Die Proteste gegen die Krise sind nun auch in den USA angekommen. In den letzten Wochen ist dort eine Bewegung gegen die Macht des (Finanz)Kapitals und allgemein gegen die Auswirkungen der Krise entstanden. Eine Einschätzung.
Was vor mittlerweile rund vier Wochen mit Demonstrationen und der Besetzung eines Parks nahe des New Yorker Börsenareals „Wall Street“ begann, hat sich mittlerweile zu einer landesweiten Bewegung entwickelt. In mehreren hundert Städten des Landes wurden „Protestcamps“ errichtet, d.h. in der Regel öffentliche Plätze „besetzt“ und es fanden Demonstrationen mit insgesamt mehreren zehntausend Beteiligten statt.
„Wir sind 99%!“
Dass die Proteste ihren Ausgang im New Yorker Finanzdistrikt nahmen, ist kein Zufall: von Beginn an richteten sich die Proteste gegen die Macht der „Wall Street“, die symbolisch für Finanzkapital und Banken steht. Daher auch der Name der Bewegung: „Occupy Wall Street“, also „Besetzt die Wall Street“ oder „Wall Street besetzen“.
Die Wut gilt jedoch nicht isoliert den Finanzmärkten und Banken, sondern allgemein der Ungleichverteilung des Reichtums und der Abwälzung der Krisenlast auf die nichtprivilegierte Mehrheit der Bevölkerung. So war immer wieder zu lesen und zu hören: „Wir sind 99%!“ Kritisiert wurde damit, dass das restliche eine Prozent der Bevölkerung 99% des Reichtums besitzt und die Politik bestimmt, während der Großteil arm ist und nichts zu sagen hat.
Den Herrschenden passt das natürlich gar nicht in den Kram. Als Reaktion wurden etwa in New York City rund 700 Menschen verhaftet, weil sie während einer Demonstration die Fahrbahn auf der Brooklyn Bridge betreten und in Folge den Verkehr blockiert hatten (In New York dürfen Demonstrationen nur am Gehweg stattfinden, DemonstrantInnen meinen, dass sie hier bewusst in eine Falle gelockt wurden) . Und auch aus zahlreichen anderen Städten wird von Repression und Verhaftungen berichtet. Die Medien tun mit Verunglimpfungen bzw. Totschweigen der wirklichen Ausmaße der Bewegung ihr Übriges dazu.
Internationale Proteste als Vorbild
Beeinflusst wurden die Proteste in den USA, sowohl in ihrer Entstehung als auch in ihrem Charakter, zweifellos vom „Arabischen Frühling“ und den Protesten in Europa während der letzten Monate (besonders in Spanien und Griechenland). Daran können wir sehen, dass Revolten in einzelnen Ländern nicht nur dort wirken, sondern anderen Unterdrückten weltweit Mut machen und als Anstoß und Vorbild gelten (können). Dabei wurden auch Anleihen an einigen Charakteristika dieser Proteste genommen. Ähnlich wie am Tahrir-Platz im ägyptischen Kairo, am Syntagma-Platz in Athen oder der Puerta del Sol in Madrid wurden auch in den USA öffentliche Plätze „besetzt“ und Protestcamps errichtet. Ebenso können wir das Fehlen einer zentralen Führung der Bewegung und die wichtige Rolle „neuer“ Medien, besonders des Internets, feststellen.
Weiters stellen sich bzw. stehen die Proteste auch in Zusammenhang mit dem internationalen Aktionstag am 15. Oktober. An diesem Tag sind, inspiriert von der spanischen Bewegung des 15. Mai, in diversen Städten rund um den Globus Aktionen und Besetzungen geplant. Dieses Verhältnis zu Protestbewegungen in anderen Ländern stellt sicherlich einen sehr positiven Aspekt dar. Dadurch wird verdeutlicht, dass die kapitalistische Krise eine globale ist und die Unterdrückten weltweit im gleichen Boot sitzen. Die Antwort kann daher auch nur eine internationalistische sein.
Gewerkschaften und Demokratische Partei
Einige nicht unbedeutende Gewerkschaften, besonders in New York City, haben sich positiv über die Wall Street-Proteste geäußert und sie teilweise unterstützt. Jedoch wurden – typisch für die Gewerkschaftsbürokratie – keine Kampfmaßnahmen, wie etwa Streiks, durchgeführt. Ihre „Unterstützung“ lief hauptsächlich auf die Teilnahme einiger BürokratInnen an Demonstrationen hinaus. Diese Möglichkeit nutzten sie auch gleich dazu, für die Demokratische Partei, mit der die Gewerkschaften traditionell verbunden sind, Werbung zu machen. Bis zu einem gewissen Grad sehen sich die Gewerkschaften wohl aber auch unter Zugzwang, dem Unmut an der Basis ein Ventil zu bieten.
