Am 23. November haben in Frankreich erneut Zehntausende gegen die Pensionskürzungen der Regierung Sarkozy demonstriert. Dennoch ist die Bewegung im Niedergang. Zur Bilanz der bisherigen Mobilisierungen und den weiteren Perspektiven ein Bericht aus Frankreich.
Nach Gewerkschaftsangaben sind in ganz Frankreich 52.000 Menschen auf die Strasse gegangen, um erneut gegen die Erhöhung des Pensionsantrittsalters und der notwendigen Beitragsjahre zu protestieren. In Paris sollen es 10.000 gewesen sein, was sicherlich etwas übertrieben ist. An der Spitze ging der Block des von der stalinistischen PCF dominierten Gewerkschaftsdachverbandes CGT, dann kleinere Blöcke des sozialdemokratischen Dachverbandes CFDT und der vor allem im öffentlichen Dienst vertretenen Gewerkschaft SUD. Nach den Gewerkschaften folgen traditionell die Blöcke der politischen Organisationen, diesmal allerdings nur von der trotzkistischen Lutte Ouvriere (LO) und der linkssozialdemokratischen Parti de Gauche (PdG); weder die PCF noch die linkspluralistische NPA waren mit einem Block vertreten.
Jedenfalls lag die Zahl der Demonstrierenden deutlich unter den zwei bis drei Millionen, die (nach Gewerkschaftsangaben) noch vor einigen Wochen auf der Straße waren. Auch wenn es sich erneut um substantielle Demos handelte, so kann nicht geleugnet werden, dass sich die Bewegung im Niedergang befindet. Auch von Streiks war dieser letzte Aktionstag kaum mehr begleitet. Wie kann diese Entwicklung eingeschätzt werden?
Die bisherige Bewegung
In der Bewegung der letzten Wochen hat die reformistische und bürokratische CGT-Fuehrung erstmals seit den Streiks von 1995 einigermassen für die Ausdehnung und das Durchhalten des Streiks gearbeitet. Das hat mehrere Gründe: Erstens hat die Regierung Sarkozy die „Pensionsreform“ ohne Verhandlungen mit den Gewerkschaften dekretiert, was die ureigensten Interessen der Gewerkschaftsbürokratien verletzte. Zweitens gab es einen starken Druck der CGT-BasisaktivistInnen, der untersten Funktionärsebene der CGT. Und drittens war die Stimmung in der ArbeiterInnenklasse so, dass die CGT-Fuehrung keine „Eskalation“ fürchten musste.
Tatsächlich war von Anfang an spürbar, dass erhebliche Teile der ArbeiterInnenklasse skeptisch waren, nicht wirklich an einen möglichen Erfolg glaubten und davon ausgingen, dass Sarkozy die Kürzungen sowieso durchziehen werde. Die Streikbeteiligung war in der Folge sehr unterschiedlich:
Generell liefen, wie stets in den letzten Jahren, die Mobilisierungen im Grossraum Paris deutlich schlechter als in der Provinz; besonders gut waren sie etwa in Marseille. Einen wirklich konsequenten Streik gab es nur in den Raffinerien, wo wochenlang nicht gearbeitet wurde. Einigermassen gut lief es auch noch bei der Bahn (SNCF).
Aber selbst bei der Pariser Metro gab es kaum einen Streik und in der Privatindustrie ist es ohnehin immer schwerer. Obwohl diesmal die Mehrheit der Demonstrierenden aus dem Privatsektor kamen, konnte auch in vielen Grossbetrieben kein konsequenter Streik durchgesetzt werden. Oft gab es in den Belegschaften starke Sympathie für die Streiks und Blockaden, sie waren aber in vielen Fällen selbst mehrheitlich nicht zum Streik bereit. Beispielsweise gingen im Flugzeugmotorenwerk SNECMA Villaroche nur 400 von 4.000 Beschaeäftigten auf die Demonstration, obwohl die im Betrieb vorhandenen AktivistInnen von Lutte Ouvriere und auch die betriebliche CGT-Führung massiv dafür geworben hatten.
Ergebnisse
Das Positive an der Bewegung war, dass landesweit 30.000-50.000 AktivistInnen wochenlang systematisch für den Streik gearbeitet haben. Das waren vor allem die CGT-BasisaktivistInnen gemeinsam mit revolutionären AktivistInnen; das sind in den Grossbetrieben vor allem die Mitglieder und SympathisantInnen von Lutte Ouvriere, die während der Bewegung ihre hunderten Betriebszeitungen, die üblicherweise alle zwei Wochen erscheinen, auf einen wöchentlichen Rhythmus umgestellt haben.
Die CGT-Führung hat erstmals ihren Basisfunktionären weitgehend freie Hand gelassen, wirklich für den Streik zu arbeiten. Dabei muss auch angemerkt werden, dass die CGT nicht mehr so monolithisch ist wie früher; neben sozialdemokratisierten BürokratInnen gibt es auch viele ehrliche klassenkämpferisch-syndikalistische BasisfunktionärInnen. Und in immer mehr Großbetrieben muss die CGT mittlerweile froh sein, dass die Lutte Ouvriere da verankert ist, weil es sonst – aus Mangel an PCF-nahen AktivistInnen – im jeweiligen Betrieb keine CGT mehr gaebe. So wird in wichtigen Großindustrien wie bei Citroen-Peugeot in Aulnay (Region Paris), im Toyota-Werk in Nordfrankreich oder bei General Motors in Straßburg die CGT von AktivistInnen der Lutte Ouvriere geführt. Jedenfalls gab es in der aktuellen Bewegung in vielen Betrieben eine konstruktive Zusammenarbeit zwischen Lutte Ouvriere und CGT-BasisaktivistInnen.
