In seinem Artikel „Marxismus und Basisdemokratie “ bringt Stefan Horvath eine treffende Kritik an diesem in der Linken verbreitetem Konzept. Im folgenden Diskussionsbeitrag beschäftigen wir uns mit einem Teilaspekt dieser Debatte – dem imperativen Mandat.
Der Artikel „Marxismus und Basisdemokratie“ ist eine sehr gute und nützliche Auseinandersetzung mit dem, was in Teilen der Linken unter Basisdemokratie verstanden wird. Er leistet einen wichtigen Beitrag zur Debatte über politische Organisierung innerhalb der Linken und der Arbeiter/innen/bewegung. Das Hauptziel des Artikels war der Nachweis, dass, um ein demokratisches Funktionieren einer Gruppe oder einer Bewegung zu garantieren, weit mehr benötigt wird als eine Berufung auf die „Basisdemokratie“.
Zum Kampf gegen eine Gesellschaft, in der wir uns befinden und die durch Unfreiheit gekennzeichnet ist, sind Strukturen notwendig – nicht nur um erfolgreich zu sein, sondern auch, damit dieser Prozess demokratisch ablaufen kann. Was wir brauchen, so die Schlussfolgerung, ist eine Kultur des solidarischen, gemeinsamen Kampfes aller Unterdrückten, an dem real auch alle Betroffenen teilnehmen und sich einbringen können. Um dieses Ziel zu erreichen, ist wohl auch ein politischer Kampf gegen verschiedene undemokratische Vorstellungen von „Basisdemokratie“ notwendig. Diesen Zeilen sollte die volle Zustimmung gegeben werden.
Allerdings ist in einem Teilaspekt – zugegeben einem sehr kleinen – durchaus Kritik angebracht. So findet sich mehrfach ein positiver Bezug auf das „imperative Mandat“, einem Grundelement „basisdemokratischer“ Vorstellungen. Die betreffenden Stellen des Artikels lauten:
„Um wirklich demokratisch zu sein, muss eine gewählte Vertretung einige wichtige Kriterien erfüllen. In der revolutionären ArbeiterInnenbewegung haben sich im Lauf der letzten 150 Jahre folgende Punkte herauskristallisiert: 1. Das imperative Mandat: Damit ist gemeint, dass sich gewählte VertreterInnen an die Beschlüsse der Basis halten müssen und dieser jederzeit rechenschaftspflichtig sind. (…)“
Und:
„Die wichtigsten Grundprinzipien der Rätedemokratie wurden oben bereits genannt: Das imperative Mandat, die jederzeitige Abwählbarkeit von VertreterInnen und eine Transparenz ihre Entscheidungsfindungen.“
Diese Frage ist es wert, genauer behandelt werden. Dazu ein paar Gedanken.
Einleitend ist festzustellen, dass beim imperativen Mandat zwei Elemente zu unterscheiden sind. Unter imperativem Mandat wird erstens verstanden, dass Vertreter/innen kein eigenes Entscheidungsrecht in politischen Abstimmungen besitzen, sondern eine vorausgegangene Entscheidung in die Abstimmung einbringen. Folgen diese nicht der Parteilinie oder dem Willen der Wähler/innen, können sie zum zweiten jederzeit abgesetzt werden.
