wohl nicht zu Unrecht – einen Ausverkauf der Reichtümer Russlands an das Ausland sahen. Als finanzstarke Investor/inn/en wären meist wirklich nur internationale Konzerne in Frage gekommen, denn die Schicht der neureichen Bürokrat/inn/en wäre in offenen Bieterverfahren wahrscheinlich gar nicht so gerne aufgetreten. Wären sie doch Gefahr gelaufen, dass die Herkunft ihrer in oft dubiosen Transaktionen erworbenen Reichtümer in Diskussion gestellt worden wäre.
Das Programm der Gegner/innen von Versteigerungen war weniger einheitlich: Es reichte von denjenigen, die über die Verteilung von Kupons die Arbeiter/innen der zu privatisierenden Firmen zu Miteigentümer/innen machen wollten, bis zu denen, die andere Formen der Übergabe in kollektiven Besitz anstrebten. Hinter diesen Methoden der Privatisierung standen die Bürokrat/inn/en der staatseigenen Firmen, die nun als moderne Manager/innen auftraten und sich über alle diese Formen eine Erhaltung ihres Einflusses auf die Firmen, die sie auch jetzt schon repräsentiert hatten, erwarteten und damit die Hoffnung verbanden, selbst als neue Eigentümer/innen handeln zu können. Der Nachteil war natürlich ebenso klar: Über diese Formen der Privatisierung konnten keine neuen finanzkräftigen Investor/inn/en angezogen werden, mit deren Hilfe die Produktion auf Weltmarktniveau gehoben werde sollte. Denn große Teile der russischen Industrie erzeugten keine Produkte, die der Weltmarktkonkurrenz standhalten konnten.
Wie so oft setzte die Jelzin-Administration mit dem für die Privatisierung gegründeten „Komitee für Staatseigentum“ auch jetzt eine Kompromissvariante um. Manager/innen und Arbeiter/innen konnten nun 51 Prozent der Stimmrechtsaktien der in Aktiengesellschaften umgewandelten Staatsbetriebe zum 1,7-fachen des Buchwerts erwerben. Gekauft werden konnte mit Bargeld, den nun ins Spiel kommenden „Vouchers“ oder im Austausch gegen von den Firmen zurückgehaltene Löhne. Mindestens drei Zehntel der Aktien sollten in jeder Firma über Gutscheine, „Vouchers“, an die breite Masse der Bevölkerung abgegeben werden, der allfällige Rest konnte im Besitz von (staatsnahen regionalen) Fonds verbleiben oder an außenstehende Investor/inn/en abgegeben werden. Von diesen sollte dringend benötigtes Know-how und frisches Kapital in die Firmen eingebracht werden.
Zwischen Oktober 1992 und Februar 1993 erhielten nun 98 Prozent der 149 Millionen russischen Staatsbürger/innen Vouchers im Nominalwert von 10.000 Rubel. Zur Entstehung eines Kapitalmarktes entscheidend war, dass diese Vouchers verkauft, an Investitionsfonds übertragen oder bei einer der vielen Auktionen der kommenden Periode zum Ankauf von Unternehmensanteilen eingesetzt werden konnten. Dieses Voucher-System spülte zwar keine neuen Investitionsmittel in die Betriebe, aber es war ein politischer Schachzug, der die latente politische Opposition gegen die Privatisierung zum Verstummen brachte: Das Ziel der Privatisierung stand weitgehend außer Frage, auch die Kommunistische Partei Russlands unter Sjuganow wollte nicht gegen eine Voucher-Privatisierung auftreten.
Die Schwierigkeit bestand aber zumeist darin, den Wert der Unternehmen zu bestimmen. Herangezogen für den Buchwert wurden die ursprünglichen Errichtungskosten, die Verbindlichkeiten etc. Was nicht gelang, und was im Eigeninteresse der Manager/innen auch gar nicht gelingen sollte, war eine wissenschaftlich fundierte, auf internationalen Standards basierende Bestimmung des Wertes der einzelnen Betriebe. Das Ergebnis war eine dramatische Unterbewertung der Firmen, die zu einem Bruchteil ihres Wertes den Manager/inne/n und den Mitarbeiter/inne/n angeboten wurden, zu Preisen, die durch geschickte Zahlungstermine vor dem Hintergrund einer immensen Inflation noch zusätzlich gedrückt werden konnten.
Zwischen Ende 1992 und Sommer 1994 wurden so die meisten Industriebetriebe in Russland privatisiert: Mitte 1994 waren es 15.000 mittlere und große Staatsunternehmen, 1996 bereits 18.000, die 80 Prozent der industriellen Beschäftigten und 88 Prozent der Industrieproduktion umfassten. Unmittelbar nach der Privatisierungswelle begann ein Prozess der Konzentration des Aktienkapitals durch den systematischen Aufkauf der Vouchers der breiten Masse. Parallel dazu wurde der Einfluss der außenstehenden Investor/inn/en begrenzt. Durch eine Kombination legaler Mittel und illegaler Tricks wurden deren Möglichkeiten, Geschäftsführung und Geschäftspolitik zu bestimmen, enge Grenzen gesetzt. So wurden etwa neue Aktien ausgegeben, ohne dass die Öffentlichkeit informiert worden wäre, um Sperrminoritäten zu umgehen. Fonds wurden gegründet, um ohne Aufsehen Aktien aufzukaufen etc.
Am Ende dieses Prozesses stand die Übertragung riesiger volkswirtschaftlicher Vermögen an eine Schicht von Bürokrat/inn/en im Dunstkreis der lokalen, regionalen und nationalen Apparate. Es war eine spezifische Form der Privatisierung, die sich als entscheidendes Element für die Herausbildung einer neuen Klasse von Besitzenden aus einer Schicht leitender Bürokrat/inn/en herausstellen sollte.
