Die Ukraine im Umsturz

In den letzten Tagen haben sich die Ereignisse in der Ukraine überschlagen. Ein Präsident, der vor wenigen Monaten noch fest im Sattel saß, wurde von einer Massenbewegung hinweggefegt. Ein Grund zum Jubeln?

Gleich vorweg: Für eine kleine Organisation wie die unsrige, ohne direkte Kontakte in die Ukraine, ist die genaue Situation vor Ort zugegebenermaßen schwer einzuschätzen. Wir können hier nur einige allgemeine Entwicklungen beschreiben und uns dazu positionieren.

Eine politische Revolution

Der Umsturz in Kiew muss wohl als politische Revolution beschrieben werden. Unter dem Druck einer außerparlamentarischen Massenbewegung tritt ein Präsident die Flucht an, Minister treten reihenweise zurück und immer mehr Abgeordnete der regierenden „Partei der Regionen“ treten aus und verlassen wie Ratten das sinkende Schiff. Gleichzeitig zeigt der Staatsapparat massive Zerfallserscheinungen indem sich die Armee neutral zurückhält und die Polizei der Hauptstadt zu den Demonstrant_innen überläuft.

Ist eine Revolution stets ein längerer und umfassender Prozess, so war der schiere Akt der Machtübernahme auch hier eine relativ konzentrierte Aktion. An einem Tag haben die Protestierenden mittels bewaffneter Einheiten Schritt für Schritt ein Regierungsgebäude nach dem anderen eingenommen, Straßensperren errichtet und die Kontrolle über die Hauptstadt übernommen. Die dominanten Kräfte vom Maidan, dem zentralen Platz in Kiew, wussten, wie ein Umsturz zu machen ist. Ihnen war klar, dass die beste Verteidigung gegen ein gewalttätiges Regime mitunter darin liegt, selbst in die Offensive zu gehen.

Die oppositionellen Kräfte

Eine Massenbewegung stürzt eine autoritäre und korrupte Regierung – ist das nicht ein Grund zum Jubeln? Nicht zwangsläufig. Denn wie sieht es mit dem sozialen und politischen Charakter der Protestbewegung aus? Welche Ziele verfolgen die Demonstrant_innen vom Maidan? Und was wollen die berühmten Köpfe der Opposition wie Julia Timoschenko und Vitali Klitschko?

Auffallend ist, dass die Arbeiter_innenklasse als organisierte Kraft in dieser Bewegung ziemlich passiv blieb. Es gab keine Streiks oder Betriebsbesetzungen, von einem landesweiten Generalstreik ganz zu schweigen. Das mehrheitlich im russischsprachigen Osten des Landes konzentrierte industrielle Proletariat dürfe wohl eher nur wenig Sympathien für die Maidan-Bewegung haben.

Das heißt natürlich nicht, dass in der Bewegung keine Arbeiter_innen aktiv wären. Aber eben nicht als organisierte Kraft, sondern als Individuen oder Teil bürgerlicher bzw. rechter Parteien. Stark vertreten dürften nach verschiedenen Berichten auch Arbeitslose, verarmte Selbständige und Student_innen ohne Job-Perspektive sein. Und legitime Gründe zu protestieren gab bzw. gibt es in der Ukraine zu Genüge.

Auf der Ebene der offiziellen Politik setzt sich die bisherige ukrainische Opposition aus drei verschiedenen rechten/bürgerlichen Parteien zusammen: Die von der konservativen Konrad-Adenauer-Stiftung unterstützte UDAR mit dem ehemaligen Profiboxer Vitali Klitschko an der Spitze, die Vaterlandspartei von Julia Timoschenko und dem früheren Parlamentspräsidenten Arsenij Jazenjuk, die Beobachterstatus in der Europäischen Volkspartei hat, sowie die rechtsextrem bis faschistische Swoboda-Partei (zu den Begriffen Faschismus und Rechtsextremismus).