In den folgenden Zeilen wird ausdrücklich nicht Stellung bezogen gegen die jederzeitige Abwählbarkeit. Sie gehört in der Tat zu den „wichtigsten Grundprinzipien der Rätedemokratie“ und ist die praktische Alternative zur bürgerlichen repräsentativen Demokratie. Hier sind schon Marx und Engels völlig klar:
Im Bürgerkrieg in Frankreich hob Marx hervor, dass sich die Kommune „aus den durch allgemeines Stimmrecht in den verschiedenen Bezirken von Paris gewählten Stadträten“ gebildet habe. Diese seien „verantwortlich und jederzeit absetzbar“ gewesen. (MEW 17, S.339). Und Engels in der Einleitung zum Bürgerkrieg in Frankreich: „Die Kommune musste gleich von vornherein anerkennen, dass die Arbeiterklasse, einmal zur Herrschaft gekommen, nicht fortwirtschaften könne mit der alten Staatsmaschine; dass diese Arbeiterklasse, um nicht ihrer eignen, erst eben eroberten Herrschaft wieder verlustig zu gehn, einerseits alle die alte, bisher gegen sie selbst ausgenutzte Unterdrückungsmaschinerie beseitigen, andrerseits aber sich sichern müsse gegen ihre eignen Abgeordneten und Beamten, indem sie diese, ohne alle Ausnahme, für jederzeit absetzbar erklärte.“ (MEW 17, 623)
Das Problem liegt im zweiten Element – dass Vertreter/innen kein eigenes Entscheidungsrecht in politischen Abstimmungen besitzen, sondern eine vorausgegangene Entscheidung in die Abstimmung einzubringen haben. Schon der Einleitung zum Bürgerkrieg in Frankreich von 1891 – nur einige Zeilen nach dem obigen Zitat – distanziert sich Engels deutlich von diesem Element des imperativen Mandats, die „gebundenen Mandate“:
„Gegen diese in allen bisherigen Staaten unumgängliche Verwandlung des Staats und der Staatsorgane aus Dienern der Gesellschaft in Herren der Gesellschaft wandte die Kommune zwei unfehlbare Mittel an. Erstens besetzte sie alle Stellen, verwaltende, richtende, lehrende, durch Wahl nach allgemeinem Stimmrecht der Beteiligten, und zwar auf jederzeitigen Widerruf durch dieselben Beteiligten. Und zweitens zahlte sie für alle Dienste, hohe wie niedrige, nur den Lohn, den andre Arbeiter empfingen. Das höchste Gehalt, das sie überhaupt zahlte, war 6.000 Franken. Damit war der Stellenjägerei und dem Strebertum ein sichrer Riegel vorgeschoben, auch ohne die gebundnen Mandate bei Delegierten zu Vertretungskörpern, die noch zum Überfluss hinzugefügt wurden.“ (MEW 17, S.624)
Es stimmt zwar, dass sich bei Marx und auch bei Engels positive Bezüge auf das imperative Mandat finden lassen – nicht nur, was die jederzeitige Abwählbarkeit betrifft: Ohne Distanzierung gibt Marx die Konzeption der politischen Struktur der Kommune wieder:
„In einer kurzen Skizze der nationalen Organisation, die die Kommune nicht die Zeit hatte, weiter auszuarbeiten, heißt es ausdrücklich, dass die Kommune die politische Form selbst des kleinsten Dorfs sein, und dass das stehende Heer auf dem Lande durch eine Volksmiliz mit äußerst kurzer Dienstzeit ersetzt werden sollte. Die Landgemeinden eines jeden Bezirks sollten ihre gemeinsamen Angelegenheiten durch eine Versammlung von Abgeordneten in der Bezirkshauptstadt verwalten, und diese Bezirksversammlungen dann wieder Abgeordnete zur Nationaldelegation in Paris schicken; die Abgeordneten sollten jederzeit absetzbar und an die bestimmten Instruktionen ihrer Wähler gebunden sein.“ (Marx: Der Bürgerkrieg in Frankreich, MEW 17, S.339f.)
Im Text Ein Komplott gegen die Internationale Arbeiterassoziation sehen Marx und Engels die Frage der Gebundenheit an vorgegebene Instruktionen schon etwas anders: In der Auseinandersetzung mit den Bakunist/inn/en der „Allianz“ hatten diese versucht, mit Hilfe der Bindung ‚ihrer‘ Delegierten die Beratungen zu manipulieren. Marx und Engels sahen sich dazu veranlasst, den Versuch der bakunistischen Allianz zu kritisieren, „für ihre Delegierten ein von ihr diktiertes imperatives Mandat“ (Marx/Engels: Ein Komplott gegen die Internationale Arbeiter-Assoziation, MEW 18, S.373) zu erhalten.