Ende 1994 waren 90 Prozent der Firmen mehrheitlich im Besitz der Manager/innen oder von Manager/inne/n und Mitarbeiter/inne/n. 20 Prozent der Aktien waren im Besitz von Außenstehenden. Im Staatsbesitz verblieben 10 Prozent der Aktien, allerdings behielt sich der Staat etwa in der Energieförderung eine Aktienmehrheit vor. So hat etwa Gazprom heute zwar ca. 470.000 Aktionäre, aber Russland kontrolliert nicht nur über eine Mehrheit im Aufsichtsrat das Management, sondern besitzt auch mit 50,002 Prozent die Aktienmehrheit. Die kommenden Jahre waren von einem widersprüchlichen Prozess gekennzeichnet: Einerseits sank bis 1996 die Zahl der von Betriebsangehörigen kontrollierten Firmen auf etwa zwei Drittel, denn mit dem verfallenden Lebensstandard wurden immer mehr Arbeitende gezwungen, ihre Firmenanteile zu Geld zu machen. Gleichzeitig nahm – zumindest formal – der Außen-Einfluss auf die Firmen zu, nicht selten allerdings durch Firmenkonstruktionen, die nur dazu dienen sollten, die Besitzverhältnisse der Manager/innen an ihren eigenen Firmen zu verschleiern.
Mitte der 1990er Jahre war jedenfalls der Löwenanteil der früheren Staatsbetriebe privatisiert – innerhalb weniger Jahre waren die Grundlagen für eine warenproduzierende kapitalistische Wirtschaft gelegt worden. Diese Basis geschaffen zu haben, war die historische Funktion der Jelzin-Administration. Doch letztlich sollte der Prozess der vollständigen Durchsetzung marktwirtschaftlicher Mechanismen noch einige zusätzliche Anstrengungen benötigen, die sich mit den Mitteln und Methoden Jelzins als nicht durchsetzbar erwiesen.
Krise der Restauration
Doch die ambitionierten Privatisierungsprogramme und die „Schocktherapie“ können nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Prozess der Restauration des Kapitalismus langsamer und widersprüchlicher ablief, als vermutet werden könnte. Hintergrund der Schwierigkeiten war der dramatische Rückgang der Wirtschaftsleistung. Die Gesamtproduktion fiel innerhalb kurzer Zeit auf die Hälfte des Wertes der 1980er Jahre. Die Jelzin-Administration war bis 1998/1999 nicht in der Lage, die grundsätzlichen Probleme der Wirtschaft zu überwinden.
Als besonders problematisch erwies sich das widersprüchliche Nebeneinander einer Kapitalakkumulation in den privatisierten Firmen und des Weiterbestehens traditioneller Wirtschaftsbeziehungen zwischen einzelnen Betrieben, die untereinander wie zu Sowjetzeiten Tauschhandel betrieben, sowie ein undurchschaubares System offener und versteckter Subventionen. Ganze Regionen waren wie zu Sowjetzeiten von einem Großbetrieb abhängig, eine vollständige Durchsetzung von Marktmechanismen hätte für viele von ihnen das Aus bedeutet und Städte, ja ganze Landstriche, ohne jede Perspektive zurückgelassen. Die Jelzin-Administration entschied sich auf Druck der lokalen Bürokratien in aller Regel, den unvermeidlichen Bankrott dieser Betriebe immer weiter hinauszuzögern. Der mögliche „Profit“ dieser Firmen war daher auch nicht das Ergebnis ihrer realen Wirtschaftskraft, sondern auf eine noch immer bestehende Monopolstellung zurückzuführen – eine Position, die im Laufe der 1990er Jahre immer weiter erodieren musste. Immer mehr Firmen, egal, ob sie nun privatisiert waren oder sich noch im Staatsbesitz befanden, wurden so von direkten oder indirekten Subventionen abhängig, eine Situation, die über kurz oder lang die Frage der Finanzierung des Staatshaushaltes auf die Tagesordnung setzte. Denn nach Weltbank-Schätzungen betrug der Wert der Subventionen um 1997 ein Zehntel des Brutto-Inlandsproduktes.
Auch auf einer anderen Ebene hatten sich in den 1990er Jahren die „normalen“ kapitalistischen Spielregeln noch nicht vollständig durchgesetzt: So entsprach die Beziehung Kapital-Arbeit noch nicht der kapitalistischen „Normalität“. Einerseits wurde auf das Management massiver Druck ausgeübt, die für die kapitalistische Produktion überschüssigen Mitarbeiter/innen nicht zu entlassen – noch immer waren viele Sozialleistungen an die Zugehörigkeit zu einem Betrieb gekoppelt. Die regionalen Administrationen hatten also ein direktes Interesse daran, dass die Betriebe möglichst lange auf die wirtschaftlich gesehen notwendigen Entlassungen verzichteten. So erklärt sich auch die offiziell niedrige Arbeitslosenrate während der 1990er Jahre. Die „überschüssigen“ Arbeiter/innen fungierten also noch nicht als Reservearmee, die Angebot und Nachfrage der Ware Arbeitskraft regelte. Die Konsequenz für die privatisierten Betriebe war klar: Viele wirtschafteten nicht profitabel. Sie mussten danach trachten, die Verantwortung für die „überschüssigen“ Arbeitskräfte und für den Aufbau eines adäquaten Sozialsystems an den Staat zu übertragen. Diese unterschiedliche Interessenlage von Betrieben und staatlicher Administration ließ sich während der 1990er Jahre nicht auflösen.
Die Betriebe reagierten auf den politischen Druck mit eigenen Methoden: „Normale“ kapitalistische Betriebe machen Profit durch die Ausbeutung der Ware Arbeitskraft, also durch die Aneignung der Mehrarbeitszeit. In Russland gingen Mitte der 1990er Jahre immer mehr Firmen dazu über, ihren Mitarbeiter/inne/n die Löhne überhaupt vorzuenthalten, also sich durch direkten Raub der Gehälter ihrer Mitarbeiter/inne/n zusätzlichen finanziellen Spielraum zu gewähren. Ähnliche Effekte konnten bei einer Hyperinflation auch durch die verspätete Auszahlung von Gehältern erzielt werden… 1995 schuldete bereits ein Drittel aller Firmen Russlands ihren Arbeiter/inne/n Löhne, auch der Staat zahlte Löhne oft um Monate verspätet aus.
