„Wir haben über unsere Verhältnisse gelebt“. Kein Leitartikel und keine PolitikerInnen-Rede ohne diesen Satz. KapitalistInnen, PolitikerInnen und bürgerlichen Medien arbeiten derzeit auf Hochdruck daran, die Krise der kapitalistischen Weltwirtschaft in eine „Staatsschuldenkrise“ umzudeuten. Aber ist es überhaupt möglich, über die Verhältnisse zu leben? Und wer lebt über welche Verhältnisse?
Wenn die VertreterInnen des kapitalistischen Establishments davon reden, dass „wir“ über „unsere“ Verhältnisse gelebt hätten, vermitteln sie den Eindruck, als hätte eine ganze Gesellschaft zu viel konsumiert. Doch das ist natürlich physikalisch unmöglich, denn jede Ware und jede Dienstleistung, die irgendwo verkauft wurde, wurde ja ganz real produziert. FriseurInnen haben uns ganz real die Haare geschnitten, wir haben im Supermarkt ganz reales Klopapier und in der Bäckerei ganz reales Brot gekauft.
Über die Verhältnisse leben, dass können nur Teile der Gesellschaft. Etwa private Haushalte, indem sie bei Banken Kredite aufnehmen, um Wohnungen, Autos oder was auch immer kaufen zu können. Mit Geld, das sie eigentlich nicht haben und vielleicht auch nie haben werden. Und natürlich nehmen auch Staaten Schulden auf, um damit etwa Sozialleistungen zu finanzieren. Sie machen diese Schulden bei Privaten, beispielsweise, in dem sie Staatsanleihen ausgeben, die dann von InvestorInnen gekauft werden.
Schulden und Guthaben
Nun hat etwa die Bundesrepublik Deutschland 1795 Mrd. Euro Schulden. Auf der anderen Seite existieren in Deutschland private Geldvermögen von 4970 Mrd. Euro. In Österreich hat der Staat 217 Mrd. Euro Schulden. Demgegenüber stehen private Geldvermögen von ca. 460 Mrd. Euro. Wie gesagt, hier handelt es sich nur um Geldvermögen. Würden Immobilien, Grundbesitz etc. noch dazu gerechnet, beliefe sich die Summe allein für Österreich laut Arbeiterkammer auf 1300 Mrd. Euro. Gleichzeitig wissen wir, dass nur 10% der ÖsterreicherInnen rund 54% des Geldvermögens und 60% des Gesamtvermögens besitzen (Zahlen der Nationalbank). Ähnliches gilt für Deutschland.
Diesen in sehr wenigen Händen verteilten enormen Reichtum wollen die Mächtigen aber nicht angreifen. Wenn sie davon reden, dass „wir“ über „unsere“ Verhältnisse gelebt hätten und nun sparen müssten, dann meinen sie nicht alle, sondern sie meinen uns: Uns Lohnabhängige. Uns ginge es zu gut, wir hätten zu wenig gearbeitet, zu viel konsumiert und würden uns viel zu früh in den Ruhestand begeben. „Die Zeit des Massenwohlstands ist vorbei“ posaunt die „ZEIT“ vom 14.12. in die Welt hinaus.
Die Verhältnisse, über die „wir“ die letzten Jahre angeblich gelebt hätten, sehen für Österreich folgendermaßen aus:
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Die Realeinkommen der einkommensschwächsten 20 % aller ArbeitnehmerInnen sind von 1995 bis 2008 um – 25 % gesunken. (Das Realeinkommen ist das um die Inflation bereinigte Nominaleinkommen und spiegelt die Kaufkraft der Einkommen wieder – Sozialbericht 2009-2010)
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Eine jüngst veröffentlichte Studie der Arbeiterkammer OÖ kommt zum Ergebnis, dass seit dem EU-Beitritt Österreichs die durchschnittlichen Netto-Reallöhne je ArbeitnehmerIn um 0,5% gesunken sind, während im selben Zeitraum die Wirtschaftsleistung je Erwerbstätigen/r um fast 24% gestiegen ist. Durch diese Abkoppelung der Löhne und Gehälter von der Wirtschaftsleistung haben die abhängig Beschäftigten seit 1994 110 Milliarden Euro verloren.
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Die Zahl der manifest Armen hat 2010 den bisherigen Höchststand erreicht: Laut Statistik Austria war für eine halbe Million Menschen der absolute Mindestlebensstandard nicht mehr leistbar. Insgesamt sind rund zwölf Prozent der Bevölkerung oder rund eine Million Menschen in Österreich armutsgefährdet.
Gleichzeitig sind die Reichen immer reicher geworden und die Produktivität der Wirtschaft stieg immer mehr. In Wirklichkeit haben wir also UNTER unsere Verhältnisse gelebt. Soll heißen: Wir schaffen mit unserer Arbeit immer größeren Reichtum, der Anteil, den wir davon abkommmen, wird aber immer kleiner.
Ein größeres Stück vom Kuchen?
ReformistInnen von Sozialdemokratie bis ATTAC fordern nun, dass die Reichen – etwa über Vermögenssteuern – „einen größeren Beitrag leisten“ sollen. Anstatt sich über Alternativen zum kapitalistischen Chaos Gedanken zu machen, sorgen sie sich darum, wie dieses überholte System zu retten wäre.
Neoliberale kontern dann damit, dass bei höheren Steuern InvestorInnen und Unternehmen ihr Kapital in ein anderes Land abziehen würden. Und sie haben sehr oft Recht damit.
Denn sie denken die kapitalistische Logik konsequent zu Ende, während ReformistInnen auf halben Weg stehen bleiben. Und so enden die ReformistInnen schlussendlich darin, ÄrztInnen am Krankenbett des Kapitalismus zu werden und greifen schließlich selbst zum Rotstift aus Mangel an Alternativen innerhalb des Systems.
Wir wollen die Bäckerei!
Verstehen wir uns nicht falsch: Jede kleine Vermögenssteuer ist besser als gar keine. Jede kleine Verbesserung der Lage der Lohnabhängigen ist zu begrüßen. Nur leider ändern solche Reformen und Reförmchen nichts an den grundlegenden Mechanismen des kapitalistischen Systems. Wer sich auf die Logik des Kapitalismus einlässt, hat bereits verloren. Doch wir wollen nicht ihr System retten. Sondern wir wollen endlich in den Verhältnissen leben, die wir erarbeitet und verdient haben!