Einfluss der Rechtsextremen

Während die meisten großen Medien in Westeuropa die Proteste in der Ukraine großteils abfeierten – schließlich geht es ja gegen den ökonomischen Konkurrenten Russland – mehrten sich die kritischen Berichte aus der Ukraine über den beängstigenden Einfluss rechtsextremer und faschistischer Kräfte am Maidan und wurden im linken und liberalen Spektrum hierzulande intensiv diskutiert. In diesen Debatten war häufig zu hören, dass der faschistischen Anteil an den Protesten zwar nicht zu leugnen sei, dass aber lange nicht alle Demonstrant_innen faschistisch wären. Das stimmt natürlich. Aber wir dürfen nicht vergessen: Eine Massenbewegung ist keine Parlamentswahl. Hier werden nicht einzelne, gleichwertige Stimmen zusammen gezählt, nein, hier zählt organisatorische und logistische Stärke. Selbst wenn die Anhänger_innen von Swoboda und die Mitglieder des faschistischen „Rechten Sektors“ und anderer Gruppen nur eine Minderheit darstellen, sie sind es, die den bewaffneten Arm (!) der Bewegung stellen. Und hier sollten eigentlich alle Alarmglocken läuten. Dazu ein Bericht von Journalist_innen des „Lower Class Magazine“, die sich gerade in Kiew befinden:

„Faschismus ist hier kein politisches Projekt einer kleinen versoffenen Minderheit wie in der ostdeutschen Einöde. Die rechten Kräfte sind die präsenteste Kraft. Wie die Mehrheit der Bevölkerung – egal ob Opposition oder Regierungslager – denkt, darüber können wir noch nicht urteilen. Aber was die Sichtbarkeit hier im Zentrum Kiews angeht, ist hier wenig Interpretationsspielraum. Noch öfter als die Nationalfahne mit diversen Aufschriften wie „Ehre der Ukraine“ oder „Swoboda“ ist die schwarz-rote Fahne der Ukrainischen Aufständischen Armee, die im Zweiten Weltkrieg Zehntausende Juden, Polen und Kommunisten ermordete. Runen, Keltenkreuze, Bilder des Nazi-Kollaborateurs Stepan Bandera.“

Ähnlich der Bericht eines russischen Sozialisten, der die Proteste am Maidan beobachtete:

„Es gibt dort sehr viel politische Agitation und zwar fast nur von rechten und rechtsextremen Gruppen. Das reicht von den marktliberalen Oppositionsparteien bis zum außerparlamentarischen, ultra-nationalistischen »Rechten Sektor«. Das ist ein Bündnis verschiedener ultra-rechter Gruppen, die militärische Strukturen aufbauen. Darunter sind kampferfahrene Ultra-Fanklubs des Fußballvereins Dynamo Kiew.“

Der Aktivist plädiert dann dafür, die Bewegung nicht den Rechten zu überlassen, sondern darin zu intervenieren. Eine prinzipiell richtige Haltung. Aber im konkreten Fall müssen eben auch die Kräfteverhältnisse richtig eingeschätzt werden. Wenn es nicht möglich ist, als linke Kraft gefahrenlos an solchen Protesten teilzunehmen, dann ist es halt leider nicht einfach so möglich. Zu allererst müsste der Selbstschutz organisiert werden. Und wären die Kräfteverhältnisse besser für die Linke, dann müssten ohnehin für einen Ausschluss der Rechtsextremen aus der Bewegung plädiert werden, denn ihre menschenverachtende Ideologie spaltet die Unterdrückten und hetzt sie gegeneinander auf.

Sich aber verdeckt und das eigene Programm zurückhaltend an solchen Protesten zu beteiligen wäre falsch und sogar gefährlich. Im schlimmsten Fall kann es notwendig sein, sich dem eigenen Schutz zu widmen und sich auf eine Zeit verstärkter Repression und Verfolgung einzustellen. Auf diese müssen sich nun wohl auch Juden/Jüdinnen, Roma und Sinti, Homosexuelle und andere Bevölkerungsgruppen einstellen, wenn faschistische Paramilitärs in den Straßen patrouillieren.