Die Konsequenzen lagen auf der Hand: Obwohl der Staat sich immer weiter verschuldete und mit Subventionen den Bankrott unrentabler Firmen immer weiter hinauszögerte, schritt die Verarmung immer größerer Teile der Bevölkerung massiv voran. Nur 40 Prozent der Haushaltseinkommens kamen Mitte der 1990er Jahre von den Löhnen, der Rest wurde über Kleinhandel, den Verkauf von Vouchers etc. lukriert. Die Armutsrate explodierte, Rentner/innen und Staatsangestellte konnten mit den an die Inflationsrate nicht angepassten und dann oft noch – wenn überhaupt – um Monate verspätet ausbezahlten Löhnen und den lächerlich geringen Pensionen einfach nicht mehr überleben. Der Prozess der Restauration des Kapitalismus stürzte eine ganze Generation in Armut und Verzweiflung. Die Lebenserwartung sank in den 1990er Jahren dramatisch, häusliche Gewalt und der ohnehin endemische Alkoholismus nahmen weiter zu… 1997/1998 waren die Krisensymptome der Jelzin-Administration nicht mehr zu übersehen. Ein wichtiges Element dieser krisenhaften Entwicklung war natürlich auch die politische Sphäre.
Instabilität und Verfassungskrisen
Jelzin war von Anfang an der typische Kompromisskandidat gewesen, der die verschiedenen widerstreitenden Fraktionen der Bürokratie, die sich auf das Konzept der Restauration des Kapitalismus eingeschworen hatten, einigen sollte. Schon 1993 war es in Moskau zu blutigen Auseinandersetzungen gekommen, als sich der Machtkampf zwischen Parlament und Präsidenten zuspitzte. Der Kongress der Volksdeputierten, also das russische Parlament, hatte sich unter Ruslan Chasbulatow, dem Vorsitzenden des Obersten Sowjets, gegen Jelzins Politik der Beschleunigung und Intensivierung der Wirtschaftsreformen gewandt. Vom Parlament wurde Jelzins Vorlage eines Verfassungsentwurfs abgelehnt, woraufhin Jelzin das Parlament und den Obersten Sowjet Russlands verfassungswidrig per Dekret auflöste. Im September begannen öffentliche Proteste gegen Jelzins Regierung, allerdings blieb die Armee unter Kontrolle des Präsidenten, was den Ausgang der Krise zugunsten Jelzins entschied.
Dessen Sieg blieb jedoch trügerisch: Dezember 1993 wurde per Volksabstimmung zwar die neue Verfassung Russlands bestätigt, doch bei den folgenden Parlamentswahlen errangen die Gegner/innen Jelzins erneut die Mehrheit, das „Reformlager“ blieb uneinig und gespalten. Im Grunde gelang es Jelzin zwischen 1992 und 1998 nicht, eine klare Mehrheit zur Unterstützung seines Kurses zu erhalten; Russland blieb in den 1990er Jahren politisch instabil, mit einer starken Opposition durch die Kommunistische Partei der Russischen Föderation unter Gennadi Sjuganow und die rechtsextreme Liberal-Demokratische Partei Russlands unter Wladimir Wolfowitsch Schirinowski. Neben der Unsicherheit über den Wirtschaftskurs und der Verarmung weiter Schichten der Bevölkerung belastete der Krieg um Tschetschenien noch weiter die Innenpolitik.
Schon 1996 schien eine Wiederwahl Jelzins ohne Erfolg. Erst die massive Unterstützung der durch Jelzin zu Reichtum gekommenen Oligarchen verhalf ihm zu einem Sieg über Sjuganow, den Vorsitzenden der Kommunistischen Partei, der auf 40 Prozent der Stimmen kam. Als Gegenleistung konnten die neuen Reichen erfolgreich ihr oft fragwürdig durch korrupte Entscheidungen erworbenes Eigentum dem Zugriff des Staates entziehen.
Augustkrise 1998
1998 brach das von Jelzin repräsentierte System zusammen: Verschärfend wirkte sich der Verfall der Rohöl- und Erdgaspreise aus, die bis dahin als stabilisierender Faktor die Probleme der russischen Wirtschaft abgefedert hatten, und der Beginn der Asienkrise mit einem massiven Verfall der Börsenkurse. Am 17. August 1998 musste sich Russland als zahlungsunfähig erklären. Selbst Guthaben auf Privatkonten wurden eingefroren.
Der Bereich der Finanzdienstleistungen war der letztendliche Auslöser der August-Krise gewesen. Im Zentrum des dubiosen Finanzmarktes stand der Staat. Während der gesamten 1990er Jahre befand sich dieser in chronischer Finanzierungsnot und deckte die Haushaltslöcher ab Mai 1993 durch kurzfristige staatlich garantierte Anleihen, die GKO-Bonds. Ende 1994 waren drei Milliarden US-Dollar an GKO-Anleihen im Umlauf, 1997 bereits 64,7 Milliarden. Viele Banken spekulierten nur noch mit diesen Anleihen, während Privatfirmen Schwierigkeiten hatten, Kredite zu bekommen. Um 1996 stiegen auch ausländische Finanzinvestor/inn/en massiv in den russischen Markt ein: Von 1996 bis 1997 stiegen deren Investments von 8,9 auf 45,6 Milliarden US-Dollar.
Das gesamte System der Staatsverschuldung entwickelte sich immer mehr zu einem Pyramidenspiel, das sich nicht durch reale Gewinne aus Wirtschaftsaktivitäten finanzierte, sondern dadurch, dass durch das Versprechen hoher Zinsen immer mehr Geld neu angezogen werden konnte. 1997 mussten bereits 91% der Erlöse aus den neuen GKOs zur Begleichung der alten GKOs aufgebracht werden. Das System kollabierte, als mit Beginn der Asienkrise viele ausländischen Investor/inn/en ihre Gelder aus den GKOs abzogen und die Zentralbank Milliarden US-Dollar in die Stützung des Rubels pumpen musste. Mit dem Finanzkollaps ging die Hälfte der zehn größten russischen Banken faktisch bankrott.
