Am 4. Februar 2000 musste die österreichische Bundesregierung den Ballhausplatz in einem Tunnel überqueren. Rund 10.000 DemonstrantInnen machten eine andere Option nicht sehr realistisch. Was folgte, war eine der größten politischen Bewegungen der österreichischen Nachkriegszeit. Wir berichten über unseren Beitrag zu dieser Bewegung und dokumentieren Materialien der RSO-Vorläuferorganisationen…
Bereits im November 1999 wurde klar, dass Schwarz-Blau eine realistische Option für die neue Regierungsbildung sein würde. Seit 1986 war der Aufstieg der FPÖ unter Jörg Haider fast ungebremst auf Kosten beider Großparteien von statten gegangen. Vor allem die Sozialdemokratie hatte in den 1990ern versucht, durch einen immer stärker rassistischen Kurs die FPÖ auf Abstand zu halten – was allerdings voraussehbarer Weise erst recht nur der FPÖ nützte.
Gleichzeitig fühlte sich das BürgerInnentum erstmals stark genug, ohne die „roten Gfrieser“ zu regieren, wie der führende ÖVP-Kopf Andreas Khol die SPÖ nannte. Die Sozialdemokratie war bis dahin mit Ausnahme der Periode von 1966 bis 1970 in jeder Bundesregierung vertreten und stellte seit 1970, also seit fast 20 Jahren, durchgehend den Kanzler.
Die RSO-Vorläuferorganisationen AL-Antifaschistische Linke und AGM (Arbeitsgruppe Marxismus) beteiligten sich aktiv und teils führend an den Protesten. Die AL war erst kurz davor, im September 1999, gegründet worden, die AGM bestand bereits seit 1994.
Keine Koalition mit dem Rassismus?
Am 12. November 1999 gingen erstmals rund 70.000 auf die Straße. Das Motto der Demonstration: „Keine Koalition mit dem Rassismus“. Wir hielten diese Losung für sehr schwierig – zum einen waren SPÖ und ÖVP ebenfalls rassistisch, zum anderen war dies klar ein Appell an die ÖVP, es doch wieder mit der SPÖ zu versuchen. Dennoch beteiligten sich AL und AGM an der Demonstration am Wiener Stephansplatz. ImVorfeld und auf der Demo hatten wir mit der Losung „Weg mit Haider! Weg mit Schlögl“ auch den Rassismus der SPÖ und ihres Innenministers thematisiert. Die AL führte anschließend einen größeren Demoblock unmittelbar zur FPÖ-Zentrale, die damals in der Wiener Kärntner Straße lag.
In den Tagen unmittelbar vor der Regierungsangelobung wurde dann das Dach der ÖVP-Zentrale besetzt. Die BesetzerInnen wurden per Seil mit Essen versorgt, am Boden gab es immer wieder größere Solidaritätsdemonstrationen, an denen wir uns natürlich beteiligten.
Widerstand! Widerstand!
Der 4. Februar 2000 sollte schließlich in die Geschichte eingehen. Rund 10.000 DemonstrantInnen machten den Ballhausplatz zu einer No-Go-Area für die neue Regierung, sie musste unterirdisch vom Regierungssitz zur Angelobung beim Bundespräsidenten. Die Demonstration begann gegen 11h am Vormittag, die Wut war unglaublich. Es war kaum möglich, das eigene Wort zu verstehen, immer wieder der Sprechchor „Widerstand“, der zum Slogan der Bewegung werden sollte.
Teils kamen Herren im Aktenkoffer, öffneten ihn und warfen dann die darin mitgebrachten Eier. Es ist auch keineswegs sicher, ob die an diesem Tag verwendeten Uniformen der Polizei je wieder sauber wurden. Sehr hübsch auch die AL-Kleber auf den Schildern der Polizei – die dort nicht unbedingt mit Zustimmung der PolizistInnen angebracht wurden.
Am Nachmittag wurde von der Demo, die sich mittlerweile in Bewegung gesetzt hatte, das Sozialministerium besetzt – es wurde dann von der Polizei abgeriegelt, die noch im Haus befindlichen BesetzerInnen konnten das Gebäude dann aber ohne weitere Probleme wieder verlassen, während unten der Rest der Demo sie in Empfang nahm. In Folge wurden mehrere Polizeisperren abgeräumt, die DemonstrantInnen zogen weitere Stunden durch die Stadt. Um 22h schließlich trieb die Polizei mit einem Wasserwerfer die letzten hundert DemonstrantInnen auseinander.
Bemerkenswert aber, dass es an diesem Tag kaum oder keine Anzeigen gab. Offensichtlich hatte die Polizei Order, extrem zurückhaltend vorzugehen. Denn die DemonstrantInnen waren gut verankert: laut einer Umfrage in der Bundeshauptstadt Wien begrüßten dort zwei Drittel die Demonstrationen, die Stimmung war enorm radikalisiert.
Radikale Linke hat großen Einfluss
Auch in den nächsten Tagen gab es täglich Demonstrationen von tausenden, denen die Organisationen mit trotzkistischer Tradition sehr stark ihren Stempel aufdrückten. AGM, AL, ASt (heute LSR) und SLP waren an der Spitze der Demos, gemeinsam wurden die Routen der nicht angemeldeten Demos festgelegt, OrdnerInnen sorgten für den Schutz vor Polizeiübergriffen, setzten aber auch in den Teilen der Demos, wo sie Einfluss hatten, das Alkoholverbot durch.