Wie geht es weiter?

Besteht nun die Gefahr, dass in Kiew eine rechtsextreme oder gar faschistische Regierung an die Macht kommt? Das ist wohl eher unwahrscheinlich. Bei den Präsidentschaftswahlen am 25. Mai wird wohl entweder die UDAR oder die Vaterlandspartei als Siegerin hervorgehen. Dennoch werden Swoboda und rechter Sektor die Regierung vor sich her treiben. Und das ist wohl auch die Hoffnung vieler einfacher Ukrainer_innen, die wenig Illusionen in die politische Kaste haben (ähnlich wie in Österreich viele Menschen hoffen, dass die FPÖ der Regierung auf die Finger klopft, ohne selbst glühende FPÖ-Anhänger_innen zu sein). Anders als in manchen Medien (z.B. in der österreichischen „Presse “) dargestellt, wurde Timoschenko am Maidan keineswegs bejubelt. Auch sie ist schließlich mit zwielichtigen Geschäften (Zwischenhandel bei Gaslieferungen von Russland) in den 1990er Jahren in kürzester Zeit zu einem gigantischen Vermögen gekommen. Auch sie gilt in Augen großer Teile der Bevölkerung als Teil der korrupten politischen Elite. Der Maidan hat bereits die Forderung aufgestellt, dass die 100 reichsten Personen des Landes keine Regierungsposten erhalten dürften. Interessant wird, wie sich die Aktivist_innen, die den Platz bis zur Präsidentschaftswahl am 25. Mai besetzt halten wollen, verhalten werden, wenn sich de facto die alten Eliten die neue Regierung wieder untereinander ausmachen. Eine Sorge, die auch schon unter westliche Liberalen geäußert wird (denen allerdings die Führung der Bewegung durch die Rechtsextremen nur genehm oder zumindest egal war). Lange kann eine solche Konstellation – eine von der EU und den USA gestützte bürgerlich-neoliberale Regierung mit rechtsextremen und faschistischen Gruppen im Rücken – jedenfalls nicht stabil existieren.

Zwei Seiten einer Medaille

Der Konflikt zwischen dem scheidenden Janukowitsch-Regime und den pro-europäischen oppositionellen Kräften ist kein Kampf zwischen „gut“ und „böse“, zwischen autoritär und liberal, zwischen korrupten, macht-hungrigen, dekadenten Diktatoren und der einfachen Bevölkerung, sondern lediglich zwischen zwei verschiedenen Fraktionen der herrschenden ökonomischen Elite. Es sind die superreichen, häufig als „Oligarchen“ bezeichneten Kapitalist_innen, die das Land real beherrschen. Abgeordnete, Printmedien, TV-Sender – all das steht unter ihrer Kontrolle. Auf dem Korruptionsindex von „Transparency International“ ist die Ukraine jenes europäische Land mit dem höchsten Wert. Und während die Oligarchen der ostukrainischen Metallindustrie, deren Produkte großteils von Russland gekauft werden, bislang mehrheitlich Janukowitsch unterstützten (was sich nun wohl ändern wird), tendieren andere Kapitalist_innen wie Timoschenko mehr in Richtung EU.

Weder EU noch Russland!

An Heuchelei kaum zu überbieten war in den letzten Wochen die Berichterstattung über die ukrainische Protestbewegung in den österreichischen und deutschen Medien. Die gleichen Medien, die angesichts ein paar zerbrochener Schaufenster im Zuge einer Antifa-Demo Chaos und Bürgerkrieg ausrufen, feierten die Proteste unkritisch ab. Und auch bezüglich der Revolte in Bosnien, sowie der Proteste gegen die Sozialkürzungen in Spanien oder Griechenland war bzw. ist die Berichterstattung eine ganz andere. Das liberale wie konservative Establishment versuchte die Bewegung als Kampf für Freiheit, Demokratie und europäische Werte und gegen den Einfluss des autokratischen Putin-Regimes darzustellen. Angela Merkel meinte im Januar: „Wir erwarten von der ukrainischen Regierung, dass sie die demokratischen Freiheiten – insbesondere die Möglichkeit zu friedlichen Demonstrationen – sichert, dass sie Leben schützt, dass Gewaltanwendung nicht stattfindet.“ Haben wir so etwas von ihr schon gegenüber der griechischen Regierung gehört?