Letztendlich entwickelte sich die August-Krise zu einer gewaltigen Umverteilungsaktion: Zur Rettung Russlands wurde unter Anatoli Tschubais ein 22,8 Milliarden-Dollar-Kredit durch den Internationalen Währungsfonds aufgestellt. Damit konnte Russland aufgefangen werden und ein neuer Wirtschaftszyklus beginnen. Aber während des Zusammenbruches des Bankwesens viele Russ/inn/en ihre Guthaben verloren, gelang es den Oligarch/inn/en, die über gute Beziehungen verfügten, teilweise große Summen in Sicherheit zu bringen. So mussten durch ein staatliches 3-Monats-Moratorium die russischen Banken keine ausländischen Kredite begleichen; diese Periode wurde generalstabsmäßig zum Transfer von Geldern ins sichere Ausland genutzt.
1998/2000: Stabilisierung des Restaurationsprozesses
Die Krise im August 1998 hatte aber in zweifacher Hinsicht eine „reinigende“ Wirkung für den Abschluss des kapitalistischen Restaurationsprozesses: Erstens zwang sie die Unternehmen, ihre Arbeit auf kapitalistischer Basis zu restrukturieren. Bis dahin war immer noch die Hälfte der russischen Wirtschaftsleistung auf der Basis von Tauschgeschäften zwischen Unternehmen abgewickelt worden, wobei oft politische Notwendigkeiten die Grundlage der Geschäfte bildeten. In den kommenden beiden Jahren sank dieser Anteil auf ein Fünftel. Auch der Bankensektor wurde nun nach kapitalistischen Kriterien neu geordnet. Auf dieser Basis begann in Russland eine Periode der kapitalistischen Konsolidierung und des steilen ökonomischen Aufstiegs.
Zum zweiten aber wurde immer mehr in der Schicht der neuen Oligarch/inn/en klar, dass bei Jelzins Regierungsstil die Nachteile der Instabilität und Unsicherheit die Vorteile der Möglichkeiten schneller Bereicherungen überwogen. Die Periode der ursprünglichen Aneignung an Staatseigentum, in der ein korruptes und leicht lenkbares Regime von Vorteil sein musste, war zu Ende gegangen. Die neue Schicht der kapitalistischen Eigentümer/innen verlangte nun nach einer neuen Staatsführung, die das erworbenen Eigentum schützen und nach Innen und Außen garantieren würde. Die von den Medien genüsslich breitgetretenen peinlichen Auftritte eines unter Alkoholeinfluss stehenden Präsidenten waren da nur der symbolträchtige Ausdruck der Abwendung von Jelzin.
Denn Jelzin hatte es zu Beginn seiner politischen Karriere verstanden, einerseits die kapitalistische Konterrevolution voranzutreiben, gleichzeitig aber auf der anderen Seite die Hoffnungen auf soziale Gleichheit und Gerechtigkeit auf sich zu konzentrieren. Deshalb war er für die entstehende Klasse der Kapitalist/inn/en wichtig. Seine Funktion lag darin, den Graben zwischen den neuen Oligarch/inn/en und den Millionen von einfachen Bürger/inne/n, die sich zunehmend um ihre Hoffnungen betrogen sahen, zu überbrücken. 1998 hatte sich diese Funktion endgültig erschöpft.
Der Übergang zu einem neuen starken Präsidenten war unter diesen Voraussetzungen nur mehr eine Frage der Zeit und des Stils. Nach einer kurzen Übergangsperiode musste Jelzin die Machtübergabe an den aus dem Geheimdienst stammenden Wladimir Putin einleiten. Am 9. August 1999 wurde Putin zum Ministerpräsidenten ernannt und von der Duma eine Woche später bestätigt. Als Jelzin am 31. Dezember 1999 sein Amt niederlegte, übernahm Putin – wie in der Verfassung vorgesehen – die Amtsgeschäfte des Präsidenten bis zu den Neuwahlen. Putin wurde programmgemäß von Jelzin zu seinem Wunschkandidaten erklärt und gewann im März 2000 die Präsidentschaftswahlen.
Unter Putin konnte der Neuaufbau eines kapitalistischen Russland in die Tat umgesetzt werden. An die Stelle der korrupten und in Grabenkämpfe der Oligarch/inn/en verstrickte Jelzin-Administration trat nun ein „harter“ und „unbestechlicher“ Präsident, der sich über die Fraktionskämpfe der Jelzin-Ära erhob und die Ansprüche auf eine größere Machtstellung Russlands in der Weltpolitik verkörperte.
Konsequenzen und politische Schlussfolgerungen
Wenn wir den Prozess der sozialen Konterrevolution, die Periode der kapitalistischen Restauration Revue passieren lassen, so sind einige charakteristische Kennzeichen von Interesse.
Im Wesentlichen sind es drei Elemente, die uns hier interessieren. Erstens erscheint uns ein Vergleich des Prozesses der kapitalistischen Restauration wichtig, so wie er in der Realität vor sich ging und wie er von Leo Trotzki in den 1930er Jahren vorausgesagt wurde. Zweitens sollten wir die Unterschiede und Gemeinsamkeiten zur Restauration in anderen Ländern untersuchen, im Speziellen zur Wiedereinführung des Kapitalismus in China. Und drittens: Welche Rolle spielte der Staatsapparat im Restaurationsprozess?
Trotzkis Prognosen
Niemand kann für sich beanspruchen, den genauen Hergang des Kollaps' der degenerierten Arbeiter/innen/staaten 1989/1991 vorhergesagt zu haben. Die Bandbreite reichte vom Rumänien Ceauşescus über den staatlichen Zusammenbruch in Albanien, die blutigen Nachfolgekriege nach der Implosion Jugoslawiens, die „friedlichen“ Konterrevolutionen in den meisten Staaten Osteuropas bis zur Wiedervereinigung Deutschlands und dem Ende der DDR, dem Arrangement von KPCh und neuen Kapitalgruppen in China bis eben zum Auseinanderbrechen der Sowjetunion und der Schocktherapie in Russland.