Gemeinsames Transparent von AGM, AL, ASt und SLP
Diese Demonstrationen waren teils sehr groß. Als am 6. Februar eine Diskussionssendung des ORF vom Wiener Stephansplatz aus Angst vor Protesten kurzfristig ins ORF-Zentrum am Stadtrand verlegt wurde, marschierten rund 10.000 kurzerhand die ca. 10 Kilometer zum ORF und kamen dort nach ca. drei Stunden an. Am 12. Februar, dem Jahrestag des Aufstands der österreichischen ArbeiterInnenklasse im Jahr 1934, marschierten rund 20.000 zum Wiener Karl-Marx-Hof, dort wurde zum Abschluss die „Internationale“ angestimmt.
Und auch in den Bundesländern gab es große Mobilisierungen. In allen Landeshauptstädten gab es Demonstrationen, in Graz etwa waren tausende auf der Straße, die AL konnte dort für mehr als ein Jahr auch eine Gruppe etablieren.
Höhepunkt und Rückgang
Am 18. Februar 2000 schließlich organisierten die AL und die SchülerInnenaktionsplattform der SLP einen großen SchülerInnenstreik in Wien. Allein auf den Vorbereitungstreffen der AL waren rund 20 Schulen vertreten gewesen. Rund 10.000 SchülerInnen waren am Stephansplatz versammelt, zwei Drittel der Wiener SchülerInnen waren im Streik. Am nächsten Tag schrieb die Tageszeitung „täglich alles“ in ihrem Leitartikel, dass die AL die SchülerInnen zu „gehorsamen politischen Kindersoldaten erziehen“ würde, alle Zeitungen machten auf der Titelseite mit dem Streik auf.
Dieser nächste Tag sollte Geschichte schreiben. Bis zu 300.000 versammelten sich am 19. Februar 2000 am Wiener Heldenplatz. Mittlerweile hatte allerdings die Sozialdemokratie hinter den Kulissen eine organisierende Rolle eingenommen und viel Geld in die Infrastruktur fließen lassen, die radikale Linke konnte auf diese Demo wenig Einfluss nehmen. Dennoch marschierten zumindest 10.000 vom Wiener Westbahnhof als „linker Block“ geschlossen zur Kundgebung.
Während die AL weiter vor allem in der SchülerInnenbewegung stark verankert war, war die AGM auf der Uni sehr aktiv und beteiligte sich führend an der Besetzung des Audi-Max und der Mobilisierung für einen Streik der Studierenden – der dann aber gegen die Demobilisierung von VSStÖ, GRAS und KSV nicht durchgesetzt werden konnte.
Auch in den nächsten Wochen gab es noch zahlreiche große Demonstrationen, die Donnerstagsdemos wurden sogar noch Jahre durchgeführt. AL und AGM schätzten allerdings beide ein, dass gegen Ostern 2000 der große Schwung der Bewegung vorbei war. Beide Organisationen hatten in der Bewegung ihre Kräfte massiv aufgebaut und gingen nun daran, dies zu verarbeiten und ihre neuen AktivistInnen auf einen längerfristigen Organisationsaufbau auszurichten. Denn es war klar, dass auch Schwarz-Blau einen längeren Atem haben würde – vor allem aufgrund des völligen Versagens von Sozialdemokratie und Gewerkschaft, die nicht bereit waren, Schwarz-Blau mit einem Generalstreik aus dem Amt zu jagen, was durchaus im Bereich des Möglichen gewesen wäre.
Diese Bewegung war nicht erfolgreich in dem Sinn, dass sie es geschafft hat, Schwarz-Blau aus dem Amt zu jagen. Doch sie war allemal erfolgreich in dem Sinn, dass sie hunderttausende auf die Straße brachte. Viele von ihnen waren niemals zuvor auf der Straße gewesen, herausragend dabei etwa die Demonstration der Wiener HausmeisterInnen. Und dieses kollektive Gedächtnis des Widerstands sollten wir bewahren.
Zum Weiterlesen:
Flugschriften der AGM
Flugschrift Nummer 14, Herbst 2000 (gemeinsam herausgegeben von AL und AGM)
Zwischenbilanz der Widerstandsbewegung
Flugschrift Nummer 13, März 2000
Potenziale und Grenzen studentischer Proteste
Uni: Chronologie einer Demobilisierung
Flugschrift Nummer 12, Februar 2000
STREIK gegen die schwarz-blaue Kapitalistenregierung
Schwarz-Blau gegen die Arbeiterklasse
Perspektiven der Widerstandsbewegung gegen FPÖVP
Flugschrift Nummer 11, Oktober 1999
Wohin geht Österreich? FPÖ-Populisten: Erben der Sozialpartnerschaft
Zeitungen der AL
Die Zeitungen der AL aus dieser Zeit sind leider nur teilweise online verfügbar. Zum Ausgleich die Cover aller betreffenden Ausgaben.
Morgenrot Nr. 5
Morgenrot Nr. 6
Morgenrot Nr. 6a – PDF
Morgenrot Nr. 6b – PDF
Morgenrot Nr. 7