Neben den Gewerkschaften versucht auch die Demokratische Partei Vorteile aus der Bewegung zu ziehen. So meinte etwas Präsident Obama, dass er die Frustration der Menschen verstehen könne. So nebenbei: in einem Jahr stehen Präsidentschaftswahlen in den USA an. Teile des „linken“ (bzw. gemäßigteren) Flügels der Demokraten versuchen nun die Proteste zu vereinnahmen und die Wut gegen die Republikanische Partei, die ganz offen für die Interessen der Superreichen steht, zu lenken.
Dabei ist natürlich Vorsicht geboten, kommt doch ein wesentlicher Teil der Spenden für Obamas Wahlkampfkampagne von der Wall Street. Und mit den eigenen Finanziers und Verbündeten will man es sich natürlich nicht verscherzen. Von der Demokratischen Partei ist also auf keinen Fall eine progressive Kehrtwende zu erwarten. Wir haben es in den USA schlicht mit einem System zu tun, wo sich zwei bürgerlich-kapitalistische Parteien, die sich in einigen Nuancen unterscheiden, an der Regierung ablösen.
„Die“ AmerikanerInnen?
Die Proteste bieten die praktische Möglichkeit, das Bild „der USA“, als Land voller kriegsbegeisterter und patriotischer IdiotInnen, in Frage zu stellen. Denn wir sehen: auch dort leiden die Menschen unter den Folgen der Krise und die Unterdrückten beginnen sich zu wehren. Anti-amerikanische Stimmungen, wie es sie in der europäischen Öffentlichkeit und auch in Teilen der Linken, vermehrt seit dem Afghanistan- und Irakkrieg, gegeben hat, werden es nun hoffentlich schwieriger haben. Unsere Solidarität gilt all jenen, die kämpfen und sich, trotz staatlicher Repressalien, nicht unterkriegen lassen, egal aus welchem Land sie stammen bzw. in welchem Land sie kämpfen.
Wie kann diese Bewegung aber nun eingeschätzt werden? Wo sind ihre Stärken und Schwächen? Was können wir für die nächste Zeit erwarten?
Die Revolten zeigen jedenfalls, dass immer mehr Menschen die Auswirkungen der Krise in vielen Ländern am eigenen Leib spüren. Ebenso wird dem Märchen, dass kein Geld da wäre und daher gespart werden müsse, immer weniger Glauben geschenkt. Trotz all dieser positiven Aspekte, braucht es jedoch eine realistische Einschätzung – auch der Schwächen.
Bewegungen weltweit
Die Bezugnahme auf und der Vergleich mit anderen Protesten des letzten Jahres („Arabischer Frühling“, Griechenland, Spanien…) ist nur teilweise stimmig. Natürlich stehen alle Bewegungen in Zusammenhang mit der Krise und teilweise sind auch ähnliche Charakteristika zu beobachten (zu Beginn spontaner Charakter, Internet und Handy wichtig für Organisierung, „Besetzungen“ öffentlicher Plätze…). Es gibt aber auch Unterschiede. So waren/sind die Revolten in der arabischen Welt und in Griechenland weit mehr von Lohnabhängigen getragen, haben einen weitreichenderen Charakter und sind (vor allem auch aufgrund der objektiven Umstände) weitaus zugespitzter.
In einem zentralen Punkt unterscheiden sich all diese Revolten von jenen in Griechenland: dem weitgehenden Fehlen einer organisierten, in der ArbeiterInnenklasse verankerten radikalen Linken. Und auch wenn Teile der Bewegungen gerade darauf stolz sind, liegt doch gerade darin ihre zentrale Schwäche. Daraus ergibt sich, ähnlich wie bei den Protesten in Spanien, eine gewisse politische Hilflosigkeit.
Wall Street besetzen?!
Ein zentraler Slogan, schon zu Beginn der Bewegung – „Occupy Wall Street“ – hat eine durchaus weitreichende und radikale Stoßrichtung. Allerdings wurden real statt der Wall Street nur Parks und öffentliche Plätze „besetzt“. Das zeigt auch, wie klein die Bewegung real ist. Denn natürlich könnten einige hundert Menschen nicht erfolgreich die New Yorker Börse besetzen. In diesem Zusammenhang müssen wir auch die Relationen bewahren. Einige tausend DemonstrantInnen im Großraum New York mit seinen über 10 Millionen EinwohnerInnen sind eine verschwindend geringe Zahl.