Klar kommt auch Engels‘ Ablehnung des imperativen Mandats und seiner manipulativen Nutzung auf dem Haager Kongress der IAA zum Vorschein (vgl. dazu: Engels: Die imperativen Mandate auf dem Haager Kongress, MEW 18, S.171ff.). Ziel dieses Textes war eine „Darlegung der außergewöhnlichen Rolle, die die imperativen Mandate auf dem Haager Kongress ihren Trägern auferlegt haben, eine Rolle, die den absoluten Bewunderern dieser Mandate sehr gut als Lehre dienen könnte“ (MEW 18, S.171)
Die Kernpassage zeigt, dass die Polemik von Engels gegen das imperative Mandat nicht nur ein konjunkturgebundenes Element aufweist, sondern darüber hinausgeht:
„Kommen wir auf die imperativen Mandate zurück, so bleibt uns noch eine Frage zu lösen: Warum bestehen die Allianzisten, diese eingefleischten Feinde jeden Autoritätsprinzips, mit solcher Hartnäckigkeit auf der Autorität der imperativen Mandate? Weil es für eine Geheimgesellschaft wie die ihrige, die im Schoße einer öffentlichen Gesellschaft wie der Internationale besteht, nichts Bequemeres gibt wie das imperative Mandat. Die Mandate der Verbündeten werden alle identisch sein; die der Sektionen, die dem Einfluss der Allianz nicht unterworfen sind oder gegen sie rebellieren, werden einander widersprechen, so dass der Geheimgesellschaft oftmals die absolute Mehrheit und stets die relative Mehrheit gehören wird; währenddessen auf einem Kongress ohne imperative Mandate der gesunde Verstand der unabhängigen Delegierten diese bald zu einer gemeinsamen Partei gegen die Partei der Geheimgesellschaft vereinen wird. Das imperative Mandat ist ein äußerst wirksames Mittel der Beherrschung, und eben aus diesem Grunde unterstützt die Allianz ungeachtet ihres ganzen Anarchismus dessen Autorität.“ (MEW 18, S.175; unsere Hervorhebung).
So ist es auch sicher kein Zufall, dass Lenin in Staat und Revolution zwar die jederzeitige Abwählbarkeit von Delegierten fordert, das imperative Mandat jedoch nicht erwähnt wird:
„Den korrupten und verfaulten Parlamentarismus in bürgerlicher Gesellschaft ersetzt die Kommune durch Körperschaften, in denen die Freiheit des Urteils und der Beratung nicht in Betrug ausartet, denn die Parlamentarier müssen selbst arbeiten, selbst ihre Gesetze ausführen, selbst kontrollieren, was bei der Durchführung herauskommt, selbst unmittelbar vor ihren Wählern die Verantwortung tragen. Die Vertretungskörperschaften bleiben, aber den Parlamentarismus als besonderes System, als Trennung der gesetzgebenden von der vollziehenden Tätigkeit, als Vorzugsstellung für Abgeordnete gibt es hier NICHT.“ (LW 25, S.437)
Und auch an anderer Stelle fehlt das imperative Mandat als große Errungenschaft der Kommune:
„Die uneingeschränkte Wählbarkeit und die JEDERZEITIGE Absetzbarkeit ausnahmslos aller beamteten Personen, die Reduzierung ihrer Gehälter auf den gewöhnlichen ‚Arbeiterlohn‘, diese einfachen und ‚selbstverständlichen‘ demokratischen Maßnahmen, bei denen sich die Interessen der Arbeiter völlig mit denen der Mehrheit der Bauern decken, dienen gleichzeitig als Brücke, die vom Kapitalismus zum Sozialismus führt. Diese Maßnahmen betreffen die staatliche, rein politische Umgestaltung der Gesellschaft, aber sie bekommen vollen Sinn und Bedeutung selbstverständlich erst im Zusammenhang mit der in Verwirklichung oder Vorbereitung begriffenen ‚Expropriation der Expropriateure‘, d.h. mit dem Übergang des kapitalistischen Privateigentums an den Produktionsmitteln in gesellschaftliches Eigentum.“ (ebenda)
Wie sollte also unsere Position zum imperativen Mandat – konkret zur Frage der gebundenen Mandate – aussehen?