Da es dennoch nicht gelang, die Bewegung ausreichend zu verbreitern, trat an einem Punkt das grundlegende Gesetz in Kraft: Eine Bewegung, die nicht voran geht, geht zurück. Das Ergebnis ist bis auf Weiteres eine Niederlage. Die massiven Pensionskürzungen sind durch. Die Bewegung konnte den Angriff der rechten Regierung nicht aufhalten.
So manche inaktive ArbeiterInnen fühlen sich bestärkt und sagen, „seht ihr, das Ganze hat ja nichts gebracht“. Auch manche AktivistInnen sind enttäuscht, vor allem über die Streikbeteiligung. Aber viele AktivistInnen und auch ArbeiterInnen in den Betrieben sehen die Bewegung dennoch positiv und meinen, dass es gut war, dass sie etwas gemacht haben, dass sie sich gewehrt haben. Es gab auch eine Schicht von Lohnabhängigen; die neu oder wieder aktiv geworden ist. Und es ist durchaus möglich, dass es in der nächsten Phase verstärkt zu Streiks kommen wird.
Regierungskrise
Auch wenn die Pensionskürzungen nicht abgewehrt werden konnten, so hat die Bewegung der letzten Wochen immerhin die Krise der rechten Regierung deutlich verschärft. Sarkozy und seine Clique sind extrem verhasst unter den Lohnabhängigen – aber auch in großen Teilen der kleinbürgerlichen Schichten.
Sarkozy steht für eine aggressive und arrogante Rechte. Den Gewerkschaften wurde ausgerichtet, dass sie nicht notwendig seien und nicht mehr gefragt würden. Sarkozy demonstrierte offen seine Gleichgültigkeit über die Kündigung von ArbeiterInnen. Es gab keine pseudosoziale Rhetorik mehr wie bei der klassischen Rechten a la Chirac. Stattdessen umgab sich Sarkozy ständig provokativ mit seinen MilliardärsfreundInnen.
Er war ohnehin schon angeschlagen durch den so genannten Bettencourt-Skandal, also die Finanzflüsse von der reichsten Frau Frankreichs, der Besitzerin des L’Oreal-Konzerns, zu Sarkozy und seiner Clique (die Gegengeschäfte sind Steuerbegünstigungen für die Superreichen). Jetzt kam noch die wochenlange Bewegung gegen die Pensionsreform, die den Hass auf Sarkozy weiter steigerte dazu. Und jetzt gibt es auch noch den so genannten Karatschi-Skandal: Schmiergelder, die pakistanischen Militärs für einen U-Boot-Auftrag von Frankreich versprochen waren; haben sich offenbar Sarkozy und seine Clique selbst eingestreift. Als Revanche wurden in Pakistan französische U-Boot-Techniker ermordet; die Hinterbliebenen und JournalistInnen klagen nun die Regierung an.
Dass diverse Skandale über die bürgerlichen Medien prominent an die Öffentlichkeit gelangen, ist natürlich auch Ausdruck davon, dass Teile der Rechten mit dem Kurs der Regierung unzufrieden sind. Vertreten wird dieser Fluegel der Rechten und der herrschenden Klasse aktuell durch den ehemaligen Minister Villepin. Er kritisierte seit langem das arrogante Auftreten von Sarkozy, ist für eine stärkere Einbindung der Gewerkschaften in den politischen Prozess und hat davor gewarnt, dass das Agieren von Sarkozy womöglich noch zu einer Revolution führen werde.
Wie weiter?
Die Situation kann in gewisser Weise mit der in Österreich vor einigen Jahren verglichen werden, als (nach den scharfen Angriffen der Schüssel-Grasser-Clique) der KapitalistInnenklasse wieder an einer gewissen Beruhigung der Lage interessiert war. Zu diesem Zweck wurde das politische Personal der Rechten ausgewechselt; Onkel und Neffe Pröll repräsentieren diesen integrativeren Kurs. Die Frage ist allerdings, ob die Weltwirtschaftskrise den Raum für einen solchen Kurswechsel lässt.
Wenn in Frankreich der Villepin-Flügel die Regierung übernehmen sollte, würden natürlich diverse Angriffe der Sarkozy-Kabinette aufrecht bleiben; diese Erfolge gibt die Bourgeoisie freiwillig nicht mehr her. Und auch wenn die Konservativen bei den nächsten Wahlen abgewählt würden, besteht die Gefahr, dass vor allem die Sozialdemokratie einerseits und der rechtsextreme Front National profitieren. Viele KleinbürgerInnen, die von den korrupten Konservativen enttäuscht sind, plus etliche rassistisch verhetzte Lohnabhängige würden wohl für Le Pen stimmen, die Mehrheit der ArbeiterInnen mit zugehaltener Nase wieder ihr Kreuz bei der SP machen, um Sarkozy los zu werden.
Die SP an der Regierung würde wohl den Großteil der Kürzungen der Sarkozy-Regierungen aufrecht lassen und die arbeiterInnenfeindliche neoliberale Politik im Wesentlichen fortsetzen. Für die ArbeiterInnenklasse wird sich dadurch kaum etwas ändern. Die zentralen Fragen werden aber ohnehin im Klassenkampf entschieden, in den Streiks und anderen Kämpfen in der nächsten Phase – und zwar insbesondere in den großen Betrieben, wo die herrschende Klasse im Mark, nämlich bei den Profiten, getroffen werden kann. Der Ausgang dieser Kämpfe wird davon abhängen, wie weit es den revolutionären Kräften in den Betrieben gelingt, darin eine zentrale Rolle zu spielen.