Symbolisch mag die Wall Street auch sehr gut geeignet sein, um öffentliches Bewusstsein zu erzeugen. Aber allein ist das zu wenig. Denn dort kommen eher BankerInnen und TouristInnen, Lohnabhängige aus Brooklyn oder anderen ArbeiterInnenbezirken werden dort nicht zu finden sein. In engem Zusammenhang damit können wir weiters die fehlende Verbindung mit einer kämpfenden ArbeiterInnenklasse, die mit Massenstreiks und Betriebsbesetzungen richtig Druck machen kann, feststellen – die natürlich mit der Schwäche der Linken in Zusammenhang steht. Denn gute Ideen alleine bringen auch noch keinen Erfolg.
Wichtig wäre, die aktuelle Bewegung mit den Kämpfen zu verbinden, die es aktuell in einigen US-Bundesstaaten gibt. So gab es in Wisconsin im Frühjahr eine breite Bewegung gegen gewerkschaftsfeindliche Gesetze, wo das Landesparlament über Wochen besetzt wurde. Aktuell stehen in ähnliche Gesetze in einigen anderen Bundesstaaten zur Debatte. In Kalifornien gibt es aktuell Streiks in der größten Krankenhauskette, Kaisers, an denen rund 20.000 KollegInnen beteiligt sind und im Bundesstaat Washington haben KollegInnen im September einen ganzen Hafenterminal besetzt. Das sind nur einige Beispiele für wichtige Kämpfe, wo Occupy Wall Street Anknüpfungspunkte hat.
Der Traum ist aus!
Eine große Schwäche sehen wir in einem zentralen Slogan der Bewegung in den USA, nämlich „reclaim the american dream“, also die Rückforderung des „Amerikanischen Traums“. Hier wird auf eine angeblich gute alte Zeit zurückgegriffen, wo alle es schaffen konnten. Es stimmt natürlich, dass der Wohlstand in den USA vor dreißig Jahren weit breiter verteilt wahr, dennoch ist der „Amerikanische Traum“ nichts anderes als eine Ellenbogen-Gesellschaft, in der es angeblich jede/r schaffen könne, wenn er/sie nur hart genug arbeiten würde. Kapitalismus-Kritik bleibt da außen vor und im Gegenzug kann sich die Demokratische Partei gut wieder finden.
Charakter und Slogans der Proteste sind somit der allgemeinen Schwäche linksradikaler Organisationen und Ideen geschuldet. Wir können hier aber auch sehen, dass Menschen trotzdem beginnen sich zu wehren. Das passiert oft neben und zum Teil auch gegen organisierte Kräfte der Linken. Dieser Widerstand bleibt dabei jedoch oft relativ plan- und ziellos und läuft Gefahr in relativ kurzer Zeit zu verpuffen. Man sollte also aus dieser Not keine Tugend machen und die „Heterogenität“ und „Ideologiefreiheit“ der Bewegung für gut befinden. Das ändert jedoch nichts daran, dass viele Leute zum ersten Mal an Protesten teilnehmen und dort Solidarität, Widerständigkeit, Polizeirepression… erleben.
Falsch wäre es jedoch, vor lauter Freude, dass sich irgendwas bewegt, sich diesen Schwächen anzupassen oder sie herunterzuspielen. Und auch das Verbreiten von überzogenen Hoffnungen, dass die Weltrevolution unmittelbar vor der Tür stünde, hat zu guter Letzt immer nur zu Enttäuschungen und Resignation geführt.
Wie weiter?
Natürlich wird es auch nicht ausreichen, wenn die organisierte radikale Linke die richtigen Konzepte an diese Bewegungen heranträgt. Und ihre Schwäche wird sicherlich nicht dadurch gelöst werden, dass man sich durch geschicktes Agieren zur vermeintlichen Führung der Bewegung macht. Der Schlüssel zum Erfolg liegt letztlich in der Ausbreitung und Vertiefung des Widerstands in die Reihen der ArbeiterInnenklasse mit Streiks, Besetzungen und Massenprotesten. Um das zu erreichen ist jedoch eine grundsätzliche und langfristige Politik der Verankerung in ihren Reihen notwendig.
Die aktuellen Proteste können uns dabei einen guten Anknüpfungspunkt liefern. Sie zeigen, dass die Unterdrückten weltweit unter dem Kapitalismus und seinen Krisen zu leiden haben, aber auch, dass sie sich beginnen zu wehren.
Pariser Kommune von 1871 – "Alles besetzen!"
Zum Weiterlesen:
Gesammelte Artikel der RSO zu den USA
http://www.sozialismus.net//content/blogcategory/183/213/