Sowohl für den Kreml als auch für Brüssel ist die Ukraine nur ein Spielball ökonomischer und geostrategischer Interessen. Für die Lebensbedingungen der breiten Bevölkerung interessieren sich diese Herrschaften in etwa so wie für ein umgefallenes Fahrrad in China. 2012 bezogen 80% der ukrainischen Pensionist_innen die staatliche Mindestrente von 81 Euro. Die Kindersterblichkeit ist fast vier Mal so hoch wie in Deutschland, die Lebenserwartung um 10 Jahre niedriger. Während der Oligarch Rinat Achmetow mit einem Vermögen von geschätzten 16 Milliarden US-Dollar zu den 50 reichsten Menschen der Welt gehört, leben breite Teile der Bevölkerung in Armut. Von einer stärkeren Bindung an die EU, wie sie nun höchstwahrscheinlich kommen wird, werden sie nicht profitieren. Woher sollen – unter den gegenwärtigen Bedingungen der EU-Austeritätspolitik – die Verbesserungen auch kommen? Die EU-Außenbeauftragte Catherine Ashton war bereits in Kiew, um über Finanzhilfen zu verhandeln, für welche die EU natürlich „Reformen“ (also Privatisierungen, Liberalisierungen, Öffnung für westeuropäisches Kapital etc.) sehen will.

Ein mühsamer Weg zur freien Gesellschaft

Eine wirkliche Verbesserung für die ukrainische Bevölkerung könnte nur durch eine breite, multiethnische Arbeiter_innenbewegung erreicht werden, die sich nicht in den Konflikt zwischen der EU und Russland hineinziehen lässt, sonder unabhängige Politik für die Masse und gegen Oligarchie und westeuropäisches Kapital macht. Im Gegensatz zum heutigen Maidan würde sie auch nicht lediglich einen Beitrag der Oligarchen zur Sanierung der Staatsfinanzen fordern sondern deren Enteignung und die Streichung aller Schulden bei den internationalen Banken. Eine solche Bewegung ist in der Ukraine leider nicht in Sicht. Wie in anderen osteuropäischen Ländern wirkt auch hier das bittere Erbe des Stalinismus nach: Die Marktwirtschaft wurde hier mit einer Mischung aus neoliberalen und staatskapitalistisch-korrupten Elementen in kürzester Zeit durchgesetzt, die alten „kommunistischen“ Parteien sind diskreditiert und/oder stützen das System. Linke Kräfte sind minoritär, Rechtsextreme erhalten starken Zulauf von enttäuschten Bevölkerungsschichten.

Bis dieser vom Stalinismus hinterlassene Misthaufen, auf dem allerlei obskure neoliberale, bürgerlich-konservative und rechtsextreme Gewächse gedeihen verschwunden ist, wird es noch lange dauern. Doch am Weg zu einer befreiten Gesellschaft gibt es keine Abkürzungen. Den mühsamen Weg zu gehen, beharrlich in den Betrieben und Stadtvierteln (da wo dies möglich ist) zu arbeiten, das Vertrauen von Arbeiter_innen und Jugendlichen zu gewinnen, versuchen, schrittweise Verankerung aufzubauen, das wäre die Aufgabe revolutionär-sozialistischer Kräfte. In der Ukraine wie in Österreich oder Deutschland.

 

Zum Weiterlesen:

Auf dem orangen Fahnenmeer in den Neo-Liberalismus – Die Wahlen in der Ukraine (Dezember 2004)