Leo Trotzki und die Linksopposition waren sich im Klaren, dass die Politik der Bürokratie unweigerlich zum Scheitern verurteilt wäre und die Geschichte die beiden Möglichkeiten offen ließ – entweder eine politische Revolution, die zum Sturz der herrschenden Bürokratie führen werde, also eine zweite, ergänzende Revolution gegen den bürokratischen Absolutismus, wie es Trotzki 1936 in der „Verratenen Revolution“ formulierte. Oder eine Rückkehr zum Kapitalismus, eine kapitalistische Konterrevolution.1934 war Trotzki in „Die Stalin-Bürokratie und der Mord an Kirow“ davon ausgegangen, dass nur „ausgemachte Narren“ glauben könnten, dass die kapitalistischen Verhältnisse, d.h. das Privateigentum an Produktionsmitteln in der UdSSR auf friedlichem Wege wiederhergestellt werden und zum Regime einer bürgerlichen Demokratie führen könnten. In Wirklichkeit könne der Kapitalismus nur mit Hilfe eines grausamen konterrevolutionären Umsturzes in Russland wiedererstehen, der zehnmal soviel Opfer fordern würde wie die Oktoberrevolution und der Bürgerkrieg zusammen
In der „Verratenen Revolution“ entwickelte Trotzki die Analyse der Bürokratie neu. Er hielt zwar daran fest, dass die Restauration des Kapitalismus mit gewaltigen Erschütterungen einhergehen müsse. Gleichzeitig kam er aber nun, auf der Grundlage einer genaueren Untersuchung, zum Schluss, dass die politische Konterrevolution bereits um 1927 stattgefunden hatte (inklusive zahlreicher Säuberungen in Partei und Gesellschaft) und dass die herrschende Bürokratie „bürgerlichen Charakter“ habe. Von Strömen von Blut (zehnmal so viele Opfer wie Revolution und Bürgerkrieg) war nun nicht mehr die Rede. Von Trotzki wurden 1936 in der „Verratenen Revolution“ mehrere mögliche Szenarien für eine kapitalistische Restauration beschrieben. Eine Möglichkeit sei der Sturz der Bürokratie durch eine offen bürgerliche Partei; die zweite mögliche Variante bestehe in der Transformation der Bürokratie (bzw. von Teilen derselben) in eine neue herrschende Klasse, die sich dem Übergang zum Kapitalismus verschrieben habe und sich in eine neue besitzende Klasse verwandeln würde.
Klarsichtig hatte Trotzki 1936 auch erkannt, dass die Restauration des Kapitalismus in der Bürokratie viele willige Helfer/innen finden werde: „Würde dagegen die herrschende Sowjetkaste von einer bürgerlichen Partei gestürzt, so fände letztere unter den heutigen Bürokraten, Administratoren. Technikern, Direktoren, Parteisekretären, überhaupt privilegierten Spitzen, nicht wenig willige Diener. Eine Säuberung des Staatsapparates wäre natürlich auch in diesem Falle erforderlich, doch brauchte die bürgerliche Restauration wahrscheinlich weniger Leute zu entfernen als eine revolutionäre Partei.“
Trotzki beschrieb das wahrscheinliche Szenario für die Rückkehr zum Kapitalismus so: „Die Hauptaufgabe der neuen Staatsmacht wäre jedoch, das Privateigentum an der Produktionsmitteln wiederherzustellen, (…) Auf dem Gebiete der Industrie würde die Entnationalisierung bei den Betrieben der Leicht- und Nahrungsmittelindustrie beginnen. Das Planprinzip würde während der Übergangszeit hinauslaufen auf eine Reihe von Kompromissen zwischen der Staatsmacht und den einzelnen ‚Genossenschaften‘, d.h. den potenziellen Besitzern, zusammengesetzt aus Sowjetindustriekapitänen, ehemaligen emigrierten Besitzern und den ausländischen Kapitalisten. Obwohl die Sowjetbürokratie einer bürgerlichen Restauration gut vorgearbeitet hat, müsste das neue Regime auf dem Gebiete der Eigentumsformen und Wirtschaftsmethoden nicht Reformen, sondern eine soziale Umwälzung durchführen.“ In diesen Zeilen wurde bereits vieles von der realen Entwicklung der UdSSR mehr ein halbes Jahrhundert später vorweggenommen.
Bereits Mitte der 1920er Jahre hatte die bürgerliche Stalin-Bürokratie die politische Macht übernommen. Sie musste sich – trotz ihrer reaktionären Politik im In- und Ausland – jahrzehntelang auf die nachkapitalistischen Produktionsverhältnisse in der Sowjetunion stützen. Mit der Erschöpfung der bürokratischen Planwirtschaft war nur der Weg frei für die Machtübernahme offen bürgerlich-restaurationistischer Kräfte. Sie – von wenigen Ausnahmen abgesehen – ausgesprochen unspektakulär. Nicht nur das: Die herrschenden Bürokratien versuchten meist selbst den Fortgang der Konterrevolution zu gestalten, große Teile der Bürokratie gingen zu den Kräften der sozialen Konterrevolution über. Die Auswirkungen auf die Bevölkerung und insbesondere die ArbeiterInnenklasse waren zwar auch physisch enorm – Verelendung und massives Absinken der Lebenserwartung –, aber Widerstand entwickelte sich kaum.
Das Russland der 1930er Jahre war nicht dasselbe wie das von 1991/1992. In den 1930er Jahren war die revolutionäre Kontinuität noch nicht abgerissen, die Erinnerung an die Revolution von 1917 und das kollektive Gedächtnis waren noch nicht so tief verschüttet wie mehr als ein halbes Jahrhundert später; die bürokratische Herrschaft stand unter einem starken Legitimationsdruck. Und trotzdem sah Trotzki in der „Verratenen Revolution“ auf der Tagesordnung der Geschichte schon eher eine bürgerliche Konterrevolution als einen proletarischen Aufstand. Anfang der 1990er Jahre war die Situation noch viel klarer: Die Bürokratie hatte bereits ihr historisches Potenzial aufgebraucht und sich als unfähig zur Weiterentwicklung einer nachkapitalistischen Gesellschaft erwiesen.
Noch dazu waren in den osteuropäischen Ländern die stalinistischen Bürokratien in aller Regel nicht das Ergebnis einer Usurpation der Eigenaktivität des Proletariats, sondern die nachkapitalistischen Produktionsverhältnisse waren das Ergebnis eines von oben inszenierten sozialen Prozesses, der in der bürokratischen Abschaffung kapitalistischer Eigentumsverhältnisse gipfelte. Dementsprechend gering war die Bereitschaft des Proletariats, die bürokratisch deformierten nachkapitalistischen Produktionsverhältnisse zu verteidigen. Offene und massive Gewaltanwendung war nicht mehr nötig, um das Proletariat von der „Notwendigkeit“ einer Rückkehr zum Kapitalismus zu überzeugen. Die verfehlte Kommandoplanung der stalinistischen Bürokratien hatte über Jahrzehnte kräftig vorgearbeitet. Dazu kommt, dass das seit Generationen politisch entmündigte Proletariat das Russland von 1991 nicht mehr als seinen eigenen Staat betrachtete.