Klar unterschieden werden sollte zwischen Verwaltungsaufgaben und politischen Diskussionen. In der Verwaltung scheint tatsächlich ein gebundenes Mandat denkbar und sinnvoll. So ist auch der folgende Gedanke von Marx zu verstehen: „Die wenigen, aber wichtigen Funktionen, welche dann noch für eine Zentralregierung übrigblieben, sollten nicht, wie dies absichtlich gefälscht worden, abgeschafft, sondern an kommunale, d.h. streng verantwortliche Beamte übertragen werden.“ (Marx: Der Bürgerkrieg in Frankreich, MEW 17, S.340)
Zu bedenken ist ja, dass sich – folgen wir Lenin – in der nachrevolutionären Gesellschaft die Aufgaben der staatlichen Verwaltung stark vereinfachen werden (was wiederum, nebenbei gesagt, als Voraussetzung für ein Absterben des Staates gewertet werden kann):
„Die kapitalistische Kultur hat die Großproduktion, hat Fabriken, Eisenbahnen, Post, Telefon u.a. GESCHAFFEN, und AUF DIESER BASIS sind die meisten Funktionen der alten ‚Staatsmacht‘ so vereinfacht worden und können auf so einfache Operationen der Registrierung, Buchung und Kontrolle zurückgeführt werden, dass diese Funktionen alle Leute, die des Lesens und Schreibens kundig sind, ausüben können, so dass man sie für gewöhnlichen ‚Arbeiterlohn‘ wird leisten und ihnen jeden Schimmer eines Vorrechts, eines ‚Vorgesetztenrechts‘ wird nehmen können (und müssen).“ (LW 25, S.433)
Während in der Verwaltung gebundene Mandate, sprich dienstliche Aufträge, durchaus denkbar und auch praktizierbar erscheinen, sind die Nachteile des gebundenen Mandats in der politischen Entscheidungsfindung evident.
Wir brauchen da gar nicht zur Auseinandersetzung in der Internationalen Arbeiter-Assoziation, der Ersten Internationale, zurückgehen. Die beste praktische Widerlegung des imperativen Mandats scheint mir die Gründung der Kommunistischen Internationale zu sein. Hätte die frühe kommunistische Bewegung sich nicht über das imperative Mandat hinweggesetzt, mit dem der deutsche Delegierte Eberlein gekommen war, hätte die III. Internationale nicht gegründet werden können. Natürlich könnte eingewendet werden, dass die Argumente von Eberlein (die sich mit denen von Rosa Luxemburg deckten) richtig waren, aber das ist eine andere Diskussion.
Der entscheidende Punkt ist, dass das imperative Mandat letztlich die politische Entscheidungsfindung auf Kongressen, Konferenzen und Sitzungen verunmöglicht: Wird das gebundene Mandat ernst genommen, sind politische Entscheidungstreffen letztlich nicht mehr notwendig. Der Austausch der bereits vorliegenden und feststehenden Positionen (heute per email, früher per Post oder Telegraph) würde bereits genügen.
Delegierte auf politischen Kongressen müssen die Möglichkeit haben, politische Meinungen zu ändern und sich unter dem Druck besserer Argumente, einer breiteren Basis der Positionsfindung und einem größeren Erfahrungshorizont zu einer anderen Entscheidung durchzuringen als der, die von der entsendenden („Basis-“) Organisation getroffen wurde. Natürlich ist es die Pflicht der Delegierten, die Entscheidungen dann auch vor ihren eigenen Wähler/inne/n zu rechtfertigen. Diese müsste dann natürlich auch das Recht haben, die Delegierten mit sofortiger Wirkung von ihren Parteiämtern zu entheben und eine andere Führung mit einer alternativen Ausrichtung zu wählen.
Im Falle des deutschen Spartakusbundes wurde die Entscheidung zur Gründung der Kommunistischen Internationale, also eigentlich das Hinwegsetzen über das gebundene Mandat, über das ihre Delegierten (der neben Eberlein zweite Delegierte gelangte wegen seiner Verhaftung nicht zum Gründungskongress) verfügt hatten, in keiner Weise zur Zerreißprobe: Auch in Deutschland wurde die Gründung der Komintern schließlich begrüßt.
Letztlich schließen sich imperatives Mandat und Souveränität eines Kongresses, eines Parteitages, einer Konferenz auf der Basis von Delegiertenstimmen aus. Das scheint überhaupt das entscheidende Argument gegen das imperative Mandat zu sein: Dass die Anwendung des imperativen Mandates eine Änderung von Positionen auf Kongressen verhindern soll und damit zur Verkrustung von politischen Organisationen und zur Erstarrung politischer Strukturen beitragen muss.
Wir sollten ein anderes Modell bevorzugen: Delegierte sollten klarerweise rechenschaftspflichtig gegenüber ihrer Basis sein, aber gleichzeitig müssen Delegierte das Recht und die Möglichkeit haben, auf Konferenzen und Kongressen, ja auch auf „gewöhnlichen“ Sitzungen, auf denen weniger entscheidende Fragen abgestimmt werden, dynamische Prozesse mitzuvollziehen. Damit aber sollten wir auch klar Mittel und Methoden, wie das imperative Mandat, auf die Bereiche, in denen es (wie in der Verwaltung) durchaus Sinn macht, begrenzen.