Eine spezielle Form der Restauration
Die zweite Frage, die wir uns stellen wollen, ist die nach den Unterschieden und Gemeinsamkeiten des Restaurationsprozesses in den verschiedenen Ländern. Russland hatte wie Polen die Methode einer „Schocktherapie“ gewählt und war über den Weg einer Massenprivatisierung mit einem anschließenden Prozess der Konzentration der Aktien zur Herausbildung einer Klasse von Besitzenden gekommen. Im Unterschied zu Russland etwa hatten Slowenien oder die Slowakei mit einem Prozess einer graduellen Restauration experimentiert.
Ironischer Weise bedeutete die spezifische Form, die die Konterrevolution in Russland annahm, aber auch, dass sich der Prozess der ursprünglichen Kapitalakkumulation über einen längeren Zeitraum hinzog als in den meisten anderen Ländern. Es dauerte bis zum Fast-Zusammenbruch 1998, dass entscheidende Schritte getan wurden, um dem kapitalistischen Wertgesetz zum Durchbruch zu verhelfen. Die Krise schuf die Basis dafür, dass nun rascher als in der Periode 1992/1998 die Umwandlung zu Ende gebracht werden konnte. Das lag an der Schwäche der politischen Kraft, die diesen Transformationsprozess steuern und anleiten sollte – an den von Jelzin geführten Regierungen, die immer wieder zu halbherzigen Maßnahmen und zu Kompromissen zwischen den verschiedenen Strömungen der entstehenden Kapitalist/inn/enklasse tendierten.
Gemeinsam war aber allen Prozessen, in denen eine stalinistische Kaste (oder Teile derselben) einen Übergang zu einem kapitalistischen System initiierte(n), dass die Reformen von der staatlichen Bürokratie aus angeleiert wurden, dass also dem Staat eine besondere Bedeutung zukam. Und auch wenn das Ergebnis in allen Fällen letztendlich das gleiche war, nämlich dass ein bürokratisch deformiertes nachkapitalistisches Wirtschaftssystem durch ein kapitalistisches ersetzt wurde, sind die Unterschiede doch gravierend. Von besonderem Interesse erscheint in diesem Zusammenhang ein Vergleich Russlands mit China zu sein. Auch in diesen beiden Ländern hatte ursprünglich die Bürokratie versucht, über von oben gesteuerte marktsozialistische Maßnahmen die Grenzen einer bürokratisch geplanten Wirtschaft zu überwinden. Und auch in diesen beiden Ländern sollte ein Szenario wie in Rumänien vermieden werden, wo der Widerstand eines Flügels der staatlichen Bürokratie, der sich seiner Demontage widersetzte, blutig niedergeschlagen werden musste.
Aber trotz allem scheint der chinesischen Bürokratie das Kunststück, zwar einerseits ein kapitalistisches System wiedereinzuführen, aber andererseits ihre eigene Machtposition zu erhalten, besser gelungen zu sein als in anderen vergleichbaren Ländern. In China nahm die Führung einer stalinistischen Partei nicht nur bewusst Kurs auf eine Restauration des Kapitalismus, sondern sie versuchte auch erfolgreich, selbst die kontrollierende Kraft dieses Restaurationsprozesses zu bleiben. Natürlich hat auch hier der Stalinismus durch seine Politik schon vor den 1990er Jahren das Voranschreiten der Konterrevolution begünstigt und die Restauration vorbereitet, aber weder in der Sowjetunion noch in den degenerierten Arbeiter/innen/staaten Osteuropas waren die stalinistischen Parteien dazu in der Lage, selbst die entscheidenden Schritte in Richtung Kapitalismus zu gestalten.
Genau diese Funktion verteidigt die KPCh mit Zähnen und Klauen: In den zu Aktiengesellschaften mutierten Industriekonglomeraten, den Überresten der Planwirtschaft, behielt sich die Kommunistische Partei Chinas (KPCh) die Macht der Entscheidungen vor: Der Grund liegt darin, dass eine Alternative zur KPCh fehlte, die neben dem Willen zur Restauration auch die Macht gehabt hätte, diese durchzuführen – und gleichzeitig eine weitere Desintegration und ein Auseinanderdriften Chinas ebenso zu verhindern wie eine Explosion der sozialen Spannungen. Im August 2000 hatten wir die Voraussage gewagt, dass das Ergebnis der Umgestaltung Chinas ein starker Staat mit einer Einheitspartei an der Spitze sein könnte, die im Interesse des Kapitals agiert, aber substitutionalistisch die (noch) zu schwachen sozialen Kräfte der Bourgeoisie ersetzt, in deren Namen die Gesellschaft leitet und das soziale Auseinanderbrechen Chinas in diesem Umgestaltungsprozess zu verhindern sucht. Notwendig sei dazu, so die Analyse in unserem Marxismus-Band 17, ein starker Staat, und als ideologische Klammer wären neben ökonomischen Erfolgen auch ein zunehmender stärker werdender Appell an die nationalen Gefühle in China denkbar: „Das Konzept erinnert vorerst einmal fatal an die Funktionsweise korporatistischer ökonomischer Modelle, wie sie etwa im Ständestaat Österreichs oder im faschistischen Italien der 1920er und 1930er Jahre umzusetzen versucht wurden: Die Unterdrückung sozialer Spannungen durch einen starken Staat, die Existenz einer bürokratischen Kaste, die die Geschäfte einer in Relation zu den anderen gesellschaftlichen Klassen schwachen Bourgeoisie führt und in diesem Prozess zu den Methoden bonapartistischer Herrschaftsformen greifen wird müssen.“
Der entscheidende Unterschied zu Russland liegt darin, dass es der chinesischen Bürokratie gelungen ist, das Machtmonopol der KPCh bis heute zu erhalten: Natürlich war auch in Russland eine Klasse von Kapitalist/inn/en in den 1990er Jahren erst im Ansatz vorhanden. Aber schnell wurde klar, dass größere Teile der neuen Kapitalist/inn/enklasse sich nicht mit der Rolle zufriedengeben würden, die eine KPCh ihren Klassenbrüdern und -schwestern in China zubilligte. Sehr bald wurden neue Parteien als Alternative zur Kommunistischen Partei gegründet und fächerte sich das Parteienspektrum immer weiter auf. Der Hintergrund war sicher der höhere Industrialisierungsgrad in Russland, die die Basis für die rasche Entwicklung der Schicht neureicher Oligarch/inn/en abgab. Nicht zufällig waren Entwicklungsszenarien wie in China realistische Optionen auch in Laos oder in Vietnam, also in Ländern, in denen die industrielle Basis schmäler war als in Russland. Hier wollte die neue Schicht der Kapitalist/inn/en nicht so schnell auf den rettenden Schirm einer in ihrem historischen Klasseninteresse agierenden „Kommunistischen“ Partei verzichten. Sie hatte und hat bis heute die Funktion, die Klassenantagonismen in geordneten Bahnen zu halten und die Anfänge des Kapitalismus zu gestalten und zu steuern – auch um den Preis, dass die politische Bewegungsfreiheit der neuen Schicht an Kapitalist/inn/en, die ohnehin durch personelle Querverbindungen mit der Staatsbürokratie charakterisiert ist, nachhaltig eingeschränkt bleibt.
Letztlich hat sich nach dem Kollaps von 1998 auch die russische Bourgeoisie von einer schwachen Marionette wie Boris Jelzin abgewandt. Er konnte ihr nicht den Schutz gewähren, den sie zur Entfaltung benötigte. Auch in Russland hat sich die Bourgeoisie unter den Schutz eines starken Staates, repräsentiert durch Putin, begeben. Er verkörpert den Anspruch eines starken Staates und hat auch immer wieder klargemacht, dass selbst die Angehörigen der neuen Schicht an Besitzenden, wenn sie nicht bereit sind, mit den staatlichen Strukturen zu kooperieren, durchaus mit wenig zimperlichen Methoden zu rechnen haben. Als einen der ersten traf es Wladimir Gusinskij, der 1996 Jelzin zum Sieg in einer aussichtslos scheinenden Wahl verholfen und das Medienimperium Media-Most im Umfeld der ebenfalls ihm gehörigen Most-Bank aufgebaut hatte. Zu den weiteren Opfern gehörte Michail Chodorkowski, der sich im Umkreis Jelzins eine Milliarden Dollar schwere Finanz- und Firmengruppe um die Menatep-Bank aufgebaut hatte. Er konnte sich in einer Privatisierungsauktion die Aktienmehrheit des Ölunternehmens Jukos für 309 Millionen Dollar und damit weit unter dem Marktwert des Unternehmens sichern. Seit 2003 sitzt der ehemalige „Vorzeigekapitalist“ der Jelzin-Ära hinter Gittern – wegen Unterschlagung und Steuerhinterziehung am russischen Staat, also wegen Delikten, die in den 1990er Jahren durchaus übliche Methoden der Aneignung von Staatsvermögen darstellten.
Staat und Restauration
Damit wären wir auch schon beim dritten Punkt, der Rolle der Staatsapparate im Restaurationsprozess. Die Frage, die sich im Prozess der kapitalistischen Restauration stellte, war die, ob die restaurationistischen Kräfte den stalinistischen Staatsapparat säubern und „übernehmen“ könnten oder ob dieser zerschlagen werden musste.
Unsere Analyse der stalinistischen Konterrevolution geht davon aus, dass die Bürokratie den mit dem revolutionären Proletariat verwachsenen Staat in den 1920er Jahren wieder beseitigte. An die Stelle der marxistischen Perspektive des Absterbens des proletarischen „Halbstaates“ trat wieder ein Staat mit abgehobenem Beamten- und Polizeiapparat. Viele Errungenschaften, die die Revolution etwa für nationale Minderheiten oder Frauen gebracht hatte, wurden wieder beseitigt. Schrittweise wurde auf der politischen Ebene eine bürgerliche Konterrevolution durchgeführt und das Proletariat endgültig von der politischen Macht abgeschnitten. Mit ihrem bürokratisch-militärischen Apparat errichtete die Bürokratie eine Herrschaft über die Arbeiter/innen/klasse. Die stalinistische Bürokratie benützte diesen bürgerlichen Staatsapparat, um einerseits ihre Herrschaft gegenüber der Arbeiter/innen/klasse zu behaupten und zu stabilisieren. Andererseits blieben die ökonomisch-sozialen Grundstrukturen der Sowjetunion, die nachkapitalistischen Eigentums- und Produktionsverhältnisse, weiter aufrecht, obwohl von der Bürokratisierung auch die Planwirtschaft erfasst wurde. Mit der kapitalistischen Konterrevolution, so unsere seinerzeitige Analyse, musste der Staatsapparat der Bürokratie, so wie er bis 1989/1991 bestanden hatte, daher auch nicht zerschlagen werden.
Diese Beschreibung stimmt recht genau mit der realen Entwicklung überein, die die kapitalistische Konterrevolution genommen hat. Auch in der zerfallenden Sowjetunion waren wir Zeug/inn/en einer „Übernahme“ des Staatsapparates durch die restaurationistischen Kräfte und nicht einer Zerschlagung des stalinistischen Staates. Das traf nicht nur auf die Länder Osteuropas zu, sondern eben auch auf Russland und die anderen Nachfolgerepubliken der ehemaligen Sowjetunion. In aller Regel stellte sich eine Fraktion der Bürokratie an die Spitze des Restaurationsprozesses. Die Bürokrat/inn/en mussten ihre eigenen Herrschaftsformen nicht zerschlagen, sondern konnten den Prozess weitgehend mit dessen Hilfe gestalten. Natürlich mussten die unbeweglichsten Elemente, die sich den neuen Gegebenheiten nicht anpassen wollten, isoliert werden – das betraf etwa in Rumänien die Staatsspitze mit Nicolae und Elena Ceauşescu selbst. Doch in aller Regel genügte eine einfache Säuberung des Staatsapparates – meist mussten nur die höchsten Ränge der administrativen Bürokratie und der bewaffneten Kräfte neu besetzt werden, um den neuen Zielen dienen und als Garanten für die Durchsetzung der neuen Eigentumsverhältnisse fungieren zu können. Das ist sicher mit ein Grund, weshalb die Übernahme der Staatsmaschinerie mit meist recht wenig Gewaltanwendung über die Bühne gebracht werden konnte.
Die russische Variante des Restaurationsprozesses ist hier keine Ausnahme. Die erste Generation der Repräsentant/inn/en dieses Prozesses kam wie Jelzin aus der Nomenklatura. Natürlich drängten mit Fortdauer, Vertiefung und Verfeinerung der kapitalistischen Restauration nach und nach auch die neuen sozialen Kräfte, die diesen Staat ökonomisch repräsentieren, an die Spitze und trachteten auch danach, sich einen parteimäßigen Ausdruck ihrer Interessen zu schaffen. Das ist nur natürlich. Mit der Stabilisierung kapitalistischer Produktionsverhältnisse kommen daher mehr und mehr Kapitalist/inn/en, Technokrat/inn/en und Manager/innen zum Zug. So ist es sicher kein Zufall, dass nun mit Dmitri Medwedew erstmals ein Mann an der Spitze Russlands steht, der nicht aus der stalinistischen Nomenklatura kommt, sondern als Leiter und Vorsitzender des Aufsichtsrats beim führenden russischen Erdgaskonzern Gazprom die neuen ökonomischen Interessen eines in den Weltmarkt integrierten kapitalistischen Russlands schon um einiges direkter repräsentiert als ein Boris Jelzin, der sein ganzes Leben bis 1991 auf verschiedenen Posten der Bürokratie verbrachte und eine typische Parteikarriere hinter sich gebracht hatte, bevor er zum russischen Präsidenten avancierte.
Zusammenfassung
Die Restauration des Kapitalismus ist auch in Russland abgeschlossen. Allerdings ist es ein spezifischer Kapitalismus mit einer Reihe von Besonderheiten: Auf der Basis einer kapitalistischen Ökonomie richtet sich heute die russische Politik darauf aus, die staatliche Kontrolle über die Energiewirtschaft zu verstärken und private Unternehmen aus diesem Bereich zurückzudrängen. Das ist aufgrund der besonderen Bedeutung des Energiesektors für die Wirtschaft und den Finanzhaushalt Russlands auch die einzige Möglichkeit, um ein Mindestmaß an Stabilität gewährleisten zu können. Die Zerschlagung des Erdölkonzerns Jukos, die Übernahme des Ölkonzerns Sibneft durch die (halbstaatliche) Erdgasgesellschaft Gazprom, die damit ihre Geschäftstätigkeit auf den Ölbereich weiter ausbauen konnte, sind Indizien für eine spezifische Form des Kapitalismus mit einem starken staatskapitalistischen Sektor.
Das sind auch Charakteristika von Ländern wie Libyen, Syrien, China und bis vor wenigen Jahren letztlich auch Österreich, in denen sich auf der Basis einer kapitalistischen Ökonomie ebenfalls der Staat in entscheidenden Wirtschaftsbereichen einen entscheidenden Einfluss vorbehält. In Russland ist es vor allem Gazprom, das als entscheidender Eckpfeiler der staatlichen Wirtschaftspolitik fungiert und mit dem Russland seine außenpolitischen Ambitionen vorantreiben möchte: Der Konzern kontrolliert weitgehend die Gaswirtschaft. Auf Gazprom entfällt mit ca. 85 Prozent der russischen Erdgasförderung rund ein Fünftel der weltweiten Förderung. Der Konzern ist der weltweit führende Erdgasexporteur und verfügt über ein Ausfuhrmonopol.
Wir sind in den letzten beiden Jahrzehnten Zeug/inn/en einer gewaltigen sozialen und wirtschaftlichen Konterrevolution geworden. Das russische Proletariat stand vor der Alternative, über eine politische Revolution die stalinistische Kaste von der Herrschaft zu verdrängen und dadurch den Weg frei zu machen für den Aufbau einer klassenlosen Gesellschaft. Die Sowjetunion und Russland hätten hier – wie schon 1917 – als Brückenkopf für die Weltrevolution dienen können. Dafür aber war die Arbeiter/innen/klasse nach Jahrzehnten des Stalinismus und ohne revolutionäre Partei jeder sozialistischen Perspektive zu sehr entfremdet.
Die russische Gesellschaft hat sich für die zweite Möglichkeit, den Widerspruch zwischen nachkapitalistischen Produktionsverhältnissen und bürgerlichen politischen Herrschaftsstrukturen aufzulösen, also für die Rückkehr zum Kapitalismus, entschieden. Damit ist endgültig ein Zyklus zu Ende gegangen, der 1917 mit der Errichtung einer Sowjetrepublik begann und über die Bürokratisierung der proletarischen Macht und die Stabilisierung des Stalinismus zur kapitalistischen Konterrevolution führte. Die stalinistische Herrschaft hat aber nicht nur der schlussendlichen Restauration vorgearbeitet und damit dem Kapitalismus zum weltweiten Legitimationsschub der 1990er Jahre verholfen. Die Restauration des Kapitalismus in den degenerierten Arbeiter/innen/staaten hat auch wesentlich zur kapitalistischen Scheinblüte der 1990er Jahre beigetragen. Aber das Ende der stalinistischen Länder, die die Ideen des Sozialismus in den Augen ganzer Generationen so unendlich diskreditierten, hat auch ein entscheidendes positives Element: Es hat den Weg frei gemacht für einen neuen Zyklus von Massenrebellion und Arbeiter/innen/revolutionen. Diese Perspektive zu konkretisieren, das wird eine der Hauptaufgaben der revolutionären Linken und der Arbeiter/innen/bewegung in der kommenden Periode sein.
Der Teil 1 dieses Artikels, Das Ende der Sowjetunion, wurde am 1. November 2009 auf der RSO-Homepage veröffentlicht.